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Sinn oder Unsinn der Ordnung
Seit Berthold Schneider Intendant der Oper Wuppertal ist, hat er das Publikum
immer wieder mit neuen Formen konfrontiert. Erinnert sei an die Eröffnung seiner
ersten Spielzeit mit der Video-Oper Three Tales von Steve Reich, bei der
das Publikum mitten im Geschehen auf der Bühne saß (siehe auch
unsere Rezension), an die
Kombination des dritten Aktes von Richard Wagners Götterdämmerung mit
Heiner Goebbels' Orchesterzyklus Surrogate Cities (siehe auch
unsere Rezension),
an das "on stage"-Projekt Liberazione, bei der das Publikum auf der Bühne
mit einem Smartphone oder Tablet aus verschiedenen Kameraperspektiven das
Geschehen verfolgen konnte (siehe auch
unsere Rezension) oder
an die Community-Oper Das Labyrinth in der letzten Spielzeit, bei der
insgesamt neun lokale Chöre zum Einsatz kamen und rund 270 Personen auf der
Bühne standen (siehe auch
unsere Rezension). Nun ist die Oper Wuppertal gemeinsam mit der Oper Halle
und dem Theater Bremen vom Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) ausgewählt
worden, in insgesamt drei Spielzeiten an der Entstehung von drei neuen Werken
für das Musiktheater mitzuwirken, die jeweils an allen drei teilnehmenden
Opernhäusern gezeigt und nach ihrer Uraufführung bei den Übertragungen an die
anderen Bühnen weiterentwickelt werden. Die Programmreihe trägt den Namen "NOperas!",
was bereits andeutet, dass diese Werke mit der Oper im eigentlichen Sinn nicht
viel gemeinsam haben dürften. In Wuppertal beginnt diese Reihe nun mit der
Uraufführung der Logistik-Oper Chaosmos.
Die Androiden (von links: Adam Temple-Smith, Iris
Marie Sojer, Timothy Edlin, Wendy Krikken und Statisterie) sortieren das
musikalische Material.
Wie das Wortspiel im Titel bereits andeutet, geht es um Chaos und Kosmos, also
den Widerstreit von Ordnung und Unordnung. Das Wuppertaler Publikum mag bei dem
Reihentitel "NOperas!" auch an das Musiktheaterprojekt Europeras von John
Cage erinnert werden, das in der vergangenen Spielzeit von der Theatergruppe
Rimini-Protokoll im Opernhaus inszeniert wurde (siehe auch
unsere Rezension).
Gewisse Parallelen lassen sich nicht leugnen. In beiden Fällen wird die
Musik für jede Aufführung neu zusammengesetzt. Während bei Cage einzelne
Passagen aus insgesamt 64 Opern nach dem Zufallsprinzip zu einem Potpourri der
besonderen Art zusammengestellt werden, bei der einzelne Instrumente oder Sänger
einen festen Zeitraum für ihren Einsatz zugeteilt bekommen, werden
bei Chaosmos die Zuschauerinnen und Zuschauer interaktiv einbezogen und
beeinflussen, in welcher Reihenfolge die Musik erklingt. Beim Betreten der Bühne
bekommt jeder von einem als Android agierenden Statisten eine Mappe
mit Notenmaterial für einzelne Instrumentengruppen in die Hand gedrückt, die in
eines von vier Regalen in der Mitte der Bühne
einsortiert werden muss. Wichtig ist dabei
nur, dass die Mappen für die einzelnen Instrumentengruppen auch wirklich in der
Abteilung für die jeweilige Instrumentengruppe landen. Die Reihenfolge, spielt
dabei keine Rolle, was den Ablauf an jedem Abend neu festlegen soll.
Da fragt man sich nur, wieso es für jede Instrumentengruppe mehrere Regale gibt,
die untereinander nicht austauschbar sind. Völlig frei ist der Ablauf dann wohl
doch nicht.
Jay (Annemie Twardawa, vorne, im Hintergrund:
Iris Marie Sojer) zweifelt am System.
Nachdem das Publikum die rund 150 Mappen in die Regale einsortiert und in einem
Karree auf drei Seiten Platz genommen hat, beginnen Jay und Joe, die beiden
Mitarbeiter in diesem Logistikzentrum, die einsortierten Mappen zu
katalogisieren. Androide in blauen Anzügen, die später als System den Gesang
übernehmen, sortieren sie für die einzelnen Instrumentengruppen, die auf der
vierten Seite des Karrees sitzen und so mit dem Publikum die Bühne einrahmen.
Danach sind schon knapp 20 Minuten vergangen, bevor die eigentliche "Geschichte"
beginnt, die starke Züge des absurden Theaters trägt. Jay und Joe leben in
diesem Logistikzentrum und haben noch nie die Außenwelt gesehen. Ihre einzige
Aufgabe besteht darin, Kisten zum Weiterversand aus den Regalen herauszunehmen,
zu picken, und neue Kartons in die Regale wieder einzusortieren, zu stowen. Ihre
Aufgaben wechseln täglich. Dieses Mal ist Jay der Picker und Joe der Stower.
Während Joe als Stower an die Ordnung des Systems glaubt und imaginären Kaffee
trinkt, beginnt Jay, immer stärker zu zweifeln. Er entschließt sich, eine
beschädigte Kiste zu öffnen, was den allmählichen Zerfall der Ordnung in Gang
setzt. Im weiteren Verlauf stellt er fest, dass der Warenausgang und
Wareneingang verschwunden sind. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder sucht er
nun nach der Außenwelt, wirft die in der Bühnenmitte stehenden Regale um und
wird auf ein Beleuchtungselement aufmerksam, das den beiden den Weg aus dem
System weist. Gemeinsam tauchen die beiden mit diesem Lichtelement in den
Bühnenboden hinab. Nach einiger Zeit taucht dieses Element wieder auf, doch Jay
und Joe sind verschwunden. In einem auf die Wand geworfenen Schatten wird das
Bühnenelement, mit dem die beiden abgetaucht sind, dupliziert, so dass man das
Gefühl hat, dass beide doch noch irgendwo im System vorhanden sind. Die
Androiden versuchen, wieder Ordnung in das verursachte Chaos zu bringen, damit
das Publikum anschließend auch die Möglichkeit hat, die Bühne wieder zu
verlassen.
Jay (Annemie Twardawa, hinten links) und Joe (Rike Schuberty, vorne Mitte)
suchen den Ausgang.
Diese Rahmengeschichte wird nun von einzelnen Videosequenzen ergänzt, die
jeweils beim Öffnen einer Kiste auf einer Leinwand ablaufen. Aus der ersten
beschädigten Kiste, entnimmt Jay eine ominöse Pflanze, die ein wenig an die
Blume Audrey aus dem Musical Little Shop of Horrors erinnert. Nun folgt
eine Art Dokumentation über Carl von Linné, den Erfinder der binären Systematik
der Natur, der 1758 in seinem Werk Systema Naturae versucht hat, die
komplette Natur in eine gewisse Ordnung zu bringen, indem er alles nach Klasse,
Ordnung, Art, Gattung und Varietät kategorisiert hat. Wieso die sexuelle
Komponente hier derart betont wird, dass man diesen Teil schon beinahe als nicht
jugendfrei betrachten muss, bleibt fraglich. Der zweite Einspieler handelt von
der Vermessung der Welt zur Zeit der Kolonialisierung und dem missglückten
Versuch Europas, klare Grenzen in Afrika zu ziehen. Währenddessen erkunden Jay
und Joe mit zwei aus Kartons zusammengesetzten Androiden, die sie einem weiteren
Karton entnommen haben, die Bühne. Wenn dann wahllos Kisten aufgerissen werden,
folgt ein Videofilm über die Entstehung der Logistik 1967, als im
südvietnamesischen Hafen von Da Nang ein absolutes Durcheinander herrschte und
der US-amerikanische Transportunternehmer Malcolm McLean das erste Schiff mit
Seecontainern über den Pazifik schickte. Des Weiteren erfährt man, dass in einem
Logistikzentrum nicht Gleiches neben Gleichem gelagert wird, sondern immer
unterschiedliche Dinge nebeneinander liegen, damit man beim Herausnehmen einer
Ware nicht zufällig danebengreift.
Fraglich bleibt nur die Rolle der Musik in diesem Stück. Während die Geschichte
in irgendeiner Form noch greifbar oder nachvollziehbar ist, ist es das von Marc
Sinan stammende musikalische Material nicht. Wie soll es das aber auch, wenn es
an jedem Abend neu zusammengesetzt wird? Das gibt der Musik den Charakter von
absoluter Beliebigkeit, die völlig willkürlich wirkt. Da kann auch die
musikalisch ansprechende Passage von Johann Sebastian Bach am Ende nichts
retten. Natürlich ist es eine Kunst, eine Partitur so zu konzipieren, dass man
sie zerlegen und anders zusammensetzen kann. Aber den "klassischen"
Opernanhänger erreicht man damit genauso wenig wie neue Besucherschichten, deren
Musikgeschmack an Funk und Fernsehen orientiert ist. Man fragt sich also, wen
man mit derartigen Kompositionen ansprechen will. Der Problematik scheint man
sich aber auch an den Bühnen bewusst zu sein. Schließlich steht dieses Stück nur
insgesamt dreimal auf dem Spielplan, bevor es nach Halle und Bremen
weiterwandert. Wendy Krikken, Iris Marie Sojer, Adam Temple-Smith und Timothy
Edlin überzeugen als Androiden mit regungslosem Spiel, wenn sie wie fremd gesteuert
von einer Ecke in die andere wandern, und setzen die Anordnung der Musik genauso
überzeugend um wie das Sinfonieorchester Wuppertal, auch wenn die
Textverständlichkeit an manchen Stellen stark zu wünschen übrig lässt. Hier wäre
eine Übertitelung hilfreich gewesen, aber das geht ja nicht, wenn die Passagen
an jedem Abend in einer anderen Reihenfolge ablaufen. Rike Schuberty und
Annemarie Twardawa setzen als Joe und Jay darstellerische Akzente, so dass der
Abend zumindest szenisch im Gedächtnis bleibt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie und Video Bühne und Kostüme Licht Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Statisterie der Solisten*Premierenbesetzung Joe Jay Das System: Mezzosopran Tenor Bariton Sprecher Videos: Papertown Container
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- Fine -