Ein
Psychoterrorist als Täter und Opfer
Von Bernd
Stopka / Fotos von Karl und Monika Forster
„Mit
La Bohème wollten wir
Tränen ernten, mit Tosca
wollen wir das
Gerechtigkeitsgefühl der
Menschen aufrütteln und ihre
Nerven ein wenig
strapazieren. Bis jetzt
waren wir sanft, jetzt
wollen wir grausam sein.“
Dieses im Programmheft
abgedruckte Zitat von
Giacomo Puccini steht wie
ein Credo über der
Neuinszenierung seiner Tosca
an der Staatsoper Hannover.
Mesner
(Daniel Eggert, vor dem Chor
stehend)
Regisseur Vasily Barkhatov geht
in seinem
Regiekonzept
psychoanalytisch
vor,
beleuchtet
insbesondere
die Seele
Scarpias und
macht ihn so
zur
Hauptfigur.
Der ist hier
Bischof und
Teil einer
Gewaltherrschaft,
in der Politik
und Kirche
Hand in Hand
arbeiten. Ein
Kirchenfürst,
der auch vom
Ausgang der
Wahlen
abhängig ist,
deren
Hochrechnungen
er auf einem
Bildschirm
verfolgt.
Er ist ein
durchaus
attraktiver
Machtmensch,
der sich
seiner Lust
und Macht
hingibt, aber
nicht aus
Leidenschaft,
sondern
geradezu
zwanghaft. Für
die Sängerin
Tosca pflegt
er eine
Obsession, die
alles
übersteigt. Er
begehrt sie
nicht nur
körperlich, er
verehrt sie
als
Künstlerin,
sammelt
Schallplatten
und
Kostümteile
wie
Devotionalien.
Die Regie
erklärt, wie
es dazu kam
und wieso
Scarpia so
wurde, wie er
ist. Dabei
verbindet der
Regisseur die
#MeToo-Debatte
mit
kirchlichem
Missbrauch und
ist
hochaktuell –
aber nicht auf
künstlich
herbeigezogene
Weise, sondern
analytisch
bedingt: Der
als Kind vom
Mesner
vergewaltigte
Scarpia wurde
zum Täter,
weil er seine
eigene
Missbrauchsgeschichte
nicht anders
bewältigen
konnte. Der
körperlich und
psychisch
Missbrauchte
wird selbst
zum
Psychoterroristen
– diese
Eigenschaft
ist im
Libretto mit
den
detailliertesten
Regieanweisungen
nachzulesen
und auch in
der Musik zu
hören,
regieliche
Zutat ist hier
nur, wie es
dazu kam. Nun
ist Scarpia
selbst böse,
weiß das auch,
kann aber
nicht anders.
Tosca ist für
ihn der
einzige
Lichtblick in
seinem
schwarzen
Leben. Aber
mehr noch:
Tosca soll
tun, was er
nicht
fertigbringt:
ihn töten und
ihn so
stilvoll aus
seinem Wahn
erlösen. Dass
es dazu kommt,
inszeniert er
mit einer
geradezu
diabolisch
perfiden
Intrige.
Das liest sich
zunächst
einmal
hochspannend
und
hochspannend
ist auch die
Frage, wie die
Regie das auf
die Bühne
bringt.
Scarpia
(Seth Carico,
oben), Chor
Schon vor Beginn der
eigentlichen Handlung
sieht man, wie Scarpia
versucht, Angelotti und
seine Schwester, mit denen
er am Tisch in seinem Büro
sitzt, zu erpressen, indem
er verlangt, dass sie sich
ihm hingibt, damit ihr
gefangener Bruder am Leben
bleibt. Dem wird künstlich
die Flucht ermöglicht,
(was die immer wieder
auftauchende Frage
beantwortet, wieso ein
Gefangener aus der
Engelsburg fliehen können
sollte). Man gibt ihm
Vorsprung, um ihn dann zu
jagen. Damit man das Spiel
versteht, werden die
lautlos gesprochenen Texte
wie in einem Stummfilm
eingeblendet, was darauf
verweist, dass Puccinis
Musik oft als Vorläufer
der Filmmusik angesehen
wird. Scarpias
bühnenbreite Zimmerflucht
kann in den Schnürboden
hinaufgezogen werden und
so werden zwei Spielebenen
ermöglicht (Bühne: Zinovy
Margolin, Kostüme Olga
Shaishmelashvili). In der
Kirche wird ein Konzert
vorbereitet. Eine Krippe,
der Leuchtschriftzug
„Merry Christmas“ über der
Bühne und eine
Bühnenbegrenzung aus 24
Türen hinter 24 Torbögen
(Adventskalender?) zeigen,
dass Weihnachtszeit ist.
Wieso Weihnachten?
Vielleicht weil
Weihnachten für einsame
und psychisch kranke
Menschen, insbesondere mit
hoher Suizidalität,
bekanntermaßen die
schlimmste Zeit im Jahr
ist. Für Scarpia damit
auch und so erklärt sich,
warum gerade jetzt. Warum
gerade hier, erklärt sich
zunächst nur
andeutungsweise durch den
Umgang des Mesners mit
einem Chorknaben und dem
boshaften Entzug der
Kardinalshand, als der
Mesner den Ring küssen
will.
Angelotti hat Cavaradossi
in seine Flucht mit
hineingezogen, und so wird
auch er zu Scarpias
Spielball – er, der als
Toscas Geliebter Scarpias
größter Rivale ist. Als
ärmlicher, jugendlicher,
fotografierwütiger
Multikünstler hat er eine
Magdalena für die Krippe
geschnitzt (was hat sie da
eigentlich zu suchen?) und
die will er nun hier
lackieren. Seltsam, dass
Tosca sich an den blauen
Augen der Figur stört –
die hat gar keine. Tosca
kommt in Alltagskleidung
mit einem Klavierauszug
von einer Probe und
scheint ziemlich genervt
zu sein. Leidenschaft
sucht man bei ihr
vergebens, Religiosität
auch. Sie legt sich
kuschelnd mit Cavaradossi
in die Krippe und er
schaltet die elektrische
Sternenbeleuchtung darin
ein. Während der ebenso
berufsmäßig gekleidete wie
korrekt auftretende Chor
das Podium betritt, sieht
man Scarpia eine Etage
höher in seinem
„Tosca“-Zimmer. Er suhlt
sich in Verehrung und
wälzt sich hoffnungsvoll
mit den Kleidern seiner
Göttin in der Hand.
Zu Beginn des zweiten
Aktes sitzt Scarpia mit
Angelotti, der das
Frauenkleid trägt, das
seine Schwester für seine
Flucht zurechtgelegt
hatte, der halbnackten,
geschändeten Attavanti und
Cavaradossi wiederum an
seinem Esstisch und spinnt
die Intrige weiter. Er
verhandelt das Leben aller
drei gegen Toscas Ehre –
alle spielen mit und
lassen sich von ihm
instrumentalisieren. Eine
Folterung findet in der
Devotionalienkammer neben
Scarpias Büro nicht statt,
aber Cavaradossi stöhnt
und schreit auf Anweisung,
bevor alle drei Gefangenen
fortgeführt werden. Immer
wieder verliert Scarpia
die Haltung, so wie
jemand, der kurz vor dem
Ziel Angst bekommt, es
könne noch etwas schief
gehen. Und andererseits
ist er ehrlich zu Tränen
gerührt, als Tosca ihr
„Vissi d'arte“ singt. Als
Einverständniserklärung,
sich Scarpia hinzugeben,
um Cavaradossis Leben zu
retten, knallt Tosca
Scarpia einen Kuss auf den
Mund. „Der Kuss der Tosca“
in anderer Version. Sie
beginnt, ihr Kleid
auszuziehen und er
entledigt sich seiner
Soutane, die sie anziehen
muss. Dann schnallt er ihr
seinen alten Schulrucksack
auf die Schulter, legt sie
auf dem Bauch über den
Tisch und öffnet seine
Hose. Das wirkt wie ein
widerlicher Versuch, die
selbst erlebte Gewalt
durch Wiederholung zu
überwinden. Doch bevor es
zur Vergewaltigung kommt,
dreht Tosca sich um und
stößt ihm ein Messer in
die Brust.
Cavaradossi
(Rodrigo
Porras
Garulo),
Sciarrone
(Nils
Sandberg),
Attavanti
(Leonie
Jannack),
Scarpia (Seth
Carico), Tosca
(Liene Kinča)
In seinem Schulrucksack findet
sie einen Briefumschlag,
der an sie adressiert ist.
Er enthält eine DVD, auf
der sie Scarpias
Abschieds-Videobotschaft
sieht. Er erklärt ihr
seine Seele, seinen
Missbrauch – der eine
Etage tiefer in der Kirche
angedeutet wird – und sie
beginnt ihn zu verstehen
und sieht hinter dem
Monster einen verletzten
Menschen.
Erneut sitzen Cavaradossi,
Angelotti und seine
Schwester mit Scarpia am
Tisch. Mit den Worten des
Schließers „für Euch“ gibt
Scarpia Cavaradossi ein
Glas Wein und später Stift
und Papier für den
Abschiedsbrief. In einer
unwirklich ausgeleuchteten
Vision oder einem
Wunschtraumbild (immer
gut, wenn die Szene nicht
wirklich ins Regiekonzept
passt), erlebt Tosca die
glückliche Vereinigung und
Errettung – und die
Befreiung von kirchlicher
Unterdrückung, wenn sie
erst zwischen lebensgroßen
Krippenfiguren mit
Cavaradossi kuschelt wie
im ersten Akt in der
kleinen Krippe und sie
beide dann die Figuren zum
„Trionfal“-Gesang
umstoßen. Momentweise
vermischen sich in dieser
Szene die Figuren,
Cavaradossi nimmt Scarpias
Haltung ein – rauchend an
den Schreibtisch gelehnt –
und wiederholt dessen
Vergewaltigungsversuch und
wird von Tosca erstochen.
Als das Traumbild
verschwunden ist, liegt
Tosca mit dem toten
Scarpia im Arm auf dem
Boden und erlebt die ferne
Hinrichtung Cavaradossis,
die hier offensichtlich
wirklich nur eine
Scheinhinrichtung ist, nur
hörend. Mit ihren letzten
Worten „O Scarpia, avanti
a Dio!“ schickt sie ihn zu
Gott, der, alles wissend,
sein Urteil über ihn
sprechen möge und krallt
sich geradezu an seiner
Leiche fest. Der hat sein
Ziel erreicht und Tosca
ist nun ganz sein, mit
ihrem Mitleid, mit ihrem
Verständnis, mit dem
Messer, mit dem sie ihm
den größten Wunsch erfüllt
und ihn erstochen hat. Er
hat alle zu Mittätern
gemacht. Fast kommt auch
beim Zuschauer Mitgefühl
auf und auch eine
ungeheure Beklemmung,
ebenso manipuliert zu
werden. Die Räume fahren
ein letztes Mal in den
Schnürboden und unten
sieht man den traurigen
Cavaradossi einsam mit
seinem Fotoapparat in der
Krippe sitzen.
Zugegeben, einiges liest
sich besser, als es sich
auf der Bühne darstellt,
aber auch an den heiklen
Stellen – den „Krücken“
("Traum-/Wunschbilder" und
"eingefügte Szenen mit
Textprojektionen"), wenn
Konzept und Text nicht so
richtig zusammenpassen –
weiß man immer, was der
Regisseur ausdrücken und
zeigen will. Und das ist
ausgesprochen sensibel
hinterfragt, klug gedacht
und handwerklich gut
gearbeitet. Sehr vieles
bewegt sich eng am Text,
etwa wenn Angelotti singt,
dass seine Schwester alles
tue, um ihn vor Scarpia zu
retten, während sie sich
dem Despoten hingibt. Die
Begegnung Scarpias mit
Tosca im ersten Akt ist
zunächst als fast schon
scheue Begegnung des
Verehrers mit seinem Idol
inszeniert und nicht
sofort als Intrige. Dabei
wirkt es geradezu perfide,
dass Scarpia Tosca kein
Weihwasser mit dem Finger
reicht, sondern sie seinen
Kardinalsring küssen
lässt.
Anderes muss mit den schon
genannten Textprojektionen
verdeutlicht werden und es
braucht einiges an
Offenheit und Neugierde,
um nachzuvollziehen, warum
Scarpia seine Intrige so
weit ausdehnt und so viele
Menschen mit hineinzieht.
Wieso er Toscas Gefühle zu
anderen Menschen
eliminieren muss, damit er
sie ganz in der Hand hat –
nicht nur, um sich von
ihrer Hand töten lassen zu
können, sondern auch, um
sie emotional an sich zu
binden. Verständnis hat er
nie erlebt – er durfte
auch nie darum bitten,
sich nie so weit öffnen
und angreifbar machen. Und
selbst bei seiner
Videobotschaft raucht er
noch cool eine Zigarette
und versucht, nicht
schwach zu erscheinen.
Cavaradossi
(Rodrigo
Porras Garulo),
Tosca (Liene
Kinča)
Die
Grundaussage,
dass der
Missbrauch in
dieser
Geschichte zur
Keimzelle des
Grausamen
wird, geht
unter die
Haut. Ebenso,
dass der
Mesner, der
musikalisch ja
ebenso
trottelig wie
bigott
charakterisiert
ist und dem
man zutrauen
könnte, sich
an Schwächeren
zu vergreifen,
als Täter
gezeigt wird.
Das Lied des
Hirtenknaben
im dritten
Akt, von einem
Chorknaben
gesungen,
während der
Mesner um ihn
herumschleicht
und ihn
maßregelt,
bekommt vor
diesem
Hintergrund
eine weitere
Gänsehautdimension:
neben dem
herzbewegenden
Gesang auch
eine
tragisch-grausame.
Vor dem
Hintergrund
seiner
Analysen zeigt
der Regisseur
die Handlung
nicht nur
szenisch mit
unzähligen
klugen
Details,
sondern auch
sehr nah an
der Musik
orientiert,
was dem ganzen
Abend einen
grausamen
Schauer
überzieht,
wenn man sich
auf diese
Sichtweise
einlässt. Und
das sollte
man, denn sie
ist in
jeglicher
Hinsicht
spannend und
tief bewegend.
Eigentlich
müsste die
Oper nicht Tosca,
sondern Scarpia
heißen und das
im doppelten
Sinne, denn
nicht nur
regiebedingt
ist Scarpia
zur Hauptfigur
geworden,
sondern auch
sängerisch und
darstellerisch.
Seth Carico
ist ein so
fantastischer
Sängerdarsteller,
dass man
momentweise
vergessen
könnte, in der
Oper zu sein.
Mit seinem
stimmvollen,
hochkultivierten
und traumhaft
schön
timbrierten
Bariton
gestaltet er
ausdrucksstark
und
differenziert,
nie protzig
auftrumpfend
die
vielschichtigen
Charakterseiten
des Täters und
Opfers Scarpia
und macht die
regieliche
Interpretation
dieses
Menschen
intensiv
erlebbar. Ein
grandioses
Haus- und
Rollendebut!
Mit Rodrigo
Porras Garulo
steht ein
Cavaradossi
auf der Bühne,
wie man ihn
sich oft
wünscht und
selten erlebt.
Sein
jugendlich
frischer,
klangschöner
Tenor hat
volles, aber
nicht
baritonal
klingendes
Material. Mit
wunderschön
lyrischen
Passagen kann
er ebenso
begeistern wie
mit kraftvoll
strahlenden
Höhen. Liene
Kinca ist eine
sehr spezielle
Tosca, die
ihre Gefühle
unter
Kontrolle hält
und auch
gesanglich
eher eine
kühle als
leidenschaftliche
Künstlerin
gestaltet. Ihr
Sopran klingt
manchmal etwas
hart und
einige
scharf-schrille
Höhen sollten,
bei allem
Verständnis
für intensiven
Ausdruckswillen,
noch geglättet
werden.
Richard Walshe
ist ein
eindrucksvoller
Angelotti und
Daniel Eggert
singt und
spielt die in
dieser
Sichtweise
abstoßende
Figur des
Mesners sehr
beeindruckend.
Auch die
kleineren
Partien sind
adäquat
besetzt und
runden den
guten
Gesamteindruck
würdig ab. Ein
Sonderlob für
Ben Walz, der
mit dem kurzen
Gesang des
Hirtenknaben
einen
besonders
guten Eindruck
hinterlässt.
Kevin John
Edusei
erreicht mit
dem bestens
disponierten
Orchester
einen
einerseits
fein
differenzierten
und
andererseits
genussvoll
schwelgerischen
Orchesterklang,
dramatisch
aber nicht
reißerisch.
Chor und
Extrachor
klingen
homogen und
exakt
einstudiert,
ebenso der
Kinderchor,
der sich
stimmvoll und
spielfreudig
präsentiert.
FAZIT
Großartige
Männerstimmen, die
rundum begeistern.
Szenisch hochspannend
analysiert und
überwiegend überzeugend
auf die Bühne gebracht,
wenn die Sichtweise und
Darstellung auch
polarisiert: Selten hat
man in den letzten
Jahren eine solche
„Buh“-
und-„Bravo“-Schlacht in
Hannovers Opernhaus
erlebt wie nach dieser
Premiere.
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Meinung ?
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
*Kevin John Edusei
Michele Spotti
Eduardo Strausser
Inszenierung
Vasily Barkhatov
Bühne
Zinovy Margolin
Kostüme
Olga Shaishmelashvili
Chor
Lorenzo da Rio
Licht, Video
Alexander Sivaev
Dramaturgie
Regine Palmai
Chor der Staatsoper Hannover
Extrachor der Staatsoper Hannover
Kinderchor der Staatsoper Hannover
Statisterie der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Solisten
*Besetzung der rezensierten
Aufführung
Floria
Tosca
Liene
Kinča
Mario Cavaradossi
*Rodrigo
Porras Garulo
Damir Rakhmonov
Baron Scarpia / Ein Schließer
*Seth
Carico
Nikoloz Lagvilava
Cesare Angelotti
Yannick
Spanier
*Richard Walshe
Mesner
*Daniel
Eggert
Frank Schneiders
Spoletta
*Pawel
Brozek
Uwe
Gottswinter
Sciarrone
*Nils
Sandberg
Gagik
Vardanyan
Ein Hirt
Ben Walz
(Solist des Knabenchores
der Chorakademie Dortmund)
Der junge Scarpia
Jannik
Fröhlich
Marchese Attavanti
Leonie Jannack
Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Staatsoper Hannover
(Homepage)
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