Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Verloren in der Traumwelt
Auch wenn Bohuslav Martinů, dessen Stil nicht nur von tschechischen und
mährischen Volksliedern geprägt ist, sondern auch eine besondere Affinität zum
Jazz und französischen Impressionismus aufweist, neben Leoš Janáček, Bedřich Smetana und Antonin Dvořák zu
den bedeutendsten tschechischen Komponisten zählt, stehen
seine Werke zumindest im deutschsprachigen Raum eher selten auf den Spielplänen.
In den letzten Jahren rückte vor allem seine 1961 in Zürich posthum aufgeführte
letzte Oper The Greek Passion wieder mehr ins Interesse und stand beispielsweise 2010 in Wuppertal
und 2015 in Essen auf dem Spielplan (siehe auch
unsere Rezension). Nun hat man sich
in Wuppertal
erneut mit diesem Komponisten auseinandergesetzt und für die "Traumoper"
Julietta entschieden, die 1938 in Prag uraufgeführt wurde. Martinů hatte zunächst geplant,
das Werk in Paris herauszubringen und das Libretto auf Französisch
verfasst. Das Stück basiert auf einem Theaterstück von Georges Neveux, der es
eigentlich Kurt Weill zur Vertonung zugesagt hatte. In seinen Memoiren
berichtet Neveux allerdings, dass ihn Martinůs Komposition des ersten Aktes
so beeindruckt habe, dass er Weills Agenten kurzerhand habe mitteilen lassen,
dass sein Stück nicht mehr frei sei und es sich bei seiner Zusage um ein
Missverständnis gehandelt habe. Während sich das Theater Bremen 2014 entschieden hat,
das Stück in Französisch unter dem ursprünglichen Titel Juliette ou La clé
des songes zu spielen (siehe auch
unsere Rezension), greift
man in Wuppertal auf eine deutsche Übersetzung der tschechischen Fassung zurück,
in der die Titelfigur Julietta heißt.
Skurrile Gestalten in der Traumwelt: Kleiner
Araber (Catriona Morison, links), Mann am Fenster (Sebastian Campione, rechts),
Akkordeonspieler (Christopher Bruckman, Mitte) und Damenchor der Wuppertaler
Bühnen im Hintergrund
Laut Aussage des Komponisten hat das Stück eigentlich keine richtige Handlung,
sondern bewegt sich ständig an der Grenze zwischen Realität und Illusion, wobei
die Illusion im Verlauf des Stückes immer mehr die Oberhand gewinnt. Zu Beginn
der Oper kehrt der Buchhändler Michel Lepic in ein Städtchen am Meer zurück, wo
er sich vor drei Jahren in eine junge Frau namens Julietta verliebt hat, die ihn
mit ihrem wunderbaren Gesang verzaubert hat. Bei seiner Rückkehr muss er
allerdings feststellen, dass die Bewohner dieser Stadt keinerlei Erinnerung an
ihre Vergangenheit haben. Da sie ihn für seine eigenen Kindheitserinnerungen bewundern, ernennen sie ihn zum Kapitän der Stadt. Schließlich trifft
er auch auf Julietta, die sich immer noch zu ihm hingezogen fühlt und einem
Rendezvous an einer Wegkreuzung zustimmt. Als dort ein Erinnerungsverkäufer Julietta
Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit verkauft, die ihr wesentlich
besser als Michels reale Geschichte gefallen, kommt es zum Streit, bei dem sich
ein Schuss löst. Michel wird daraufhin des Mordes angeklagt und will aus der
Stadt fliehen. Ein Handleser rettet ihn vor der Verurteilung, indem er ihm rät,
eine völlig neue Geschichte zu erfinden. So gelangt Michel auf ein Schiff, mit
dem er eigentlich die Stadt verlassen könnte. Doch Juliettas Stimme, die er aus
der Ferne hört, hält ihn zurück. Anschließend befindet er sich in einem zentralen Traumbüro,
in dem viele Leute einen Traum buchen, in dem eine begehrenswerte junge Frau mit
dem Namen Julietta vorkommt. Obwohl der Beamte im Traumbüro Michel warnt, erneut
in die Traumwelt einzutauchen, weil er dann in dieser Zwischenwelt gefangen sein werde, hört Michel nicht auf die Warnungen und
verliert sich, vom reizenden Gesang Juliettas angezogen, für immer in dieser Traumwelt.
Michel (Sangmin Jeon) ist Julietta (Ralitsa
Ralinova) verfallen.
Das Regie-Team um Inga Levant lässt das Publikum in eine surreale Traumwelt
eintauchen, die vor allem bis zur Pause einige Längen aufweist, zumal man große
Schwierigkeiten hat, der (Traum-) Handlung zu folgen. Jan Freese und Petra
Korink haben ein Bühnenbild entworfen, das die einzelnen Räume der Träume nur
andeutet und so die Grenze zwischen Realität und Illusion verschwimmen lässt.
Michel wirkt in dieser bunten Welt mit seinem schwarzen Anzug wie ein
Fremdkörper und hebt sich von den anderen Figuren deutlich ab. Eine zentrale
Rolle kommt einem Schachbrett zu, das mit seinem Muster im Verlauf der ersten
beiden Akte immer wieder aufgegriffen wird und schließlich in einer riesigen
Projektion Michel und den Zuschauer in diese surreale Traumwelt hineinzuziehen
scheint. Zu Beginn der Oper spielt der Kleine Araber (Catriona Morison) gegen
den Akkordeonspieler (Christopher Bruckman), während Michel auf der Suche nach
dem "Hotel zur Wassernixe" ist, in dem er einst Julietta begegnet ist. Später
legt der Akkordeonspieler auf dem Schachbrett mit den weißen Figuren Bilder, die
mal in Form eines Herzens die Liebe zwischen Michel und Julietta kommentieren,
mal mit einem großen Fragezeichen das unverständliche Geschehen auf der Bühne
andeuten. Julietta taucht schließlich mit voluminöser Haarpracht, die ihren
Kopf beinahe verschwinden lässt, wie eine wunderschöne Statue aus einer Art
Brunnen auf der linken Bühnenseite auf und zieht Michel sofort in ihren Bann.
Die übrigen Figuren wirken in ihren bunten Kostümen, für die ebenfalls Korink
verantwortlich zeichnet, skurril und machen deutlich, dass man dieser surrealen
Traumwelt nicht mit Logik begegnen kann.
Der Sträfling (Sebastian Campione, hinten) bucht
beim Beamten (Christian Sturm, rechts) im Traumbüro einen Traum.
Erst im dritten Akt werden Michel und der Zuschauer beinahe unsanft aus diesem
Traum gerissen. Die Bühne ist nach oben hin nicht mehr abgeschlossen und gibt
mit herabhängenden Scheinwerfern den Blick in den Schnürboden frei. Ein Beamter
(Christian Sturm) lässt relativ emotionslos verschiedene Leute, die durch den
Zuschauerraum auftreten, in eine Traumwelt eintauchen. Da kommt der "Hotelboy" (Catriona
Morison), der eigentlich an der Garderobe der Wuppertaler Bühnen die Mäntel der
Zuschauer bewachen soll, um sich für einen kleinen Moment als Cowboy in den
Wilden Westen zu träumen. Ein Sträfling (Sebastian Campione) tritt auf, der
zumindest im Traum seine beengte Zelle in einen riesigen Saal verwandelt. Doch
die Illusion wird in beiden Fällen schonungslos entlarvt. Der Hotelboy irrt
allein mit der Pistole in der Hand über die Bühne, und der Sträfling sitzt auf
einer vergoldeten Toilette in einem schmalen Raum vor einem Flachbildschirm. Ein
Bettler (Simon Stricker) wird vom Beamten sogar abgewiesen, weil er am falschen
Tag gekommen sei und ihm der Traum nur an einem anderen Wochentag zur Verfügung
stehe. Dies alles soll Michel wahrscheinlich daran hindern, wieder in die
Traumwelt einzutauchen und das Traumbüro zu verlassen. Doch wie eine Sirene
erklingt Juliettas Stimme und zieht Michel erneut in ihren Bann. So sind alle
Warnungen umsonst. Michel verliert sich in der Traumwelt. Die herabhängenden
Scheinwerfer werden wieder in den Schnürboden emporgezogen, und die Grenze
zwischen Traum und Wirklichkeit wird endgültig aufgelöst. Nun ist Michel genauso
unwirklich wie die anderen Figuren in dieser Welt, dafür jedoch mit seiner Julietta auf ewig vereint.
Verloren in der Traumwelt: Julietta (Ralitsa
Ralinova, links) und die übrigen Figuren (Ensemble und Damenchor der Wuppertaler
Bühnen)
Johannes Pell lotet mit dem Sinfonieorchester Wuppertal die verschiedenen
Klangfarben der Partitur differenziert aus und lässt einen Klangkosmos zwischen
französischem Impressionismus und Klassizismus entstehen. Hinzu kommen
Sprechgesang und volksliedhafte Einschübe, die von Christopher Bruckman am
Akkordeon eindrucksvoll umgesetzt werden. Obwohl in deutscher Sprache gesungen
wird, ist es sehr hilfreich, dass der Text in Übertiteln eingeblendet wird, da
er an manchen Stellen schlecht zu verstehen ist. Bei der Fülle des Textes wird
man jedoch auch durch das ständige Lesen vom Geschehen auf der Bühne ein wenig
abgelenkt. Sangmin Jeon begeistert als Michel mit lyrischem Tenor, der auch in
den Höhen über eine enorme Strahlkraft verfügt, ohne dabei zu forcieren.
Darstellerisch macht er Michels wachsende Entfremdung von der Realität mit
eindringlichem Spiel deutlich. Ralitsa Ralinova verfügt in der Titelpartie über
einen weichen, mädchenhaften Sopran, der den sirenenhaften Charakter der Figur
unterstreicht. Christian Sturm stattet den Kommissar im ersten Akt und den
Beamten im dritten Akt mit höhensicherem Tenor und sauberer Diktion aus. Die
übrigen Ensemble-Mitglieder überzeugen in den zahlreichen kleineren Rollen, so
dass es am Ende großen Beifall für alle Beteiligten gibt.
FAZIT
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung Bühne Bühne und Kostüme Choreographie Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Damenchor der
SolistenJulietta / Alte Dame Michel Kleiner Araber / Alte Frau / Handleser / Mann mit
Helm / Altvater Jugend / Mann am Fenster / Alter Mann / Kommissar / Beamter Alter Araber Vogelverkäuferin Fischverkäuferin Drei Herren Akkordeonspieler
|
- Fine -