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Musiktheater
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Wozzeck

Oper in drei Akten (15 Szenen)
Libretto von Alban Berg nach dem Dramenfragment Woyzeck von Georg Büchner
Musik von Alban Berg

in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden (keine Pause)

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 24. September 2021

 



Staatstheater Kassel
(Homepage)

Fragwürdige Reizüberflutung

Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger

Durch das Staatstheater Kassel weht ein kräftiger Wind der Veränderung. Unter dem neuen Intendanten Florian Lutz präsentierte sich in der Pressekonferenz zu dieser ersten Saison ein hochmotiviertes neues Leitungsteam und verkündete ein sozialpädagogisch-intellektuell orientiertes Gesamtkonzept mit u. a. „interdisziplinären Projekten“ und „partizipativem Musiktheater“. Auch möchte man die Menschen aus Kassel und Umgebung, die sich bisher nicht für das Theater interessiert haben, stärker mit einbeziehen, sie aber nicht nur ins Theater locken, sondern auch das Theater selbst zu ihnen bringen, in die Stadt hinausgehen, an für ein Staatstheater ungewöhnliche Orte (z. B. Clubs). Das alles wird in einer Sprache verkündet, die nicht unbedingt geeignet ist, bildungsferneren Bevölkerungsschichten das Theater näher zu bringen. Sicher wird die Ausführung dann aber allgemeinverständlicher ausfallen.

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Blick auf die Mitte der Bühne vom Pandaemonium aus

Im Opernhaus steht als Eröffnungspremiere Alban Bergs Wozzeck auf dem Programm und man beginnt mit einem ganz besonderen Effekt, indem man den Zuschauerraum auf die Bühne ausdehnt und einen Teil des Publikums um das Geschehen herum sitzen lässt. In Kassel ist ein solcher Ansatz nicht ganz unbekannt: Man erinnert sich an die Zeiten des „Kuppeltheater“ genannten Zeltes als Ausweichspielstätte auf dem Friedrichsplatz in den Jahren der Sanierung des Hauses 2004 bis 2007.

Pandaemonium das Musiktheaterparlament. In unserer ersten Spielzeit am Staatstheater Kassel möchten wir einen Raum schaffen, der die Herausforderungen der Gegenwart beim Schopf packt: ein immersives wie interaktives, analoges wie digitales Musiktheaterlabor inmitten des Theaters, das ganz auf die lustvolle, partizipative Erprobung von Musiktheater angelegt ist und ein überbordendes, multiperspektivisches Erlebnis schafft.“

Die klassische Definition des Wortes als grauenvoller Aufenthaltsort aller Dämonen in ihrer Gesamtheit verwirrt entweder oder lässt tief blicken und Wildes erwarten. Nebenbei ist es aber auch eine ironische Wortspielerei in Bezug auf die Pandemie, die uns weiterhin dämonisch unter ihrer Knute hält. 
Dieses Pandaemonium ist eine baugerüstartige Zuschauertribüne mit 3 Ebenen, die sich auf der Bühne um die Hinterbühne und die Seitenbühne windet. Hinterbühne (auf Ebene 2) und Seitenbühnen dienen als „Spielinseln“, der überdeckte Orchestergraben wird nur bei den Wirtshausszenen als Lokal bespielt.  Quer über die Bühne, von der dritten zur zweiten Ebene, bildet eine Brücke eine weitere Spielfläche. Was vom jeweiligen Platz nicht einsehbar passiert, wird parallel zu den sichtbaren Handlungen auf diversen, überall verteilten Bildschirmen als Liveprojektion gezeigt, denn ebenso wie im Zuschauerraum, sieht man auch von den Pandaemoniums-Plätzen nur einen Teil des Geschehens direkt. Von manchen Plätzen auf der Bühne sieht man vor allem Gestänge und Technik... Das Pandaemonium wird einerseits konzeptionell begründet und hat andererseits den Vorteil, dass auch unter Einhaltung des Schachbrettprinzips mehr Publikum ins Haus kann. Es war nicht ursprünglich für den Beginn der Saison gedacht, hat jetzt aber auch diesen ganz praktischen Nutzen. Auch die Platzierung des Orchesters auf der Bühne hat neben dem innovativen einen praktischen Aspekt, denn im Orchestergraben wären die pandemiebedingten Abstandsregeln nicht einzuhalten.  Die Sänger tragen Mikroports, man hört sie überwiegend über Lautsprecher, denn bei diesen Raumkonstellationen sind sie nicht nur selten live zu sehen, sondern auch genauso selten live gut zu hören. Praktisch gesehen kann man es hier nicht anders machen. Konservativ künstlerisch gesehen, ist das bei einer Opernaufführung in einem Opernhaus ein Unding. Protagonisten, Kameraleute und weitere technische Mitarbeiter laufen immer mal wieder um das Publikum auf dem Pandaemonium herum, so dass neben der enormen Reizüberflutung auch eine störende Unruhe entsteht.
Bühnenbildner Sebastian Hannak will erklärtermaßen „die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne aufheben und das Kasseler Publikum mit seiner Szenografie eines analogen wie digitalen Totaltheaters in den Bann ziehen“. Vor allem aber schafft er eine Reizüberflutung, die an die Grenzen der Verwirrung geht. Doppelnde Liveprojektionen und solche von Hintergrundhandlungen sind nicht erst, aber vor allem seit Castorfs Bayreuther Ring-Inszenierung schwer in Mode gekommen und waren auch in Kassel schon zu erleiden (Cavalleria/Bajazzo). Die Begeisterung hielt und hält sich in Grenzen.

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Andres (Andrés Felipe Agudelo) und Wozzeck (Filippo Bettoschi) an ihren Packstationen

Beim Eintritt ins Theater und auf dem Weg zum Sitzplatz wird man gleich zweimal von an Flugbegleiter in türkis/weiß erinnernde Damen und Herren begrüßt. „Schön, dass ihr da seid.“ und „Genießt die Challenge“. Herausforderungen warten reichlich. „Heute geht die Demokratie live“ und „Bei der Wahl geben Sie ihre Stimme ab, wir geben sie Ihnen zurück“ sind Aussagen, die sich gleich zu Beginn erklären: Der regieführende Intendant Florian Lutz sieht im Hauptmann einen Politiker, einen Lobbyisten, der vom Hersteller des Nahrungsersatzmittels BIO FUEL finanziert wird und seinerseits versucht, das Mittel durch politische Arbeit und Gesetze auf dem Markt zu etablieren.

Auf den diversen Bildschirmen werden auch immer wieder Aufzeichnungen zu verschiedenen Themen gezeigt, teils als Statements, teils als Werbefilme, die das Nahrungsersatzmittel preisen und vor den vielfältigen Folgen schlechter Ernährung warnen. Die Oper wird dreimal durch eingefügte Aktionen unterbrochen, bei denen der Hauptmann in türkiser Robe Abstimmungen und Publikumsbefragungen zu Gesetzen wie ein Showmaster zelebriert, teils in Form eines Rankings (sehr beliebt online und im Fernsehen). Papierne Wahlunterlagen werden geräuschvoll (wie so vieles an diesem Abend) ans Publikum verteilt, es gibt aber auch die Möglichkeit online mit dem Mobiltelefon abzustimmen. Die Zuschauer sollen priorisieren: Gesundheit, Hygiene- und Kontaktbestimmungen und Gewaltprävention. Auf den Bildschirmen ist dann auch das Ergebnis der Abstimmung zu sehen (auf dem größten Bildschirm, der vom Pandaemonium aus zu sehen ist, schwer lesbar seitenverkehrt).
Gesunde Ernährung wird einzeln aufgerufen. Wer dafür ist, hebt seinen Abstimmzettel, wer dagegen ist, nicht. Wer ist schon dagegen?! Die Nichtteilnehmer = Nichtwähler zählen mit und so entsteht natürlich eine Mehrheit für die gesunde Ernährung und damit indirekt für BIO FUEL. Mit dieser Form der Fragestellung kann man jede Abstimmung nach Wunsch ausgehen lassen. Eine eindrucksvolle Demonstration der Gefahr des Nichtwählens bei der Premiere zwei Tage vor der Bundestagswahl und eine Demonstration wie leicht man manipulieren kann. Es wirkt wie Sondersendungs- oder Werbeunterbrechungen – ist aber wohl vor allem als partizipativer Anteil wichtig. Mitsingen kann das Publikum ja eher weniger.

Der Doktor (im weißen Anzug und mit roten Schuhen) erprobt an Wozzeck wie bekannt die ausschließliche Ernährung von Bohnen (was einen historischen Hintergrund hat), der Hauptmann setzt auf das ebenfalls aus Hülsenfrüchten gewonnene Dosenprodukt BIO FUEL. Auch deshalb können sich die beiden wohl nicht leiden. Wozzeck und Andres schneiden keine Weidenstöcke für den Hauptmann, sondern sind eifrige Mitarbeiter in Verpackung und Versand des Produktes, ausgestattet wie Paketauslieferer heutiger Zustelldienste (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Lager und Packstation sind auf der linken Seitenbühne detailreich ausgestattet, ebenso wie das Labor des Doktors auf der rechten. 
Es gibt mehrere Textvarianten dessen, was der Hauptmann Wozzeck vorwirft, auf der Straße schon wieder „wie ein Hund“ gemacht zu haben, von „pissen“ bis „spucken“ über „husten“. Hier das Husten zu wählen, kann man auch als Verweis auf die derzeitige gesellschaftliche Problematik durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie interpretieren. Husten Sie heute mal öffentlich…

Marie lebt (trinkt und raucht) in einer kleinen Wohnung in einem sozialen Brennpunkt. Im rosa Jogginganzug erinnert sie ein bisschen an Cindy aus Marzahn, wenn sie sich stark geschminkt mit Glitzer-Shirt und Weihnachtsbaumgirlande als Boa ausstaffiert, wirkt sie genau wie ihre Nachbarin Margret wie eine Frau des Gewerbes. Das Kind ist hauptsächlich mit seiner Playstation beschäftigt. Der Tambourmajor erscheint als eitle, bodygestylte, eher prollig-modisch überzeichnete Figur, die Abwechslung in Maries trostlose Welt bringt.

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Live-Kameramann, Wozzeck (Filippo Bettoschi) und der Doktor (Magnus Piontek)

Die Unterbrechungen durch die „Demokratie-Testzentrums“-Aktionen stören den Fluss der Handlung gewaltig, am schmerzlichsten kurz nach der Szene, in der Wozzeck das Messer, mit dem er Marie erstochen hat, verschwinden lassen will. Aber nicht im Wasser, sondern auf der Brücke. Wozzeck hat Marie auch nur auf dem Bildschirm, als eine seiner Wahnvorstellungen ermordet, Marie geht nach dem Streit lebendig von der Brücke. Wieso Margret trotzdem Blut an Wozzecks Händen sieht, ist dann aber praktisch nicht erklärlich, höchstens im übertragenen Sinne.
Diese letzte, fragwürdige, Abstimmung lässt Wozzeck zum freien Mann werden, der gleich wieder zu seiner Verpackungsstation an die Arbeit geht. Dementsprechend ertrinkt er auch nicht oder stirbt anderweitig, er bekommt allenfalls lebenslänglich an der Packstation. Als Projektion sieht man Wozzeck und Maries Kind von der Bühne aus dem Theater gehen, über den Vorplatz, auf dem Werbeplakate des Hauptmanns und für BIO FUEL stehen, die Treppenstraße hinauf zum BIO FUEL-Werk und an einem BIO FUEL-Imbiss vorbei, dann nach Hause zu einem großen Wohnkomplex, ins Wohnzimmer an die Playstation. Sein "Hopp, hopp" bezieht sich nicht auf ein Steckenpferd sondern auf sein Computerspiel. „Neues Spiel lädt“ ist das Schlussbild auf allen Bildschirmen. Wenn es im Leben denn so einfach wäre… wäre es auch schrecklich.

Nun stellt sich die Frage, was das alles bringt, wohin es uns führt und ob wir da überhaupt hinwollen. Experimentelles kann, darf und muss immer wieder sein. Manchmal öffnet es Wege. Das Zusammenbringen von tatsächlich auf der Bühne zu Sehendem und lediglich auf Bildschirme Projiziertem ist nicht neu, aber weiterhin umstritten und Geschmackssache. Ob man mit der Vermischung und dem Beifügen von Anteilen der Computerspielwelt und Filmbilderfluten neues Publikum gewinnt? Oder nimmt man damit der Oper ihren Zauber, ihre Besonderheit, ihre ganz eigene Faszination, das, was nur sie kann? Dann besteht die Gefahr, sie tatsächlich sterben zu lassen, denn eine Mischform könnte den einen zu wenig, den anderen zu viel sein.

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Wirtshausszene vom Zuschauerraum aus gesehen

Der elektroakustisch bearbeitete/verstärkte/hörbar gemachte Originalgesang verbreitet sich, wird an verschiedenen Häusern dezent eingesetzt, ist hier aber auf eine für mich unakzeptable Spitze getrieben, die einer Liveaufführung nicht würdig ist. In dieser Raumkonstellation geht es nicht anders, aber da könnte man sich auch die Frage stellen, ob selbige für ein Opernhaus geeignet ist. Auch ist eine Einschätzung der Stimmen dadurch nur bedingt möglich.
Filippo Bettoschi gestaltet den von Visionen, Phantasien und dem einfältigen, aber nicht dummen Philosophieren geplagten Wozzeck, teils wirr, teils irr, teils klar der Wahrheit auf den Grund gehend, ausgesprochen intensiv und überzeugend. Als Marie zeigt Margrethe Fredheim Verletzlichkeit, Sehnsucht nach Tiefe und Laszivität gleichermaßen. Frederick Ballentine verkörpert die hier gewünschte Zeichnung des Tambourmajors geradezu ideal. Arnold Bezuyen zeigt als Hauptmann seine enorme Spielfreudigkeit und Bühnenpräsenz, mit der er zuletzt als Mime in Kassel begeistern konnte. Magnus Piontek ist als Doktor sein adäquater Gegenspieler. Als herziger, lieber Andres bewegt Andrés Felipe Agudelo, Maren Engelhardt spielt eine leicht verruchte Margret.
GMD Francesco Angelico gibt mit dem Staatsorchester der Aufführung, was die Regie vermissen lässt: Intensität und Leidenschaft mit Präzision. Sitzplätze im Pandaemonium in Orchesternähe können die Balance verzerren, so wie mein blechbläserdominanter Platz. Leider werden die zartesten Stellen, die stillen Momente ebenso wie die Zwischenspiele fast alle durch das geräuschvolle Gewusel und Gerenne akustisch vergällt.

Wozzeck ist ein Werk, das mit seiner ausdrucksstarken Atonalität tief unter die Haut gehen kann, dessen ruhige Momente die Stille als Klang erleben lassen können, mit viel Emotionalität (ich weiß, ist out, cool ist „Daumen hoch“), die sich durch Menschen auf der Bühne stärker offenbaren kann, als es Projektionen je können. Diese szenische Umsetzung wirkt aber mehr wie ein technisches Experiment, wird von den Machern ja auch als „Musiktheaterlabor“ bezeichnet. „Partizipatives Musiktheater“ ist ein enormer Anspruch, aber ist das auch nötig und sinnvoll? Sollen die Zuschauer im künftigen Freischütz spontan den Jägerchor oder den Jungfernkranz mitsingen? Oder wieder abstimmen ob und in welchem Tempo gesungen werden soll? Ob man zum Erfüllen dieser Idee eine Oper mit einer Zusatzhandlung ergänzen und unterbrechen muss, erscheint fragwürdig. Sicher kann es spannend sein, Experimente zu erleben. Wer mag, möge mit Vergnügen dabei sein.

FAZIT

Ich fand diesen Abend nur schwer erträglich, zuweilen ob seiner Überambitionen unfreiwillig komisch oder ärgerlich, in seiner Gesamtheit in Bezug auf die Entwicklung des Musiktheaters bedenklich.
"Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen." sagt der Theaterdirektor im Vorspiel auf dem Theater zu Faust I. "Zuviel, zuviel!" stöhnt Tannhäuser im Venusberg.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Francesco Angelico

Musikalische Assistenz
und Nachdirigat
Mario Hartmuth

Inszenierung
Florian Lutz

Bühne
Sebastian Hannak

Kostüme
Mechthild Feuerstein

Licht
Stefanie Dühr

Videoregie
Konrad Kästner

Chor 
Mario Zeiser Celesti

CANTAMUS-Chor 
Maria Radzikhovskiy

Dramaturgie 
Kornelius Paede

 

Chor
des Staatstheaters Kassel

Kinderchor Cantamus
des Staatstheaters Kassel

Staatsorchester Kassel


Solisten

*Premierenbesetzung

Wozzeck
Filippo Bettoschi

Tambourmajor
*Frederick Ballentine /
Rodrigo Porras Garulo

Andres
Andrés Felipe Agudelo

Hauptmann
Arnold Bezuyen

Doktor
Magnus Piontek

1. Handwerksbursch
Michael Tews

2. Handwerksbursch
Ilyeol Park

Narr
*Daeju Na /
Lars Rühl

Marie
Margrethe Fredheim

Margret
Maren Engelhardt

Mariens Knabe
*Michael Hause /
Alexander Karsten

Soldat
*Daeju Na /
Lars Rühl


Weitere
Informationen

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Staatstheater Kassel
(Homepage)



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