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Wer im Glashaus sitzt...Von Thomas Molke / Fotos: © Marie Luise MantheiVerdis Stiffelio gehört wie La battaglia di Legnano zu den Opern, denen der Komponist einen größeren Erfolg gewünscht hätte. Im Falle von Stiffelio war wohl nicht die musikalische Qualität, sondern vielmehr die Zensur Schuld daran, dass die Oper, die zwischen Luisa Miller und Rigoletto komponiert wurde und am 16. November 1850 in Triest zur Uraufführung gelangte, schnell von den Opernbühnen verschwand. Die Geschichte um einen evangelischen Pfarrer, der sich von seiner ehebrecherischen Gattin trennt, dieser jedoch am Ende verzeiht, war in der damaligen Zeit für die Opernbühne undenkbar. So wurde zunächst der letzte Akt gestrichen. Bei späteren Aufführungen wurde der Titel zu Guglielmo Wellingrode geändert, wobei der Titelheld nun der Premierminister eines deutschen Fürstentums im 15. Jahrhundert war, bis es Verdi schließlich zu viel wurde und er eine weitere Verbreitung des Werks verbot. Eine Aufführung an der Mailänder Scala 1851 scheiterte daran, dass Verdi verlangte, die Originalfassung wieder herzustellen. 1857 arbeitete er das Stück komplett um und brachte es als Oper in vier Akten unter dem Titel Aroldo heraus. Aus dem ehemaligen Pfarrer wurde dabei ein gläubiger Kreuzritter, der sein Leben im Heiligen Land für das Christentum aufs Spiel gesetzt hatte. Erst 1968 wurde Stiffelio wiederentdeckt. 1995 kam das Werk auch erstmals an der Mailänder Scala heraus. Bis heute wird es aber trotz der musikalischen Qualitäten kaum gespielt, so dass es schon eine Besonderheit ist, dass das Theater Aachen diese selten aufgeführte Oper nun auf den Spielplan gestellt hat. Stankar (Benjamin Bevan, hinten rechts) überrascht seine Tochter Lina (Larisa Akbari) mit ihrem Liebhaber Raffaele (Yu Shao, vorne links). Die Handlung basiert auf einem Drama von Émile Souvestre und Eugène Bourgeois aus dem Jahr 1849 und spielt im 19. Jahrhundert in Deutschland. Während sich der protestantische Prediger Stiffelio auf einer längeren Missionsreise befindet, hat Raffaele von Leuthold Stiffelios Ehefrau Lina verführt. Der Ehebruch droht aufzufliegen, da Stiffelio bei seiner Rückkehr ein Schriftstück überreicht worden ist, das Raffaele bei der Flucht aus Linas Zimmer verloren hat. Doch Stiffelio verzichtet darauf, weitere Nachforschungen anzustellen, und vernichtet das Schriftstück vor aller Augen. Als er allerdings Linas seltsames Verhalten bemerkt und feststellt, dass ihr Ehering fehlt, fürchtet er, betrogen worden zu sein. Inzwischen fängt Linas Vater Stankar einen Brief seiner Tochter ab, in dem sie ihrem Mann ihr Verhältnis mit Raffaele gestehen will. Stankar zwingt sie, die Wahrheit zu verschweigen, und beschließt, Raffaele zum Duell zu fordern. Auf dem Friedhof vor der Kirche stellt Stankar Raffaele. Doch Stiffelio verhindert einen Kampf. Als er allerdings erfährt, dass Raffaele Linas Liebhaber ist, will er selbst Rache üben. Nur die Stimmen seiner in der Kirche betenden Glaubensbrüder und der alte Geistliche Jorg bringen ihn zur Besinnung. Folglich beschließt er, Lina für Raffaele freizugeben. Nach der Unterzeichnung der Scheidungsurkunde gesteht Lina ihm, ihn immer geliebt zu haben. Währenddessen tötet Stankar den im Nebenzimmer wartenden Raffaele. Stiffelio verlässt den Ort des Verbrechens und kehrt erst sechs Monate später in die Gemeinde zurück. Bei einer Predigt trifft er auf Lina. Er liest die Geschichte der Ehebrecherin vor und vergibt ihr mit den Bibelworten: "Der, welcher von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein." Eskalation auf dem Friedhof: von links: Raffaele (Yu Shao), Jorg (Ivo Stanchev), Stiffelio (Soon-Wook Ka), Stankar (Benjamin Bevan) und Lina (Larisa Akbari) Das Regie-Team um Ewa Teilmans verzichtet darauf, die Geschichte in einer bestimmten Zeit zu verorten und hält die Inszenierung relativ abstrakt und zeitlos. Bühnenbildner Andreas Becker hat auf der rechten und linken Bühnenseite jeweils einen Glaskasten entworfen, der in Anlehnung an das erwähnte Bibelzitat an den Spruch erinnert: "Wer im Glashaus sitzt..." So wird aus diesen Glaskästen der Ehebruch während der Ouvertüre von der Gemeinde zwar beobachtet. Zur Rechenschaft dafür zieht Stiffelio seinen Nebenbuhler schlussendlich allerdings nicht, sondern gibt seine Frau sogar für ihn frei, weil er im zweiten Akt erkennt, in seiner rasenden Wut ebenfalls nicht frei von Schuld zu sein. Teilmans sucht für sein Verhalten noch eine weitere Erklärung. So deutet sie an, dass Stiffelio selbst ebenfalls mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Raffaele hegt. Während der Ouvertüre sieht man Raffaele unbekleidet in einer Badewanne liegen. Während Stiffelio gegen seine Empfindungen für den jungen Mann anzukämpfen scheint, gibt sich Lina Raffaele leidenschaftlich hin. Wenn Stiffelio im letzten Bild seiner Gattin mit dem Bibelzitat verzeiht, sieht man auf dem hinteren Teil der Bühne den mittlerweile ermordeten Raffaele mit dem Rücken zum Publikum. Stiffelio geht zu ihm und scheint bei ihm die eigentliche Motivation zu finden, wieso er Lina verzeiht. Im restlichen Verlauf deutet Teilmans in der Personenregie dieses Gefühl nur sehr dezent an, so dass es auch dann nicht weiter stört, wenn man diesem Ansatz nicht folgt. Lina (Larisa Akbari) gesteht Stiffelio (Soon-Wook Ka, Mitte) ihre Liebe (im Hintergrund: Stankar (Benjamin Bevan)). Die restliche Bühne ist von Becker recht abstrakt gehalten. Vier rissige graue Wände im Hintergrund lassen sich so auseinanderziehen, dass sie in ihrer Mitte ein riesiges Kreuz formen. Dies kann mal blutrot leuchten und dann wiederum nachtschwarz erscheinen. Der Geistliche Jorg taucht hier gewissermaßen aus dem Nichts auf, um zu untermauern, dass ihm in dieser Gemeinde nichts entgeht. Hinter diesen vier Wänden öffnet sich ein Raum, der für Bilder genutzt wird, die nur der Fantasie der Figuren entspringen. So wird Lina hier beispielsweise gedoppelt. Wenn sie an ihre Hochzeit mit Stiffelio denkt, sieht man ihr Double (Julia Schütz) in einem Brautkleid, dessen Schleppe auf einem Schreibtisch liegt und ihrem Vater Stankar dazu dient, den Ehevertrag zu dokumentieren. Projiziert wird dabei ein absolut frauenfeindlicher Bibelspruch aus dem Brief an die Epheser, nach dem die Frau dem Mann untertan sei. Während dieser Spruch gut zu Stankars Vorstellungen über die Ehe und die Aufgaben seiner Tochter passt, wird nicht klar, wieso kurz darauf "#Lina 2.0" auf die Rückwand projiziert wird. Unklar bleibt auch das Bild, in dem Lina als kleines Mädchen mit einem riesigen Felsbrocken gezeigt wird , der über ihr wie ein Luftballon schwebt. Soll damit angedeutet werden, dass sie schon als Kind ein schweres Los hatte? Schließlich sieht man dieses Bild, während sie im zweiten Akt auf dem Friedhof das Grab ihrer Mutter aufsucht. Ob beim Mord an Raffaele im dritten Akt die Seiten der beiden Glaswände absichtlich vertauscht werden, bleibt unklar. Stankar wird von Jorg auf die linke Seite geführt, um von dort das Geschehen zu beobachten, während Raffaele die Bühne auf der rechten Seite verlässt, um zu sehen, wie Stiffelio Lina für ihn freigibt. Stankar tritt dann nach dem Mord an Raffaele von der rechten Seite wieder auf, ohne dass man nachvollziehen kann, wie er denn überhaupt dorthin gekommen ist. Sieht man von diesen kleinen Unstimmigkeiten ab, findet Teilmans einen überzeugenden Zugang, was die Personenregie betrifft. Vergebung nach sechs Monaten: Stiffelio (Soon-Wook Ka, Mitte) und Lina (Larisa Akbari, vorne rechts mit Stankar (Benjamin Bevan)), im Hintergrund: Raffaele (Yu Shao), vorne links von links: Jorg (Ivo Stanchev), Federico von Frengel (Stefan Sbonnik) und Dorotea (Ayaka Igarashi) dahinter: Chor) Musikalisch zeigt der Abend, dass diese Oper Verdis tatsächlich zu Unrecht vernachlässigt wird. Das wird zum Beispiel deutlich in Linas großer Arie "Oh cielo!... dove son io!" im zweiten Akt, wenn sie in ihrer Verzweiflung Zuflucht am Grab ihrer Mutter sucht. Larisa Akbari gestaltet diese große Szene mit warmem Sopran und findet bei den Pianostellen sehr weiche Töne, die die Zerbrechlichkeit der jungen Frau unterstreichen und zeigen, wie sehr Lina von ihren Schuldgefühlen gequält wird. Soon-Wook Ka stattet die Titelpartie mit kräftigem Tenor aus, der auch in den Spitzentönen zu glänzen weiß und dabei nicht forciert. Darstellerisch setzt er den inneren Kampf Stiffelios zwischen seinen Gefühlen und seiner Verantwortung als Prediger glaubhaft um. Yu Shao überzeugt als sein Nebenbuhler Raffaele mit lyrischem Tenor. Die Partie des Stankar ist eine Paraderolle für Benjamin Bevan, der Linas Vater mit profundem Bariton gestaltet. Einen musikalischen Höhepunkt stellt seine große Arie zu Beginn des dritten Aktes dar, wenn Stankar Selbstmord begehen will, weil er um die Rache an Raffaele gebracht worden ist. Hier lassen sich Anklänge an Rigolettos Leid erkennen, während man im Zusammenspiel mit Lina den alten Germont aus Traviata heraushören kann. Ivo Stanchev verleiht mit dunklem Bass dem alten Geistlichen Jorg eine große Autorität. Auch der um den Extrachor erweiterte und von Jori Klomp einstudierte Opernchor weiß, stimmlich und darstellerisch auf ganzer Linie zu überzeugen. Chanmin Chung trägt mit dem Sinfonieorchester Aachen stellenweise etwas dick auf und droht die Solist*innen zu überdecken, die aber allesamt mit dem fulminanten Klang aus dem Graben mithalten können. So gibt es großen und verdienten Applaus für alle Beteiligten. FAZIT Das Theater Aachen zeigt in einer guten musikalischen Umsetzung und einer überzeugenden Inszenierung, dass Verdis Stiffelio es verdient hätte, häufiger auf den Spielplänen der Opernhäuser zu stehen. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung Bühne und Kostüme Choreinstudierung Licht Video Dramaturgie
Opernchor Aachen Extrachor Aachen Solistinnen und Solisten*rezensierte Aufführung Stiffelio (Rodolfo Müller),
evangelischer Pfarrer Lina, seine
Frau Stankar,
ein alter Oberst, Linas Vater Raffaele, Edler von Leuthold Jorg, ein alter
Geistlicher Federico von Frengel, Linas Cousin Dorotea, Linas Cousine Double Lina Double Lina als Kind Gemeindemitglieder
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