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Schauerromantik im Belcanto
Von Thomas Molke /
Fotos von Rolf K. Wegst
Seit mehreren Jahren hat es sich das Stadttheater Gießen nun schon zur Aufgabe
gemacht, vergessene Werke der Opernliteratur auszugraben. Ein Schwerpunkt bei
diesen Wiederentdeckungen liegt im Bereich des Belcanto, doch während in den
vergangenen Spielzeiten Raritäten von durchaus bekannten Komponisten wie
Donizetti oder Bellini auf dem Spielplan standen, hat man sich in dieser
Spielzeit mit Giovanni Pacini für einen Komponisten entschieden, bei dem neben
dem Werk auch der Name heutzutage in Vergessenheit geraten ist, obwohl er in den
40er Jahren des 19. Jahrhunderts fast unangefochten an der Spitze des späten
Belcanto in Italien stand, da Rossini sich zu dieser Zeit bereits von der
Bühne verabschiedet hatte, Bellini bereits verstorben war und Donizetti sich
hauptsächlich auf europäischen Bühnen außerhalb Italiens versuchte. Doch dieser große Ruhm
war nur von kurzer Dauer, denn eine neue Komponistengeneration um Giuseppe Verdi
beendete die Belcantotradition und schuf einen neuen stimmlich expressiveren
Stil, so dass auch für Maria Tudor 1858 auf Malta der letzte Vorhang
fiel, bevor die Oper 1983 für das Camden-Festival in London wiederentdeckt
wurde. So stellt die Gießener Produktion eine moderne deutsche
Erstaufführung dar.
Maria Tudor (Giuseppina Piunti) mit ihrem Pagen
(Odilia Vandercruysse, Mitte hinten) und Churchill (Riccardo Ferrari, rechts)
(im Hintergrund: Chor).
Auch wenn die Rahmenhandlung der Oper auf der historisch belegten Herrschaft der
Tochter des Tudor-Königs Heinrich VIII. mit seiner ersten Frau Katharina von
Aragon, Maria Tudor, basiert, wird auf Historizität im Libretto nicht nur
verzichtet, sondern es werden der Titelfigur zusätzlich charakterliche
Eigenschaften zugesprochen, für die wohl eher Marias jüngere Halbschwester und
spätere Regentin, Elisabeth I., Patin gestanden haben dürfte. So erinnert Marias
Vorliebe für den jungen Riccardo Fenimoore deutlich an Elisabeths Beziehung zu
dem Earl of Essex, dem Donizetti in der sechs Jahre vorher in Neapel
uraufgeführten Oper Roberto Devereux ein Denkmal gesetzt hatte. Fenimoore
betrügt die Königin mit der jungen Clotilde, die der Arbeiter Ernesto als
Säugling aufgenommen und erzogen hat und nun selbst heiraten möchte. Churchill,
ein einflussreicher Berater der Königin, setzt alles daran, Fenimoore bei der
Königin in Ungnade fallen zu lassen. So schmiedet er gemeinsam mit Ernesto eine
Intrige, nach der Fenimoore der Königin angeblich nach dem Leben getrachtet
haben soll. Maria lässt Fenimoore und Ernesto in den Tower sperren. Zur gleichen
Zeit stellt sich heraus, dass Clotilde die jüngste Tochter des Earl of Talbot
ist, der samt seiner restlichen Familie bei religiösen Unruhen von Marias Vater
auf den Scheiterhaufen gebracht worden ist. Maria erhebt Clotilde erneut in den
Adelsstand und gibt ihr die Möglichkeit, Fenimoore vor der Hinrichtung zu
bewahren und heimlich mit ihm zu fliehen. Doch Clotilde wird sich ihrer tiefen
Gefühle für Ernesto bewusst und beschließt, lieber ihn vor dem Schafott zu
bewahren. So muss Maria schweren Herzens erfahren, dass Fenimoore doch
hingerichtet worden ist und sucht fortan Halt in der Religion, worin sich
vielleicht der einzige Bezug zur historischen Maria widerspiegelt, die aufgrund
ihres harten Vorgehens gegen die Protestanten auch den Spitznamen "Bloody Mary"
erhielt.
Maria Tudor (Giuseppina Piunti) liebt Riccardo
Fenimoore (Leonardo Ferrando).
Joachim Rathke konzentriert sich in seiner Personenregie vor allem auf
Parallelen zwischen den beiden weiblichen Hauptpartien. So lässt er sowohl
Clotilde, als auch Maria bereits während der Ouvertüre in einem langen weißen
Unterhemd auftreten und Zeuge einer Hinrichtung werden, die das Ende schon
vorwegnimmt. Bei scheinbar gleicher Ausgangssituation für die beiden Frauen
entwickeln sie sich in eine gegensätzliche Richtung. Während Clotilde noch das
verträumte kleine Mädchen ist, das sich an ihr Kissen drückt und in ihr Tagebuch
die Worte aus Gildas berühmter Arie "Caro nome" schreibt, wird Maria in einem langen schmal geschnittenen weißen Kleid und
goldenem Umhang zu einer unberechenbaren Herrscherin, wobei eine Maske meistens einen großen
Teil ihres Gesichtes verdeckt. Im zweiten Akt hat sie dieses königliche Outfit
jedoch abgelegt und wirkt in ihrem roten Kleid wie eine Herrscherin, die
von ihrer Leidenschaft beherrscht wird, wobei ihre Jacke das karierte Muster von Fenimoores Hose aufgreift, um anzudeuten, wie sie dem jungen Günstling erlegen
ist. Clotilde hingegen nähert sich im weiteren Verlauf der Handlung mit dem
erneuten Aufstieg in den Adelsstand in einem eng anliegenden weißen langen Kleid, das sie nahezu königlich wirken lässt,
einer wahren Regentin an, was auch durch die Möglichkeit, den
Geliebten vor der Hinrichtung zu bewahren, unterstützt wird. Doch in dieser Rolle fühlt sie sich nicht wohl, und so befreit sie
sich am Ende aus dem engen Kleid, um wieder zu dem einfachen Mädchen zu werden,
das bei dem
bodenständigen Ernesto Halt findet.
Doch Fenimoore (Leonardo Ferrando) benutzt die
Königin nur für seine eigenen Interessen (rechts neben dem Thron: Odilia
Vandercruysse als Page, dahinter: der Chor).
Die ausgeklügelte Personenregie und die von Dietlind Konold entworfenen
stimmigen Kostüme werden durch ein grandioses Bühnenbild von Lukas Noll
unterstützt, das mit der Lichtregie von Kati Moritz eine regelrechte
Schauerromantik aufkommen lässt. So erinnern die diversen Bögen zum einen an ein
Verlies im Tower, zum anderen mit ihren Spitzen auch an die Zacken einer
Königskrone. Des Weiteren ermöglichen sie dem Chor und den Protagonisten ein
ständiges heimliches Beobachten der Handlung. So bleibt kein Geheimnis
verborgen. Durch Einsatz der Drehbühne lassen sich aus diesen Bögen
unterschiedliche Räume erzeugen. Die Lichtreflexionen schimmern mal in
Grün-Blau, was mit den Geräuschen von tropfendem Wasser Assoziationen zu
unterirdischen Kanälen erzeugt, mal in Rot-Gelb, was einen Ausblick auf die
blutige Verfolgung der Protestanten mit zahlreichen Verbrennungen gibt. In der
Mitte dieser Bögen befindet sich eine weitere drehbare Scheibe mit Marias Thron,
einem riesigen Bett und zwei Stelen mit Glasaufsatz, wobei die eine die Bibel
und die andere die Königskrone enthält. Bemerkenswert ist, dass Maria eher
selten auf dem Thron sitzt, während Churchill diesen häufig besetzt hält, was
deutlich macht, wer an diesem Königshof der eigentliche Drahtzieher ist. Maria
befindet sich vor allem im zweiten Akt eher im Bett, weil sie sich von ihren
Gefühlen zu Fenimoore und noch nicht durch die erforderliche Staatsräson lenken
lässt.
Clotilde Talbot (Maria Chulkova) liebt Ernesto
(Adrian Gans).
Zu der durchweg überzeugenden Inszenierung kommt noch eine musikalische
Umsetzung, die das Publikum zu regelrechten Begeisterungsstürmen veranlasst.
Eraldo Salmieri, der in Gießen bereits für Maria Stuarda, La Favorita
und La Cenerentola die Publikumsgunst gewonnen hat, wird seinem Ruf
gerecht und zaubert mit dem Philharmonischen Orchester Gießen auch für diese
Belcanto-Rarität einen Klang aus dem Graben, der in seiner Expressivität dem
frühen Verdi sehr nahe kommt. Neben dem von Jan Hoffmann einstudierten und um
den Extrachor erweiterten Chor des Stadttheaters Gießen, der sich gesanglich
homogen und kraftvoll, darstellerisch in den schwarzen Kostümen teils als
bedrohliche Masse, teils als leicht manipulierbarer Mob präsentiert, werden einige Partien
von Ensemble-Mitgliedern hochrangig besetzt. Da ist zunächst Odilia Vandercruysse zu nennen, die die stimmlich kleine Rolle des Pagen mit einer
enormen Bühnenpräsenz ausstattet. So lugt sie stets recht bedrohlich hinter
einem Bogen hervor und wirkt unberechenbar und gefährlich. Adrian Gans, der
bereits in der letzten Spielzeit als Titelfigur in Lo Schiavo glänzte,
macht auch als Ernesto mit kraftvollem Bariton deutlich, warum Clotilde ihm am
Ende den Vorzug gibt. Maria Chulkova begeistert als Clotilde mit
mädchenhaftem, lyrischem Sopran und bewegendem Spiel.
Maria (Giuseppina Piunti, Mitte) ist am Boden
zerstört. Fenimoore ist hingerichtet worden. (im Hintergrund von links: Page
(Odilia Vandercruysse), Churchill (Riccardo Ferrari), Raoul (Vito Tamburro) und
Clotilde (Maria Chulkova), dahinter der Chor).
Giuseppina Piunti in der Titelrolle als Gast zu bezeichnen, entspricht
eigentlich nur bedingt der Realität, da sie seit nunmehr zehn Jahren als
faszinierende Sängerdarstellerin großer Belcanto-Heroinen wie Lucrezia Borgia,
Leonore aus La Favorita, Elisabetta aus Maria Stuarda und Norma
das Gießener Publikum begeistert. Mit der Rolle der Maria Tudor fügt Piunti
ihrem Repertoire nun eine weitere große Frauengestalt des Belcanto hinzu, wobei
ihre Stimmfärbung an einigen Stellen für die Partie schon fast zu schwer wirkt.
Dennoch stattet sie die anspruchsvolle Partie mit expressiver Darstellung und
großer Dramatik aus. Vor allem ihre Auftrittskavatine im zweiten Akt, in der sie
ihre Besorgnis darüber ausdrückt, dass Churchill versuchen könnte, ihrem
Günstling Fenimoore zu schaden, und ihre Arie am Ende des dritten Aktes, in der
sie den Tod Fenimoores beklagt, legen ein Zeugnis von Piuntis großartiger
Stimmführung ab. Mit Leonardo Ferrando steht ihr als Riccardo Fenimoore ein
Sängerdarsteller zur
Seite, dessen tenorale Stimme keinerlei Wünsche offen lässt. Während Ferrando
darstellerisch einen eher unsympathischen Latin Lover mit Macho-Allüren mimt,
lässt er mit strahlendem, absolut höhensicherem Tenor die Damenherzen höher
schlagen. Dabei vermeidet er jegliches Forcieren, so dass seine Stimme stets
federleicht klingt. Höhepunkt seiner Darbietung stellt die Cabaletta im dritten
Akt dar, in der er hofft, der Hinrichtung doch noch zu entgehen. Riccardo
Ferrari gibt mit profundem Bass einen durchtriebenen Churchill, der nur seinen
eigenen Vorteil im Blick hat. Diese Ausgrabung in Gießen sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen, weil die musikalische Leistung ebenso überzeugt wie die szenische Umsetzung. (Weitere Termine: 29. März 2012, 8. und 28. April 2012 und 5. und 17. Mai 2012) Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne Kostüme Licht Chor Jan Hoffmann
Dramaturgie
Chor und
Extrachor Philharmonisches Orchester
SolistenMaria Tudor Riccardo
Fenimoore
Ernesto Malcolm
Clotilde Talbot Gualtiero Churchill Riccardo Ferrari
Ein Page
Raoul
|
© 2012 - Online Musik Magazin
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E-Mail: oper@omm.de