Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Durch die Jahrhunderte dekliniertVon Bernd Stopka / Fotos von Sandra Then 1835 wurde Fromental Halévys
Oper La Juive (Die
Jüdin) auf das Libretto
von Eugène Scribe in Paris mit
großem Erfolg uraufgeführt.
Ein Jahr später stand sie
bereits in Hannover auf dem
Spielplan und wurde bis 1930
immer mal wieder gezeigt. Von
den Nationalsozialisten
verfemt, verschwand die Oper
lange Zeit von den
Spielplänen. So auch in
Hannover, wo sie nun nach 90
Jahren wieder zu sehen ist.
Mit einer grandiosen, üppig
ausgestatteten Produktion
(„600 Kostüme, 300 Perücken,
120 Darsteller*innen, 1 Hund“)
dieser Grand Opéra wird
gezeigt, wie man großes
Opernspektakel mit
gesellschaftspolitischer
Aussage und tiefer
Gefühlsintensität verbindet.
Als Visitenkarte der neuen
Intendanz der Staatsoper
Hannover lässt das gespannte
Vorfreude auf die folgenden
Produktionen und Jahre
wachsen.
Rachel (Hailey Clark), Léopold (Matthew Newlin) Regisseurin Lydia Steier schickt das Publikum auf eine Zeitreise – mit jedem Akt ein Stück weiter zurück zur eigentlichen Zeit der Handlung: beginnend in den scheinbar so freien und toleranten USA der 1950er Jahre, über Deutschland 1929, in dem der beginnende Faschismus schlimme Schatten vorauswirft und Deutschland 1738 im üppig schwelgerischen Rokoko, das seine grausamen Seiten zeigt. Der vierte Akt ist 1492 auf der Iberischen Halbinsel angesiedelt, wo nach der Rückeroberung Granadas Juden und Muslime zum Christentum konvertieren müssen. Zum Finale sind wir beim Konstanzer Konzil 1414 angekommen und müssen feststellen, dass sich die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen in allen Zeiten wiederfindet, wenn auch auf verschiedenen Gewalt- und Grausamkeitsebenen. Die Aktualität der Fragen von Integration und Toleranz wird dabei assoziativ aktualisierend angestoßen und wirkt damit nachhaltiger und intensiver, als wenn sie mit dem Holzhammer verdeutlicht würde. Der gehört beglückenderweise nicht zum Handwerkszeug der Regisseurin, die sehr intensiv mit subtilen Mitteln und einer sehr fein gearbeiteten, bis ins kleinste Detail ausgeloteten Personenregie arbeitet. Dabei legt sie besonderen Wert darauf, den Charakteren eine Vielschichtigkeit zu verleihen und jede Kategorisierung in Gut und Böse zu vermeiden. So ist auch Éléazar kein sympathisches, mitleiderregendes Opfer, sondern seinerseits von Hass auf Christen geprägt und hat Vergnügen daran, sie beim Verkauf seiner Schmuckstücke zu übervorteilen und sich sein Geld „wiederzuholen“, wie er im zweiten Akt singt. Die Übergänge zwischen den Akten sind durch kurze Aktionen verblüffend logisch und so entsteht eine spannende fortlaufende Handlung, die sich im szenischen Rahmen zeitlich zurückbewegt. Das schärft den Blick auf das Wesentliche, das hier zwar auch, aber nicht in erster Linie eine Liebesgeschichte ist. Hier geht es vor allem um Konflikte im Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Kulturen - ein wahrhaft zeitloses Thema. Werk und Inszenierung zeigen die Probleme auf, die sich in Unverständnis, Hass und extremen Gefühlswallungen äußern, wenn man irritiert ist oder sich gestört fühlt. Gleich zu Beginn wird der jüdische Goldschmied Éléazar zum Tode verurteilt, weil er an einem christlichen Feiertag laut hämmernd arbeitet. Für die Christen ein Affront. Aber der Jude sieht keine Notwendigkeit sich an christliche Regeln zu halten. Auch dies ist eine zeitlose Problematik – im Großen wie im Kleinen, man denke nur an das Karfreitags-Tanzverbot. Dazu kommt hier auch ein provokatives Element, denn Éléazar ist voller Wut auf die Christen im Allgemeinen, weil Christen seine beiden Söhne auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben. Er lebt mit seiner Tochter Rachel zusammen, die eine heimliche Affäre mit dem Prinzen Léopold hat, der sich bei ihr und ihrem Vater zunächst als Jude ausgibt. Ausgerechnet bei Éléazar kauft Léopolds Gattin Eudoxie Schmuck, um Léopold zurückzugewinnen. Rachel verlässt den Vater und begibt sich in die Dienste der Prinzessin, verrät öffentlich die Affäre und Léopold wird zum Tode verurteilt, weil er mit einer Jüdin verkehrte. Auch Éléazar und Rachel werden zum Tode verurteilt (und das mehrfach im Laufe der Oper). Der Präsident des Konzils, Kardinal Brogni, begnadigt die beiden zunächst, doch am Ende wird Rachel gerichtet – und Éléazar verrät dem Kardinal, dass Rachel seine eigene Tochter war, die er aus den Flammen gerettet hat, in der Brognis Familie umkam (in seinem Leben vor der Kardinalswürde). Die der Oper den Titel gebende Jüdin war also ein Kind, das als Christin geboren und als Jüdin erzogen wurde. Recha aus Lessings „Nathan“ lässt grüßen und zwei Jahrhunderte später wird Andri in Max Frischs „Andorra“ mit einem ähnlichen Schicksal konfrontiert. Das Thema ist also auch in dieser Hinsicht zeitlos. Als verbindende Bildelemente tauchen in allen Akten (= Zeiten) immer wieder mittelalterliche Motive auf: Gehängte, Geräderte, in Käfigen ausgestellte schon vertrocknete Leichen. Letzteres ist wohl eine Anspielung, die dem dritten Akt die zeitliche Zuordnung gab: Josef Süß Oppenheimer, der jüdische Finanzberater des württembergischen Herzogs wurde 1738 nach dessen Tod als korrupter Verräter hingerichtet und genauso ausgestellt. Dies vor allem, weil die Adeligen auf diese Weise ihre Schulden bei ihm nicht mehr begleichen mussten. Als Personen-Leitmotive tauchen in allen Bildern zwei Jungen auf, von denen einer jüdisch ist. Er wird von dem anderen immer wieder drangsaliert, geschlagen, am Ende sogar getötet und auf einer Palette ausgestellt. Das Volk wird dann an ihm vorbeigeführt, was an das Verfahren der befreienden Alliierten erinnert, die 1945 Deutsche zu den Leichenbergen in den KZs führten, um ihnen die Gräuel der Nazis zu zeigen. Natürlich kann das Thema nicht ohne Blick auf den Antisemitismus der Nazizeit und die Shoah gezeigt werden, denn es geht in diesem Werk auch um Antisemitismus und Judenverfolgung. Die Bilder, die die Regisseurin hierbei wählt, sind erschreckend und verstörend – so die mit Davidsstern und Hetzparole beschmierte Hauswand, brutale Schlägertrupps und später, als Teil einer Prozession, orthodoxe Juden, die Babys verschlingen. Chor, Rachel (Hailey Clark), Léopold (Matthew Newlin) Das Feuer wird in dieser Inszenierung besonders hervorgehoben: Wenn Éléazar im zweiten Bild mit Freunden heimlich das Passahfest gefeiert hat, die Gäste heimlich aus dem Haus geschlüpft sind, die Prinzessin den Schmuck für ihren Mann Léopold bestellt hat, und Rachel auf den Besuch ihres Geliebten wartet, sieht sie wie in einer Vision das Haus in Flammen (was mit ganz exzellenter Projektionstechnik nur auf das Haus begrenzt gezeigt wird). Sie singt „Er wird kommen“ – aber meint „es wird kommen“ – am Ende ihrer Arie sind die Flammen verschwunden und das Haus steht unversehrt. Dies sei als ein weiteres Beispiel der intensiven Aussagekraft der Regie genannt. Neben der hochemotionalen und gefühlsintensiven Ausdrucksvielfalt bereichert die Regie die Szene auch immer wieder mit humorvollen, ironisierenden Momenten, etwa mit einem kollektiven Kopfnicken im Rhythmus der Musik, mit schwebenden, flügelschlagenden Putten zum pathetischen Gesang des Kardinals, den eine Gloriole umgibt, oder wenn Eudoxie zu jedem Spitzenton einer Koloratur einen Knopf von Léopolds Hemd öffnet. Am üppigsten ist der dritte Akt ausgestattet: mit einer fantastischen langen Festtafel und bonbonbunten Rokoko-Kostümen (Kostüme: Alfred Mayerhofer). Am intensivsten bewegend erlebt man aber den vierten Akt. Hatte zuvor eine Wand aus viereckigen Steinen den Bühnenhintergrund gebildet, aus der Elemente wie Éléazars Haus herausgeschoben werden und deren Steine projizierend verzerrt und verschoben werden können, sieht man nun die mit Holzlatten gestützte Rückseite. In der Mitte eine Treppe, rechts und links Holzkäfige als Gefängniszellen. Aus vier Öffnungen im Hintergrund schauen vier farbintensive Kardinalsköpfe in das düstere Bild. Kardinal Brogni zwingt den kleinen Jungen, die Szene zu beobachten. Zuerst fleht Eudoxie Rachel an, ihre Aussage zu leugnen, wozu sie sich erweichen lässt. Dann beschwört Kardinal Brogni Éléazar den Glauben zu verleugnen und sich taufen zu lassen, um sich und Rachel zu retten. Die Aufforderung zu konvertieren scheint der Grund zu sein, weshalb die Regie die Handlung hier auf 1492, Iberische Halbinsel, datiert, wobei das eindringliche Szenenbild (Bühne und Projektionen: Momme Hinrichs, fettfilm) weder ortsgebunden ist, noch eine genaue Zeit beschreibt. Éléazar weigert sich, überlegt dann erneut, wird dann aber vom hereintönenden Judenhass darin bestärkt, lieber mit Rachel zu sterben, als sich und seinen Glauben zu verleugnen. Zuvor hatte er Brogni, seinem alten Feind aus römischen Tagen, noch aus Böswilligkeit gesagt, dass jemand seine Tochter aus den Flammen gerettet hat und sie noch lebt – ihm aber nähere Auskunft verweigert. In diesem Akt lässt die Regie der Musik ihre Stärke, denn hier wird es besonders intim, besonders intensiv, ohne Spektakel und Massenszenen. Wie wunderbar, dies zuzulassen und ganz auf das Werk zu vertrauen Im fünften Akt vermischen sich dann die Zeiten. Micky Maus als Henker, orthodoxe Juden klettern aus dem US-Paradepanzer und die beiden Gefängniskäfige werden von US-Girls als Tanzkäfige benutzt. Das Volk in wilder Erwartung des Spektakels schwenkt Fahnen und fordert die Hinrichtung der Juden. Nachdem Rachel ihre Aussage widerrufen hatte, wurde Léopold begnadigt, aber verbannt. Die Vermischung der Zeiten ist aus dem Regiekonzept heraus zwar folgerichtig, wirkt auf der Bühne aber nicht so stimmig wie die einzelnen Szenen zuvor. Doch auch hier ist die Personenregie die größte Stärke. Kardinal Brogni erscheint wie nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich gegeißelt hat, neben sich stehend. Die Information, dass seine Tochter noch lebt, hat ihn nachvollziehbarerweise völlig durcheinandergebracht. Auf dem Jahrmarkt des ersten Bildes steht ein Käfig, auf dem ein Mensch sitzt. Wirft man Sandsäcke gegen einen Auslöser, fällt der Sitzende ins Wasser. Im ersten Akt wird Éléazar gezwungen sich dort hinzusetzen, aber kein Wurf trifft und er bleibt – von Léopold gerettet – trocken. Im Finale erscheint diese Gerätschaft wieder, aber mit sprudelndem, kochendem Wasser, in dem Rachel grausam hingerichtet wird. Der Konflikt zwischen Brogni und Éléazar kommt zu seinem Höhepunkt, wenn Éléazar ihm offenbart, dass es Brognis eigene Tochter ist, die soeben getötet wurde. Aber Éléazar triumphiert hier nicht, wie im Libretto vorgegeben, sondern legt seinen Kopf freiwillig auf den Holzklotz des Henkers. Für den erkrankten Zoran Todorovich ist in der besprochenen Aufführung Roy Cornelius Smith eingesprungen, der sich nahtlos in die Inszenierung einfügen, den Éléazar sehr überzeugend darstellen und seine schier unerschöpflichen Kraftreserven unüberhörbar machen konnte. Hailey Clark zeigt die Rachel mit warmen Klängen und Farben auch stimmlich als eine selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will, und die ahnt, was kommen wird. Als jugendlichen Draufgänger spielt und singt Matthew Newlin den Léopold mit schier atemberaubend beweglichem Tenor, sanften und gelegentlich auch sehr kräftigen Tönen. Mercedes Arcuri beglückt mit herrlich leichten Koloraturen als Prinzessin Eudoxie. Als Kardinal Brogni lässt Shavleg Armasi seinen klangvollen Bass ausdrucksstark strömen. Dass er die erste Arie aus einer Fensteröffnung im Hintergrund singt, während um ihn projizierte Putti aufsteigen, ist zwar szenisch effektvoll, man wünscht dem Sänger hier aber doch eine akustisch bessere Positionierung. Den Bürgermeister Ruggiero singt Pavel Chervinsky mit hochkultiviertem, gleichmäßig durchgeformtem und klangschönem Bariton. Dirigent Valtteri Rauhalammi gibt der französischen Grand Opéra das, was sie haben muss – von den großen Chor- und Ensembleszenen bis zu den intimsten Momenten mit allen Varianten dazwischen. Das Orchester folgt ihm konzentriert und engagiert, der Chor bewältigt seine umfangreiche Aufgabe gesanglich wie auch in der individuellen szenischen Einrichtung bravourös. FAZIT
Große Oper, große Gefühle,
großes Bühnenspektakel –
die Elemente einer Grand
Opéra werden mit
intensivster Personenregie
in einer spannenden
Zeitreise zu einer
intensiven
Auseinandersetzung mit den
alten und immer wieder
neuen Konflikten
unterschiedlicher Lebens-
und Glaubensweisen
verbunden. Unterhaltung,
die Tiefgang transportiert
– vielleicht die
angenehmste Form
nachdenklich gemacht zu
werden. Eine gelungene
Produktion, szenisch wie
musikalisch. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamMusikalische LeitungConstantin Trinks *Valtteri Rauhalammi Inszenierung Lydia Steier Bühne und Video (fettfilm) Momme Hinrichs Kostüme Alfred Mayerhofer Chor Lorenzo da Rio Licht Susanne Reinhardt Dramaturgie Martin Mutschler Chor der Staatsoper Hannover Extrachor der Staatsoper Hannover Statisterie der Staatsoper Hannover Niedersächsisches Staatsorchester Hannover |
- Fine -