Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Nähe und Abstand, Freiheit und Zwänge
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß
Endlich geht's richtig los. Nachdem Düsseldorfs neuer Ballettchef Demis Volpi seine Antrittsvorstellung A first date auf die Episoden eins, zwei und drei verteilte und mit kleinteiligen Ausschnitten und Miniaturen füllte, um allen Tänzerinnen und Tänzern Bühnenraum zu geben, ist Far and near are all around der erste "richtige" Ballettabend mit zwei Uraufführungen, beide jeweils eine knappe halbe Stunde lang (oder kurz, wie man's nimmt) - mehr geht derzeit nicht, weil eine echte Pause nicht zulässig ist und die Produktionen entsprechend kurz sein müssen. Die Pandemie hat das Theaterleben im Griff, und weil wegen stark steigender Infektionszahlen kurzfristig die maximale Zuschauerzahl begrenzt wurde, organisierten Oper und Ballett am Rhein buchstäblich über Nacht eine Zusatzvorstellung um 18 Uhr (die hier besprochen ist) - ein Kraftakt für alle Beteiligten auf, hinter und neben der Bühne.
Auch künstlerisch dreht es sich um die Folgen der Pandemie. Tänzer Rashaen Arts steht zu Beginn von Spectrum allein vor einem weißen Vorhang, erobert nach und nach den schmalen Raum, sieht dann von der anderen Seite einen Schatten, mit dem er Kontakt aufnimmt. Isolation und Vereinzelung im Gegensatz zu Gruppe und Gesellschaft, das ist das Thema der Choreographie, die dem Titel entsprechend ein ganzes Spektrum an menschlichen Kommunikationsformen abbilden möchte. Wenn der weiße Vorhang hochgefahren ist, gibt es immer wieder lammellenartige Elemente aus dem gleichen Stoff, die für Trennung sorgen, und aus den Nichts treten Tänzerinnen und Tänzer auf mit vielen kleinen Soli, unakademisch erdverbunden, oft auf dem Boden abrollend und damit auf Tanzformen wie Breakdance verweisend. Man trägt lockere Kleidung, ein wenig wie kurzärmlige und -beinige Pyjamas, farblich gestaffelt wie ein Regenbogen, die physikalische Form des Spektrums (Kostüme: Tatyana van Walsum). Auf Socken (keine Sorge: hautfarben und fast nicht zu sehen) rutschen die Akteure schwungvoll über den glatten Bühnenboden. Sie dürfen Persönlichkeit zeigen, treten als Individuen auf. Der Mensch ist ein fröhliches Gesellschaftswesen, das zeigt sich hier schnell. Am Ende allerdings ist Rashaen Arts wieder allein, und das tut nicht gut. Vorerst ist kein happy end in Sicht. Spectrum: Feline van Dijken und Eric White wohnen in einem gemeinsamen Haushalt und dürfen sich nahe kommen Juanjo Arqués, geboren 1977 in Spanien, hat bis 2010 beim Het nationale Ballett Amsterdam getanzt, arbeitet seit 2016 als Choreograph und ist eben dort zum "Young Creative Associate" ernannt worden. Wenn Volpi ihm diese erste einigermaßen große Produktion überträgt, ist das wohl auch ein Signal, in welche Richtung sich die Compagnie künstlerisch entwickeln könnte. Arqués hat als Musik das 4. Streichquartett Prometheus des amerikanischen Komponisten Marc Mellits (*1966) gewählt, moderat modern zwischen minimal music und gefälliger Postmoderne (fabelhaft interpretiert vom Streichquartett aus den Reihen der Düsseldorfer Sinfoniker). So ungefähr ist auch die Tanzsprache in Spectrum, modisch flott, ein bisschen cool und lässig, ein bisschen auf Distanz zum akademischen Tanz, ein bisschen jugendlich, ziemlich dekorativ. Kein schlechtes Stück, nett anzuschauen. Es gibt ein einigermaßen detailliertes Programm, darin geht es um das Leben in Zeiten der Pandemie. Alles nicht falsch. Aber diesen plötzlichen Moment der Erkenntnis, den es in der Ära Martin Schläpfer immer wieder gab und der einem etwas verdeutlichte, was vorher nicht bewusst war, auf den wartet man vergebens. Man möchte Arqués auf die Schulter klopfen und sagen: Gut gemacht, so geht's uns auch. Darf man nicht, Abstandsregeln. Auf der Bühne darf man die nur unterlaufen, wenn man in einem gemeinsamen Haushalt wohnt wie Feline van Dijken und Eric White, die sich zaghaft annähern (und damit zeigen, was dem Tanz an Möglichkeiten derzeit fehlt). Rashaen Arts profiliert sich als virtuoser Außenseiter in einem guten Ensemble, das sich jugendlich frech gibt.
Spectrum ist mit seiner gefälligen Art und etwas schlichten Botschaft ist dabei das aufregendere Stück des Abends, aber bis zu Demis Volpis A simple piece muss man erst einmal das Streichquartett Ritornello 2.sq.2.j.a. von Caroline Shaw anhören, einer 1982 geborenen US-amerikanischen Komponistin, die hier allzu weitschweifig und daher ein bisschen langweilig vorgegangen ist (da hilft auch die erneut überzeugende Interpretation des Streichquartetts - Franziska Früh, Marina Peláez Romeo, Ralf Buchkremer und Nikolaus Trieb - nichts). Schließlich muss die Bühne umgebaut und gereinigt werden und das Publikum darf den Saal nicht verlassen. Für ihre (aufregendere) Partita for 8 voices ist Shaw 2013 mit dem Pulitzer Prize of Music ausgezeichnet worden, und diese Musik (vom Band eingespielt) verwendet Demis Volpi als musikalische Grundlage für sein Stück. Shaw probiert verschiedenste Formen der Tonerzeugung durch Stimmen durch, da wird gesprochen und gezählt, laut geatmet, da werden Obertöne erzeugt und Gesangstechniken unterschiedlicher Kulturen eingesetzt, und das alles im angedeuteten Rahmen barocker Formen, einer Partita eben. Man mag in Volpis strenger Anordnung - die Tänzerinnen und Tänzer stehen in einer Art geometrischem Muster, die Abstandsregeln betonend - Anspielungen auf barocke Gesellschaftstänze und deren strenge Regeln erahnen. Im Wesentlichen behalten alle acht Akteure ihren festen Platz, wobei sich Verschiebungen ergeben und die Formation allmählich vom Bühnenhintergrund nach vorne an die Rampe wandert. Aus Ferne wird Nähe. A simple piece: Ensemble, geordnet
Die Bewegungen sind oft abgehackt, comicartig verkürzt, meistens aus dem Stand heraus. Nur selten erobert sich jemand Beinfreiheit, verlässt seine Position, und das hat immer etwas Befreiendes. Man spürt Zwang und Unfreiheit. Anders als bei Arqués ist die Individualität erst einmal getilgt. Alle tragen das gleiche Kostüm - eine Art dunkle Pluderhose (mit riesigen Taschen, aus denen Blütenblätter? - so genau ist das nicht zu erkennen - auf die Bühne rieseln) und weiße Bluse mit merkwürdigen Zotteln, bei den Herren ziemlich durchsichtig, bei den Damen auf der Brustseite nicht. Wie schon bei A first date sind damit Geschlechtsunterschiede aufgehoben, und man darf nur hoffen, dass das nicht zu Volpis Markenzeichen wird, denn dieses Prinzip führt zu einer gewissen Eintönigkeit. Dagegen sind die Bewegungen durchaus nicht identisch, auch im Zwangskollektiv hat jede und jeder seine Eigenarten. Man muss aber genauer hinschauen, um das zu bemerken.
In der Musik sind acht Stimmen so organisiert, dass sie sich zu einem strukturierten Klang fügen, auf der Bühne sind es acht Tänzerinnen und Tänzer (die Zahl ist dabei durch die Hygienevorschriften festgelegt). Volpi reagiert auf die Musik, bebildert sie aber nicht. In der Musik scheinen die Freiräume dabei ungleich größer als in der Choreographie. Zeichnete sich in Spectrum das Ideal einer freien (Freizeit-)Gesellschaft zumindest als Vision ab, so dominiert in A simple piece eine rigide Ordnungsstruktur, die ihren Preis fordert: So wahnsinnig viel passiert in diesem Spiel der eher kleinen Zeichen nicht. Volpi hat Mühe, über den gesamten Zeitraum gegen die Dominanz der Musik anzutanzen. Tänzerinnen und Tänzer können sich vergleichsweise wenig profilieren. Volpi lässt keinen echten Ausbruch zu. Und wirklich aufs Ganze scheint diese Mini-Gesellschaft dann auch nicht gehen zu wollen: Da bewegt sich A simple piece zu sehr auf einer abstrakt-formalen Ebene und bleibt ebenfalls ein wenig zu sehr dem unverbindlich Dekorativen verhaftet.
Dieser Tanzabend sieht hübsch aus, gibt sich moderat modern und kreist um Fragen unserer ganz aktuellen Gegenwart - damit machen Juanjo Arqués und Demis Volpi nichts falsch, bleiben aber arg brav und tun niemandem weh. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamSpectrum
Choreographie
Bühne und Kostüm
Licht
Dramaturgie
Erste Violine
Zweite Violine
Viola
Cello (* Besetzung der rezensierten Aufführung) Tänzerinnen und TänzerRashaen ArtsMaria Luisa Castillo Yoshida Joan Ivars Ribes Niklas Jendrics Evan L'Hirondelle Courtney Skalnik Edvin Somai Feline van Dijken Eric White A Simple Piece
Choreographie
Kostüm
Licht
Dramaturgie |
© 2020 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de