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Auf der Suche
nach sich selbst Von Thomas Molke / Fotos: © Sinah Osner
Auch die Tanzsparte steht in Hagen vor einem Neubeginn. Nach nur zwei Spielzeiten hat Francesco Nappa die Stadt an der Volme wieder verlassen. Während Nappa die Leitung der Ballettsparte nach zwei Jahren Vakanz übernommen hatte, in denen die Compagnie mit Gastchoreographinnen und Gastchoreographen gearbeitet hatte, verläuft der Übergang dieses Mal mit Taulant Shehu und einem größtenteils neu zusammengesetzten Ensemble aus 13 Tänzerinnen und Tänzern fließend. Der gebürtige Albaner Shehu ist in der Region zumindest als Tänzer kein Unbekannter, war er doch in seiner aktiven tänzerischen Karriere unter anderem am Ballett am Rhein in Düsseldorf / Duisburg und beim Ballett Dortmund unter Xin Peng Wang engagiert. Während dieser Zeit entwickelte er bereits eigene choreographische Arbeiten, die unter anderem am Nationaltheater Mannheim und in seinem Heimatland am Nationaltheater Tirana zur Aufführung gelangten. Des Weiteren betreute er zahlreiche pädagogische und tanzvermittelnde Programme am Hessischen Staatsballett und arbeitete auch mit Schulen zusammen, um Tanz als Therapieform für traumatisierte Kinder einzusetzen. Nun stellt er sich dem Hagener Publikum mit der Uraufführung seiner Kreation Nobody Knows vor. Gauthier Hemmerlin (vorne) und Thomas Tardieu (hinten) in Nobody Knows Der erste Tanzabend unter seiner Leitung besteht aus insgesamt zwei Choreographien, die unter dem Titel Shift zusammengefasst werden. "To shift" kann man im Deutschen mit "verschieben, verlagern, verlegen, wechseln, bewegen" wiedergeben, was die Aussage der beiden Kreationen ganz gut beschreibt. In beiden Teilen des Abends geht es nämlich um die Suche nach einer Identität, die durch Verschiebung von Blickwinkeln oder den Wechsel von Positionen gesucht wird. Den Anfang macht dabei Shehus Choreographie Nobody Knows, die er speziell für die neu zusammengesetzte Compagnie in Hagen kreiert hat. Dabei gibt der Titel viel Spielraum für Interpretationen. Shehu selbst erweitert ihn im Programmheft zu Nobody Knows Me und sieht in dem Stück den Versuch, die eigene Identität vor der Umwelt zu verbergen. Was gibt man preis? Was bleibt unausgesprochen? Wann funktioniert man in dieser Gesellschaft? Wann bricht man aus? Für das Publikum kann der Titel auch bedeuten, dass niemand weiß, wohin der Weg jetzt gehen wird, bezogen auf die Tanzsparte in Hagen, aber auch allgemeiner auf das ganze Leben. Ensemble in Nobody Knows Die Musik zu diesem ersten Teil des Abends stammt von dem albanischen Komponisten Fatrin Krajka und lässt sich als eine Klanginstallation beschreiben, die vor allem mit unterschiedlichen Geräuschen arbeitet. Die 13 Tänzerinnen und Tänzer sind alle in dunklen ähnlichen Kostümen gekleidet, die im Licht ein wenig samtig glänzen, und wirken entindividualisiert. Zu Beginn sieht man einen Tänzer auf der Bühne, der den Klang in rasanten Bewegungen umsetzt. Nach einer Weile kommt ein weiterer Tänzer hinzu, der versucht, seine Bewegungsmuster zu übernehmen. So entwickelt sich das Solo allmählich zu einem Ensemble, bei dem einzelne Tänzerinnen und Tänzer immer mal wieder aus der Gruppe ausbrechen, also straucheln oder einen Schritt in die Individualität versuchen, diesen allerdings nicht zu Ende gehen. Diese Vorgänge wiederholen sich im weiteren Verlauf des Stückes. Mal beginnt es mit einem Duett, dann wieder mit einem Solo. Was die Tänzerinnen und Tänzer in den gut 30 Minuten körperlich leisten, ist erstaunlich. Auch das der Boden sich während des Tanzes nahezu unmerklich unter den Tänzerinnen und Tänzern nach hinten verschiebt und gewissermaßen als Rückwand die Bühne begrenzt, ist optisch eindrucksvoll. Dennoch lässt einen die Choreographie ein wenig ratlos zurück (Nobody Knows halt), auch wenn das Premierenpublikum am Ende frenetischen Beifall spendet. Kaputt: Rush Carson (vorne) versucht der Gesellschaft (Ensemble im Hintergrund) zu entsprechen. Der zweite Teil des Abends stammt von dem israelischen Tänzer, Choreographen und Musiker Eyal Dadon, der nach zahlreichen Arbeiten im In- und Ausland 2016 zum künstlerischen Leiter des House of Dance in Be'er Sheva ernannt wurde, wo er seine eigene Compagnie, die SOL Dance Company gründete. Mit ihr erlebte auch seine Choreographie Lamot 2018 in Tel Aviv ihre Uraufführung, die er in den folgenden Jahren immer weiter entwickelt und neuen Ensembles angepasst hat. In Hagen präsentiert er das Stück nun unter dem Titel Kaputt. Die Kreation untersucht Aspekte der Selbstentfremdung, Selbstzerstörung und des Selbstbetrugs und passt inhaltlich sehr gut zum ersten Teil des Abends. Auch hier sind die Tänzerinnen und Tänzer einheitlich gekleidet, allerdings in strahlenden weißen Anzügen. Wie im ersten Teil befindet sich zu Beginn ein Tänzer exponiert auf der Bühne. Allerdings steht er bereits unter sehr großem Druck. Während er sich bewegt, fängt das Ensemble, das im Hintergrund vor einzelnen dunklen Wänden steht, an, zu tuscheln und den Tänzer zu verunsichern. Dabei haben sich die Tänzerinnen und Tänzer eine rote Socke über den Kopf gelegt, die sie im weiteren Verlauf der Aufführung anziehen, was am Fuß allerdings farblich einen ähnlichen Fremdkörper bildet wie auf dem Kopf. Kaputt: Thomas Tardieu (Mitte) versucht den Ausbruch aus der Norm. Im weiteren Verlauf versuchen die Tänzerinnen und Tänzer durch homogene Bewegungen immer wieder der Norm zu entsprechen. Dabei erreichen sie im Ablauf eine enorme Präzision und begeistern durch kraftvolle Bewegungen. Die Musik des Abends hat Dadon aus mehreren Kompositionen zu einem Soundmix zusammengestellt. Sie enthält sowohl klassische Elemente von Pjotr Tschaikowski und Ludwig van Beethoven als auch Ausschnitte aus moderner Popmusik oder Geräusche. Dabei wird in der Einführung berichtet, dass Dadon noch einen Tag vor der Premiere, neue musikalische Elemente in die Choreographie eingebaut hat, was zeigt, dass das Stück seit seiner Uraufführung im ständigen Fluss ist. Die Tänzerinnen und Tänzer demonstrieren in diesem Stück aber nicht nur ihre körperlichen Fähigkeiten. Auch stimmlich zaubern sie einen großartigen, wenn nicht sogar den besten Moment der ganzen Choreographie. In einem Lichtkegel, finden sie zu einem absolut harmonischen Ensemble zusammen und strahlen ins Publikum, während sie den Song "You & I" von New Look aufgreifen. Allmählich wird der Gesang zunächst nur von einzelnen Tänzerinnen und Tänzern mit "The Time of My Life" aus dem Musikfilm Dirty Dancing überlagert, bis schließlich alle Tänzerinnen und Tänzer a cappella in diesen Song einstimmen. Während das Publikum schon in nostalgischen Erinnerungen beginnt mitzusingen, steigern sie sich immer lauter in dieses Lied hinein, bis es in einem ohrenbetäubenden Geschrei regelrecht zerstört wird. Deutlicher kann man den Titel Kaputt eigentlich nicht darstellen. Das Ende führt dann wieder zum Anfang zurück. Nachdem die Gruppe zunächst die rote Socke auszieht und über das Gesicht legt, bleibt ein Tänzer in der Mitte zurück, der in einem verzweifelten inneren Kampf versucht, den Erwartungen seiner Umwelt zu entsprechen, unter dem Getuschel der anderen allerdings merkt, dass dies nicht zu bewältigen ist, ein Bild, das absolut betroffen zurücklässt. FAZIT Mit dem ersten Tanz-Doppelabend gelingt Shehu ein guter Einstand in Hagen, auch wenn die Choreographie Dadons inhaltlich mehr überzeugen kann als Shehus Uraufführung. Die Compagnie präsentiert sich absolut energiegeladen in Höchstform. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Dramaturgie Nobody Knows
Konzept und Choreographie
Bühne
Kostüme Licht Kaputt
Choreographie, Bühne und Sound Mix
Mitarbeit Choreographie Kostüme Licht
Tänzerinnen und Tänzer Rush
Carson
(Homepage) |
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