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Die Befreiung des Musikers vom Kollektiv
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Wil van Iersel
Wie erschafft man den traditionsverhafteten Europäern eine Oper, wenn man selbst der überkommenen Gattung wenig abgewinnen kann? Den Kompositionsauftrag für ein neues musiktheatralisches Werk für die Frankfurter Oper unterlief 1987 der amerikanische Komponist John Cage (1912 1992) mit der ihm eigenen Ironie. Schon der Titel Europeras überblendet doppeldeutig die Wortkompositionen Europa-Operas und Your operas ein musikalisches Geschenk des Amerikaners an das Publikum des alten Kontinents, dem er seine vertrauten Opern aus dem historischen Kontext löste und bruchstückhaft zurück übereignete. Nach Zufallsprinzipien und den Vorlieben der Sänger wurden simultan fragmentarische Szenen der Opernliteratur präsentiert, die in ihrer totalen Gleichzeitigkeit (jeder Musiker spielt ein anderes Opernfragment) einen zusammenhängenden Sinn wenn überhaupt erst im Kopf des Zuhörers entwickeln. Die Frankfurter Uraufführung der Europeras 1 & 2 1987 unter Gary Bertini ist eine Wegmarke des zeitgenössischen Musiktheaters gewesen. Später hat Cage die Konzeption um Europeras 3 & 4 (1990) und Europera 5 (1991) ergänzt in ersterem unter Reduzierung der Akteure auf Sänger, 2 Klaviere und 12 Grammophone (in Europera 4 auf zwei Sänger, ein Klavier und ein Grammophon); in Europera 5 auf 2 Sänger, Techniker und Klavier. Es liegt nahe, darin auch ein Verlöschen der westlichen Opern-Kultur widergespiegelt zu sehen.
Gelegentlich sind die Europeras nachgespielt worden, etwa 2002 in Hannover (unsere Rezension). Fast 20 Jahre nach der Uraufführung ist von der Provokation über die konstruierte Zufälligkeit der Szenenwahl nicht viel übrig geblieben, haben jüngere Komponisten doch die Befreiung des Musiktheaters aus seinen traditionellen Fesseln weitgehend ausgereizt und oftmals feststellen müssen, dass im Namen der Freiheit verordnete Regellosigkeit leicht eine gesichtslose Beliebigkeit evoziert. Viel von der Kunst, die endlich alles darf, ist nicht im Gedächtnis haften geblieben. Nun hat Cage als einer der Urväter der befreiten Musik seinen Kompositionen ein strenges Regelwerk mitgegeben, nach dem sich der Zufall entfalten darf und das beim Hören mitzudenken ist. Die Schwierigkeit besteht darin, diesen komplexen Überbau einem Publikum, das längst an ein Die Musik darf sowieso alles gewöhnt wurde, innerhalb der Aufführung zu vermitteln. An einem Punkt allerdings ist Cage ganz konventionell geblieben: Das klassische Guckkastenprinzip - das Publikum betrachtet passiv das Geschehen auf der Bühne ist nicht angetastet.
Hier setzt die Aachener Realisation von Ludger Engels und Volker Straebel an. Das Theater Aachen, als Kulturinstitut im Schnittpunkt dreier europäischer Nationen historisch wie geographisch für die Aufführung einer Europera prädestiniert, kündigt seinen John-Cage-Abend abweichend vom originalen Titel als Aachen Musicircus on Europeras an. Engels, Chefregisseur am Aachener Haus und der 1969 geborene Musikwissenschaftler und Komponist Straebel brechen Cages Konzeption weiter auf, indem sie die Guckkastensituation aufheben und ihre Fassung in weiten Teilen im Haus verteilt spielen lassen, sodass der Zuhörer nach eigenem Belieben zwischen den verschiedenen, akustisch keineswegs getrennten Spielorten hin und her schlendern kann. Die Konstellation von Europera 1 & 2 wird als eine Art Steinbruch für das Material der Aachener Klanginstallation genutzt man kann das auch als späte Rache der Europäer am Opernplünderer Cage verstehen, die den Amerikaner quasi mit eigenen Waffen schlagen.
Lisa Fornhammar singt Britten im Treppenhaus
Dem Abend liegt ein festes Zeitraster zugrunde, das auf etlichen Monitoren für Musiker wie Zuhörer permanent im ganzen Haus sichtbar ist. Exakt 30 Minuten vor dem offiziellen Beginn spielt ein Pianist im Eingangsbereich kurze Ausschnitte aus Franz Liszts Opernparaphrasen, begleitet von zwei Grammophonen, in denen per Zufallsgenerator ausgeloste Schellackplatten mit Opernarien abgespielt werden. Dann beginnt der eigentliche Aufführungsteil ganz klassisch im Bühnen- und Zuschauerraum, allerdings verlassen die Musiker nach 20 Minuten nach und nach Bühne und Graben und postieren sich nach einem detaillierten, ebenfalls per Losverfahren bestimmten Zeitraster an verschiedenen Orten des Hauses. Zwischen den Zeitpunkten 0:45 und 2:00 bewegen sich alle Ausführende wie Zuhörer durch das Haus, die Ausführenden nach strengem Plan, die anderen nach eigenem Gusto (die Bar hat geöffnet). Das musikalische Material entstammt hier einer ursprünglichen, letztendlich aber verworfenen Intention Cages folgend aus dem laufenden Repertoire. Bühnenarbeiter tragen derweil allerlei Materialien, die zum Bühnenbildbau verwendet werden könnten, durch die Gegend. Am Ende des Abends trifft man sich wieder im Zuschauerraum, wo zum Abschluss (ganz werktreu, wie die Realisatoren stolz vermerken) Europera 4 aufgeführt wird.
Im Hauptteil ergibt sich eine Mischung aus Tag der offenen Tür und Konservatorium, wo hinter jeder Tür ein anderes Musikstück erklingt. Die Musiker kommen und gehen, spielen hier eine Melodie mit Wiedererkennungswert (oder singen eine komplette, natürlich unbegleitete Arie), dort ein paar Takte oder gar nur einen Ton aus einer Begleitstimme, um dann mit Dauerblick auf die Uhr zum nächsten Ort zu eilen. Das gerät zur Albernheit, sobald der Eventcharakter dominiert etwa an skurrilen Aufführungsorten wie der Künstlerdusche. Überhaupt entsteht schnell der Eindruck eines spätpubertären Happenings, wenn man im Stil eines Museumsbesuchers die Aufführungsorte abläuft. Ihren eigenen Reiz aber erhält der Musicircus, wenn man sich Zeit nimmt und auf einzelne Momente einlässt. Zum einen sollte man längere Zeit an einem Ort verweilen, den Wechsel von Musik und Personen wahrnehmen, das permanente Crescendo und Decrescendo auf sich wirken lassen, wenn einmal mehrere Akteure gleichzeitig auf engem Raum, dann wieder eine einzelne Violine verloren für sich spielt. Zum anderen sollte man einen Musiker eine zeitlang begleiten, ihn in räumlich wie akustisch wechselnden Konstellationen beobachten.
Eva Bernard singt Verdi in der Künstlerdusche
Mit der Zeit verfestigen sich zwei wesentliche Eindrücke. Die Musiker, die in einer normalen Aufführung hinter dem Werk oder ihrer Rolle zurücktreten, erhalten ihre Individualität zurück. Das Taktzählen, das Einatmen, das bewusste Phrasieren werden Teil der Musikerpersönlichkeit, und dadurch erhält auch die gespielte Musik eine neue, ganz andere Qualität. Aber auch die atomisierten musikalischen Versatzstücke erhalten ein Eigenleben: Wann hat man den einzelnen Ton einer Posaune, ein paar Takte einer begleitenden Bratschenstimme, einen Beckenschlag je so autonom vernommen? Die Anordnung schafft ein anderes Wahrnehmen von Musik, und das macht den Abend sehens- wie hörenswert. Dabei bedarf es gerade nicht der vermeintlich (und vordergründig) spektakulären Orte wie der Künstlerdusche. Und vollends überflüssig ist die simultane Einspielung der Tonband-Komposition Fontana-Mix von 1957 (hier hat Cage einen ebenfalls zufallsbestimmten strengen Ablaufplan für akustische Ereignisse vom Tonband vorgegeben; die verwendeten Klangereignisse wurden in der Aachener Innenstadt aufgenommen), die nicht mehr als Hintergrundgedudel abgibt.
Martin Berner singt Mozart auf der Bühne - hier ganz werktreu: Europera 4
Die Aachener Musiker fügen sich den Anordnungen mit großem Ernst. Auf die ungewohnten Situation, hautnah und ungeschützt nah beim Publikum zu spielen, reagieren manche mit humorvollem Zwinkern, andere mit hochkonzentrierter Ruhe; einige suchen den Kontakt zum Betrachter, andere vermeiden ihn bewusst. Manche spielen in der ungewohnten Rolle als Solist mit großem Ton, als sei die banale Figur ein Solokonzert, andere versuchen (vergeblich) mit dezentem Piano unauffällig zu bleiben. Die Sänger erhalten immer wieder Szenenapplaus. Insgesamt muss man allen Beteiligten für die konsequente Umsetzung hohes Lob zollen.
Der Abschluss mit Europera 4 schafft eine sinnvollen Schlusspunkt, weil er noch einmal das Publikum versammelt und eine übergeordnete Zeitstruktur verdeutlicht. Tapfer schlagen sich Lisa Fornhammar und Martin Berner mit vertrackten Arien herum, während das Grammophon in der falschen Tonart dudelt und der Pianist shadow piano spielt er berührt weitgehend unhörbar die Tasten. Dass man am Ende Lust verspürt, eine der vielen gehörten Opern mal wieder richtig zu hören, spricht keineswegs gegen den Abend, im Gegenteil: Der Aachen Musicircus on John Cage öffnet die Ohren.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne,
Kostüme
Licht
Dramaturgie
SolistenSänger 1Pawel Lawreszuk
Sänger 2
Sänger 3
Sänger 4
Sänger 5
Sänger 6
Sänger A
Sänger B
Pianist
Grammophonspieler
Tänzerin
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- Fine -