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Musiktheater
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Das Beben
Text von Awet Terterjan und Gerta Stecher
nach der Novelle Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist
Musik von Awet Terterjan

in deutscher Sprache
Aufführungsdauer: ca. 2 h 45' (eine Pause)

Premiere am 16.03.2003
Besuchte Aufführung: 21.07.2007

Intolleranza 1960
Szenische Aktion in zwei Teilen von Luigi Nono
nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino
Deutsche Übersetzung von Alfred Andersch

in deutscher Sprache
Aufführungsdauer: ca. 1 h 20' (keine Pause)

Premiere am 13. Mai 2007
Besuchte Aufführung: 23.07.2007

Logo: Staatstheater am Gärtnerplatz München

Staatstheater am Gärtnerplatz München
(Homepage)

Die Musik ins Zentrum gestellt

Von Stefan Schmöe / Fotos von Ida Zenna

Am Münchner Theater am Gärtnerplatz endet mit dieser Spielzeit die elfjährige Intendanz von Klaus Schultz - man darf da durchaus von einer Ära sprechen. Darin hat Schultz regelmäßig das moderne Musiktheater als künstlerisches Standbein neben dem „üblichen“ Repertoire etabliert. Geradezu programmatisch standen zum Abschluss der Spielzeit gleich drei große Produktionen dieser Art auf dem Spielplan: Das Beben des armenischen Komponisten Awet Terterjan, Luigi Nonos Intolleranza und (hier nicht besprochen) Majakowskijs Tod von Dieter Schnebel.


Vergrößerung in neuem Fenster Das Beben: "Sie" (Ruth Ingeborg Ohlmann) und "Er" (Wolfgang Schwaninger)

Awet Terterjans 2003 am Gärtnerplatz uraufgeführte abendfüllende Oper Das Beben entstand ursprünglich im Auftrag des Opernhauses in Halle in den 80er-Jahren. Seinerseits scheiterte die Uraufführung u.a. an den organisatorischen Schwierigkeiten, die sich aus den monumentalen, die räumlichen wie technischen Kapazitäten des Hauses sprengenden Anforderungen ergaben. Danach ging die politische Wende mit Wechsel der Theaterleitung über das Stück hinweg. Dirigent Ekkehard Klemm, der schon in Halle als künstlerischer Leiter vorgesehen war, brachte die Oper für das Theater am Gärtnerplatz ins Gespräch, wo er in Dramaturg Konrad Kuhn, Regisseur Claus Guth und Bühnenbildner Christian Schmidt auf ein experimentierfreudiges Team traf, das für die szenische Realisation das Theater gehörig umkrempelte: Für das Orchester und Spielfläche wurde das Parkett komplett überbaut, dafür ein Teil des Publikums auf die Bühne „ausgelagert“. Dadurch sitzt das Publikum wie in einer Arena um einen kreuzförmigen Laufsteg herum. Diese ungewöhnliche Anordnung mit reizvollen Raumklang-Effekten hat sicher zum Erfolg der Produktion, die seit der Uraufführung stolze 22 gut besuchte Vorstellungen erlebt hat, beigetragen - Das Beben genießt um den Gärtnerplatz herum beinahe so etwas wie Kultstatus.


Vergrößerung in neuem Fenster Das Beben: "Sie" (Ruth Ingeborg Ohlmann) und "Er" (Wolfgang Schwaninger)

Die Oper basiert auf Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili, in der ein junges Paar wegen einer illegalen Liebesbeziehung zu drastischen Strafen verurteilt ist. Nur ein Erdbeben verhindert die geplante Hinrichtung der Frau und befreit auch den Mann aus seinem Kerker. In dem Glauben, die Erfahrung der Naturkatastrophe habe ihre Mitmenschen geläutert und hebe die Verurteilung auf, nehmen die beiden an einer Dankesmesse der Überlebenden teil, werden aber als vermeintliche Auslöser der Katastrophe von der aufgebrachten Menge getötet. Terterjan hat das seinerzeit von Greta Stecher entworfene (deutschsprachige) Libretto radikal gekürzt und schlagwortartig auf rudimentäre Textfragmente komprimiert, die von der (linearen) Handlung nur noch ein Skelett übrig lassen. In das Zentrum rücken statt dessen existenzielle Begrifflichkeiten wie „Strafe“ oder „Leben“. Damit schafft Terterjan die Brücke zwischen westeuropäischer Opern- und Literaturtradition und der Kultur seiner armenischen Heimat. Die archaisch anmutende musikalische Sprache Terterjans basiert auf oft minutenlang gehaltenen Liegetönen, über denen einzelne Motive beinahe minimalistisch repetiert werden. Ihre Wurzeln hat sie in der armenischen Volksmusik wie der orthodoxen Kirchenmusik, darin vergleichbar etwa der Musik Arvo Pärts. Die Zeit scheint dabei aufgehoben, die Klänge sind in den ruhigen Passagen von komplentativer Ruhe, in den dramatischen Abschnitten von einer urwüchsigen Kraft, die eine ganz eigene Faszination entwickelt.


Vergrößerung in neuem Fenster Das Beben: "Sie" (Ruth Ingeborg Ohlmann), Tänzer (Paul Lorenger) und Priester (Florian Simson)

Entsprechend dem Verzicht auf erzählbare Handlung beschränkt sich Regisseur Claus Guth weitgehend auf szenische Andeutungen. Leitidee ist die erwähnte amphitheatralische Anordnung, in der das Publikum zum Teil der betrachtenden und vernichtenden Masse wird. Der Chor – wie Opernbesucher gekleidet und stimmweise im Publikum verteilt – verstärkt den Effekt noch. Ein Tänzer mit überdimensioniertem Pappmachékopf (eindrucksvoll: Paul Lorenger) verkörpert auf der kreuzförmigen Spielfläche in der Mitte des Parketts mit schlaksigen Bewegungen stellvertretend die Volksmassen. Die sparsame Choreographie ist wenig naturalistisch und überzeichnet die Situation beinahe im Stil einer Karikatur. Auch das namenlose Paar agiert auf wenige Gesten reduziert. Damit haben Guth und Schmid eine eindrucksvolle Bildlösung für dieses komplexe „Anti-Theater“ gefunden, in der komplentative Betrachtung und der nur noch angedeutete theatralische Konflikt klug ausbalanciert sind.


Vergrößerung in neuem Fenster Das Beben: Tänzer (Paul Lorenger), "Sie" (Ruth Ingeborg Ohlmann) und "Er" (Wolfgang Schwaninger)

Für die Solisten bietet Das Beben in seinen großen Klangflächen und dem Verzicht auf handfeste dramaturgische Konflikte kaum einmal effektvolle Entfaltungsmöglichkeiten. Wolfgang Schwaninger (für dessen Tenor die Partie recht tief liegt) und Ruth Ingeborg Ohlmann als namenloses Paar gestalten ihre Partien unter diesen Bedingungen eindrucksvoll, und auch die kleineren Rollen sind durchweg gut besetzt (hervorzuheben ist Barbara Schmidt-Gaden als Hirte). Musikalisch im Zentrum stehen jedoch die fabelhaften Chöre – neben der Verstärkung durch den Extrachor wird noch ein Kinderchor aufgeboten – die ebenso durch Präzision wie genaue Intonation und Homogenität bestechen.

Verglichen mit dem Beben ist Luigi Nonos Intolleranza das ungleich kompliziertere Werk – einerseits wegen der komplexen, dem Serialismus verhafteten musikalischen Struktur, andererseits wegen seiner dezidiert politischen, einem humanistisch geprägtem Kommunismus verpflichteten Aussage. Ein knappes halbes Jahrhundert nach der Uraufführung 1961 mutet das historisch an. Nun ist Intolleranza wahrlich alles andere als kommunistische Agitationsmusik, und Nono hat sich ohnehin gegen die Vereinnahmungsversuche durch kommunistische Parteien gewehrt. Trotzdem scheint die Oper zu überschnellen Deutungen nach dem Motto „die Lage ist heute genauso schlimm wie damals“ zu verleiten – die Kölner Produktion von 2001 etwa scheiterte an solcher gut gemeinten, aber letztendlich bühnenuntauglichen Weltverbesserungsstrategie (unsere Rezension). In München stellt Regisseurin Florentine Klepper, das ist die zentrale Idee dieser Produktion, die Oper samt ihrer Rezeptionsgeschichte selbst auf den Prüfstand. Als Vertreterin einer Generation, die den politischen Aktivismus von '68 nur noch aus Erzählungen kennt, zeigt sie sich betont skeptisch gegenüber allen politischen Heilsversprechen. So pervertiert sie beispielsweise den bei Nono zentralen Begriff „Freiheit“ zum Namen einer Kaufhauskette, der von den Einkaufstüten der Akteure prangt.


Vergrößerung in neuem Fenster Intolleranza 1960: Der Emigrant (Stefan Finke) und seine Gefährtin (Cornelia Horak); Ensemble

Die Inszenierung verzichtet weitgehend auf die (nahe liegenden) Bilder aktueller Ausbeutung der sozial Schwachen, deutet allerdings die Folterszenen in Abu Ghuraib ebenso an wie arabische Selbstmordattentäter, dies jedoch bewusst und für jeden sichtbar „inszeniert“ und dadurch entscheidend verfremdet. Nicht die soziale Anklage, sondern unser Umgang damit ist das Thema. Damit wird auch verhindert, dass szenische Aktion und die expressiven Musik sich gegenseitig verdoppeln. Vielmehr rückt die Musik als autonome, von der Szene gelöste Schicht ganz wörtlich in das Zentrum: Chor und Orchester sitzen auf der Bühne; ein verwinkelter Laufsteg zwischen den Musikern hindurch reicht als Spielfläche aus – mehr ein symbolischer Weg der wachsenden Erkenntnis als konkrete Straße. Allerdings gehen dadurch die thematischen Zusammenhänge mitunter verloren, auch, weil vom Text zu wenig zu verstehen ist –. Die historische Dimension wird noch einmal unterstrichen, indem das Regieteam in den einzuspielenden Tonbandaufnahmen teilweise Originalbänder der Uraufführung verwendet. Auf diese Weise wird Intolleranza unversehens zum Klassiker stilisiert.


Vergrößerung in neuem Fenster Der Emigrant (Stefan Finke); Ensemble

Sängerisch fordert das Stück von der Hauptfigur des Emigranten hochexpressiven Gesang in extremer Tenorlage. Stefan Finke bewältigt das scheinbar mühelos; die Stimme klingt beweglich und unangestrengt und wird jederzeit nuanciert geführt – besser ist das kaum vorstellbar. Und auch Cornelia Horak, die sich im zweiten Teil als „Gefährtin“ dazugesellt, imponiert durch enorme stimmliche Präsenz vom ersten Ton an.
Die musikalische Leitung beider Produktionen liegt in den Händen von Ekkehard Klemm, der den im Raum verteilten Riesenapparat des Bebens ebenso umsichtig und souverän organisiert wie die nicht viel kleinere Besetzung von Intolleranza. Das Orchester des Theaters am Gärtnerplatz spielt die sehr unterschiedlichen Partituren mit bemerkenswerter Sicherheit und großer Klangpalette –die Forte-Entladungen sind differenziert und durchhörbar, aber auch im Pianissimo reißen die Spannungsbögen nicht ab. Vorzüglich sind in beiden Opern die immer homogenen Chöre (die in Intolleranza allerdings sehr weit hinten stehen und dadurch akustisch an Präsenz verlieren). Der weiche und sonore Klang ist tragfähig und expressiv und wird auch im Forte nie „fest“.


Vergrößerung in neuem Fenster Intolleranza 1960: Der Emigrant (Stefan Finke) und seine Gefährtin (Cornelia Horak); Ensemble

Die beiden überaus anspruchsvollen Produktionen zeigen die enorme künstlerische Substanz des Theaters am Gärtnerplatz. Gekoppelt mit klugen Werkeinführungen (vor allem durch Dirigent Ekkehard Klemm zu Das Beben) unmittelbar vor der Vorstellung sind hier exemplarische Aufführungen gelungen, die auch ihr Publikum gefunden haben. Eine Fortsetzung unter dem neuen Intendanten Ulrich Peters scheint indes nicht in Sicht: Eine Rockoper sowie Philipp Glass' Fassung von Die Schöne und das Biest als zeitgenössische Werke des Spielplans stehen mehr für ein auf Unterhaltung ausgerichtetes Theater.


FAZIT

Zwei herausragende Produktionen des modernen Musiktheaters.



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Das Beben

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Ekkehard Klemm

Inszenierung
Claus Guth

Bühne und Kostüme
Christian Schmidt

Dramaturgie
Konrad Kuhn

Mitarbeit Regie
Kai Grehn

Chöre
Hans-Joachim Willrich
Christian Jeub



Statisterie des
Staatstheater am Gärtnerplatz

Chor, Extrachor und Kinderchor des
Staatstheater am Gärtnerplatz

Orchester des
Staatstheater am Gärtnerplatz


Solisten

Sie
Ruth Ingeborg Ohlmann

Er
Wolfgang Schwaninger

Ausrufer
Michael Gann

Prälat
Florian Simson

Erster Cantus
Adam Sanchez

Zweiter Cantus
Torsten Frisch

Dritter Cantus
Florian Mock

Vierter Cantus
Johannes Beck

Hirte
Barbara Schmidt-Gaden

Tanz
Paul Lorenger


Intolleranza 1960

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Ekkehard Klemm

Inszenierung
Florentine Klepper

Bühne
Bastian Trieb

Kostüme
Chalune Seiberth

Dramaturgie
Reinhard M. K. Thasler

Chöre
Hans-Joachim Willrich
Christian Jeub



Statisterie des
Staatstheater am Gärtnerplatz

Chor, Extrachor und Zusatzchor des
Staatstheater am Gärtnerplatz

Orchester des
Staatstheater am Gärtnerplatz


Solisten

Der Emigrant
Stefan Vinke

Seine Gefährtin
Cornelia Horak

Eine Frau
Barbara Schmidt-Gaden

Ein Algerier
Gary Martin

Ein Gefolterter
Holger Ohlmann

Sprecher
Hans Kitzbichler

Innere Stimmen des Emigranten
Jochen Palatschek
Julius Bornmann

Vier Männer
Johannes Beck
Florian Mock
Adam Sanchez
Pawel Czekala


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater am Gärtnerplatz München
(Homepage)





Da capo al Fine

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