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Written on Skin

Oper in drei Akten
Libretto von Martin Crimp
Musik von George Benjamin


in englischer Sprache (im Livestream mit deutschen Untertiteln)

Aufführungsdauer: ca. 1h 30' (keine Pause)

Premiere im Staatenhaus Köln-Deutz (Saal 2) am 1. Dezember 2020
Die Aufführung findet ohne Publikum statt und wird im Livestream gezeigt


Logo: Oper Köln

Oper Köln
(Homepage)

Sexuelle Befreiung in der Wüste

Von Stefan Schmöe / Fotos von Paul Leclaire

Eine sehr junge Frau, verheiratet mit einem wohlhabenden Mann, hat eine Affäre; als die auffliegt, wird ihr Liebhaber vom entzürnten Gatten getötet und sein Herz der Frau zum Verzehr vorgesetzt. Die Geschichte findet sich in Boccaccios Decamerone, geht aber auf einen Text aus dem 13. Jahrhundert zurück. Eine an sich nicht besonders originelle Story, wäre da nicht die bitterböse und keineswegs eindeutige Schlusspointe. Was als maximale Bestrafung vorgesehen ist, das Verspeisen des Herzes, gerät keineswegs zur völligen Vernichtung, sondern zur endgültigen Verbindung der Liebenden - das Einverleiben des Organs besiegelt symbolisch die Unwiderruflichkeit des Sexualakts. Komponist George Benjamin und Librettist Martin Crimp haben in ihrer 2012 uraufgeführten und mehrfach (u.a. in Bonn und Detmold) nachgespielten Oper den rätselhaften Stoff noch einmal überhöht, indem sie drei Engel auftreten lassen, die einen apokalyptischen Rahmen andeuten - vage Verweise auf die Zerstörung der Natur gibt es ebenso wie auf die Shoa. Die Katastrophe im Kleinen, im abgeschotteten Raum, erscheint da wie der Nukleus der Verbrechen der Menschheit. Die Engel werden zu Menschen, einer von ihnen zu dem Jungen, mit dem die Frau (ihr Name Agnès verweist auf das Agnus dei, das Lamm Gottes) die intime Beziehung eingeht. Er ist Buchmaler, malt und schreibt damit auf Pergamente, also auf Häute. Written on Skin, "auf die Haut geschrieben", darf man aber wohl direkter verstehen, als Botschaften, die durch Körperlichkeit übermittelt werden: Die sinnliche Erfahrung der Liebe führt zur Wandlung der Frau.

Szenenfoto

Engel

Crimp und Benjamin ist dabei nicht an einer subjektiv-romantischen Erfahrung von Liebe gelegen, sie bleiben auf Distanz. Das Libretto ist kein Theatertext, sondern Prosa. "Aus Gehorsam beginnt sie zu essen", singt die Frau, als ihr das Herz des Jungen vorgesetzt wird, gleichsam Beobachterin der Szene, deren Hauptfigur sie ist - wie die Protagonisten ständig mit Worten beschreiben, was sie gerade tun. Benjamins Musik dazu ist nicht illustrierend, sie verstärkt keine Gefühle, liefert vielmehr eine weitere Schicht des nicht genau Fassbaren, ein weiteres Rätsel. Sie ist sehr sinnlich, betörend schön, dabei nicht melodisch im konventionellen Sinn. Sie ist mit einer Selbstverständlichkeit da, die jede Frage nach Tonalität und Atonalität (man findet beides) obsolet macht. Damit gehört Written on Skin zu den besten Werken des Musiktheaters nicht nur der jüngsten Zeit: Ein Werk, das ins Repertoire gehört.

Szenenfoto

Historisch gewandet in zeitloser Wüstenlandschaft: Agnès und der "Protector"

Da wäre es jetzt in Köln angekommen, hätte nicht der erneute Lockdown der Theater die Aufführungsserie verhindert. Fertig geprobt, sollte die Produktion von diesem 1. Dezember an vor Publikum gespielt werden, direkt nach der Wiedereröffnung - wozu es bekanntlich nicht gekommen ist. Gespielt worden ist trotzdem, ohne Publikum im Staatenhaus, dafür mit Übertragung per Live-Stream im Internet. Eine Notlösung, keine Frage, und es bleibt zu hoffen, dass die Produktion irgendwann auch vor im Saal präsentem Publikum gegeben werden kann. Was man am heimischen Rechner, immerhin mit einer akzeptablen Hifi-Anlage gekoppelt, hörte: Ein bestens aufgelegtes Orchester, das unter der Leitung von Chefdirigent François-Xavier Roth ungemein delikat spielt, dabei die Spannungsbögen nie abreißen lässt, die bewegten Passagen mit federndem drive und, bei aller Energie, mit berückender Eleganz angeht, das bei kammermusikalischer Transparenz mit eher symphonischen Gestus das Geschehen kommentiert und die Sänger trägt.

Szenenfoto

Den Mantel, der sie wie ein Schildkrötenpanzer umgab, hat Agnès nach der näheren bekanntschaft mit dem buchmalenden Jungen abgelegt.

Die drei Hauptpartien sind mustergültig besetzt: Robin Adams gibt den Hausherren, nur "The protector" genannt, mit virilem Bariton, nicht zu kavaliersmäßig und draufgängerisch, sondern immer mit einer Prise verhaltener Betroffenheit, immer präsent und doch kein tumber Machtmensch. Die junge Kanadierin Magali Simard-Galdés, erstmals in Deutschland zu hören, trifft mit ihrem leuchtenden, manchmal noch etwas spät einschwingenden Sopran hinreißend den Grad zwischen Mädchenhaftigkeit und Sinnlichkeit. Und Countertenor Cameron Shabazi ist mit ätherischer Leichtigkeit und doch immer substanzvollem Ton, mühelos angesetzt, ein überwältigender Engel und buchmalender Junge, ein Wesen nicht von dieser Welt (und doch cool maskulin im Auftreten). Judith Thielsen und Dino Lüthy gestalten sehr ordentlich die beiden anderen Engel.

Szenenfoto

Im Wüstensand wird Agnès auch das blutende Herz ihres Liebhabers finden.

Der junge französische Regisseur Benjamin Lazar und Ausstatterin Adeline Caron stecken die Engel zunächst in Phantasiekostüme mit Flügeln, den Protector in einen edlen historisierenden Mantel und Agnès in mittelalterliche Tracht und versetzen alle in eine Sandwüste - so beginnt die Oper als eine Art Mysterienspiel. Entsprechend der Anlage des Librettos, das ja immer ein Theatertext ist und gleichzeitig doch nicht, verzichtet das Regieteam damit auf einen festen historischen Bezugsrahmen, vielmehr kann man die alttestamentarische Wüste assoziieren, in der der Protector nach Gott oder nach Erkenntnis sucht - das bleibt unbestimmt, wie auch viele Aktionen, die zwischen konkreter Bühnenhandlung und Abstraktion wechseln, die Geschichte dabei mehr andeuten als erzählen. Agnès wird später das Herz des Jungen im Wüstensand ausgraben. Das Pendeln zwischen narrativem und abstrahierendem Theater greift die formale Grundformel des Werkes auf, bleibt aber als Bühnenlösung ziemlich unbefriedigend: Kaum eine Aktion ist wirklich zwingend. Hier ein bisschen mehr Realismus, dort etwas weniger - es bleibt eine allzu große szenische Beliebigkeit.

Szenenfoto

Kleidungsmäßig in der Gegenwart angekommen: Der Junge (vorne) und Agnès (hinten). Links ein Engel, rechts Margaux Blanchard mit Bassgambe, ein Instrument für besondere Situationen.

Nach und nach legen die Protagonisten ihre Kleider ab (im Falle der Agnès von der Kamera allzu voyeuristisch begleitet) und wechseln zu heutiger Alltagskleidung. Im Sand werden Leuchtspuren sichtbar. Aus dem historisierenden Mysterienspektakel wird somit ein Gegenwartsstück - eine arg vordergründige Botschaft. Lazar und Caron können nicht vermitteln, was sie an dem Stoff eigentlich interessiert. Sie bauen ein eigenes System von Chiffren, aber letztendlich um derer selbst willen. Und ästhetisch kann die Inszenierung der omnipräsenten Musik nichts entgegensetzen; der Raum im Staatenhaus bleibt, so zumindest der Eindruck am Bildschirm, banal.


FAZIT

Szenisch ist die Produktion, man verzeihe den allzu naheliegenden Kalauer, in den Sand gesetzt: So wirklich etwas anfangen kann das Regieteam mit der Oper nicht und bleibt entsprechend oberflächlich. Was man von der Musik am heimischen Lautsprecher hört, ist allerdings in jeder Hinsicht großartig.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
François-Xavier Roth

Inszenierung
Benjamin Lazar

Bühne und Kostüme
Adeline Caron

Licht
Nicol Hungsberg

Dramaturgie
Georg Kehren


Gürzenich-Orchester Köln


Solisten

* Besetzung der Premiere

The Protector
Robin Adams

Agnès
Magali Simard-Galdès

Angel 1 / The Boy
Cameron Shahbazi

Angel 2 / Marie
Judith Thielsen

Angel 3 / John
Dino Lüthy

Viola da gamba
Margaux Blanchard



Weitere
Informationen

erhalten Sie von der
Oper Köln
(Homepage)



Da capo al Fine

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