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Fidelio

Oper in zwei Aufzügen
Libretto von Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke nach Jean-Nicolas Bouilly
Musik von Ludwig van Beethoven


in deutscher Sprache mit Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 50' (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Bonn am 1. Januar 2020
(rezensierte Aufführung: 4. Januar 2020)


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Theater Bonn
(Homepage)

Beethoven 2020: #freethemall

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu

Ein Warnhinweis: Wer eine "normale" Inszenierung des Fidelio erwartet, eine konventionelle szenisch-musikalische Interpretation von Beethovens einziger Oper, der ist hier falsch. Vielmehr will ein "Kommando Beethoven" (so liest man es vor Beginn auf einer riesigen Leinwand) "Öffentlichkeit herstellen für politische Gefangene in der Türkei" (so steht's im Programmheft). Was das mit der Oper zu tun hat? "Getragen von Beethovens Musik soll diese filmische FIDELIO-Werkstatt die Handlung und die befreiende Botschaft der Oper anschaulich und reflektierbar machen". Also doch eine Auseinandersetzung mit dem Werk? Jedenfalls ein sehr stark politisiertes Theater, das Regisseur Volker Lösch und Dramaturg Stefan Schnabel hier veranstalten.

Vergrößerung in neuem Fenster Per Greenscreen-Technologie werden Marzelline (hier: Marie Heeschen) und Jaquino in Bonner Einkaufsparadiese versetzt, während am Tisch rechts Zeitzeugen von ihren Schicksalen berichten

Im Zentrum der Produktion stehen fünf Personen ("Zeitzeugen"), die selbst oder deren Verwandte aufgrund ihrer politischen Gesinnung oder Betätigung in türkischen Gefängnissen saßen oder immer noch inhaftiert sind oder Misshandlungen ausgesetzt waren: Der kurdische Soziologe und Musikproduzent Hakan Akay, dessen Bruder Soydan als PKK-Anhänger zu lebenslanger Haft verurteilt wurde; der Schriftsteller Doğan Akhanlı, mehrfach inhaftiert und gefoltert; Agit Keser, Neffe der wegen Propaganda inhaftierten Sängerin Hozan Cane (die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt); Süleyman Demirtaş, Bruder des inhaftierten Oppositionspolitikers und Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtaş; die Kurdin Dîlan Yazıcıoğlu, deren Vater Opfer eines Anschlags wurde und die sich als Bürgerrechtsaktivistin in Köln engagiert. Sie sitzen mit dem Schauspieler Matthias Kelle, der laut Besetzungszettel den "Regisseur" spielt, an einem Tisch und werden von Kelle nach ihren Geschichten befragt. Auch wenn dieses inszenierte Gespräch mitunter etwas holprig daherkommt, weil es sich unbestimmt irgendwo zwischen "auswendig gelernt" und "improvisiert" bewegt, gehen die Berichte unter die Haut.

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Der Geldschein, auf dem Marzelline und ihr vermeintlicher Bräutigam Fidelio sitzen, wird zum fliegenden Teppich; derweil erklärt Rocco (auf dem Tisch) seine Sicht der vom Geld bestimmten Welt

Manchmal setzen sich die Protagonisten der Oper dazu, werden dann auch direkt befragt und erläutern, was die Figuren gerade antreibt - da hat die Produktion dann etwas von einem Konzeptionsgespräch, durchaus aufschlussreich. Gleichzeitig arbeitet die Regie stark mit der Blueccreen-Technologie (hier in der neueren Greenscreen-Variante): Vor einem grünen Hintergrund werden die Figuren live gefilmt, und alle grünen Elemente verschwinden und können durch andere Hintergründe ersetzt werden (Kobie van Rendsburg hat damit vor Kurzem in seiner Krefelder Zauberflöte allerlei Fantasiewelten geschaffen). So wird Marzelline, auf der Bühne schlendernd, in Bonner Kaufhäuser versetzt: Eine junge Frau im Konsumrausch, die selbstbewusst ihr Recht auf privates Glück formuliert und das Unrecht in der Welt geflissentlich verdrängt. Damit steht sie wohl stellvertretend für den typischen Bonner Opernbesucher, und hier gelingt der Regie tatsächlich das Kunststück, die immer schon problematische Singspielwelt des ersten Aufzugs zu legitimieren, ja: damit den gutbürgerlichen Rahmen zu setzen als Voraussetzung für das weitere Geschehen. Die Figur wird nicht denunziert, aber hinterfragt, und letztendlich muss man als ertappter Zuschauer eine Position dazu finden. Louise Kemény singt und spielt ausgesprochen charmant, eine Sympathieträgerin (was die moralischen Fragen nicht einfacher macht). Ihr Vater Rocco kommt schlechter weg, der typische Mitläufer, Befehlsempfänger, ausführendes Organ, ohne den so großes Unrecht nicht möglich wäre: Einer, der nicht Stellung bezieht. Karl-Heinz Lehner agiert souverän und pointiert, ohne falsche Gemütlichkeit, die Gefährlichkeit der Figur schimmert durch die Harmlosigkeit seiner Geld-Arie durch.

Vergrößerung in neuem Fenster Männerfreundschaft im Bad: Rocco und Erdogan-Pizarro

Den bösen Gouverneur Don Pizarro verzeichnet die Regie plump zur Erdogan-Karikatur mit entblößtem Oberkörper, der mit Rocco in den Badezuber steigt: Ein etwas platter Seitenhieb auf chauvinistische Männerfreundschaften unter den Mächtigen dieser Welt. Aber subtil wollen die Methoden dieser Inszenierung auch gar nicht sein, sie wollen direkt und ohne Umschweife anklagen (und Rocco und Pizarro bekommen sogar kurze Momente der Selbstironie, von den Darstellern dankbar aufgenommen). Mark Morouse ist mit donnernder Stimme eine großartige Besetzung, auch stimmlich imposant und wuchtig. Gegenspielerin Leonore, in einer etwas kitschig geratenen Szene zum fliegenden Engel im roten Abendkleid stilisiert (die Greenscreen-Technik macht's möglich), wird bravourös von Martina Welschenbach gesungen, der man die angekündigte Indisposition nicht anhörte - ein vergleichsweise lyrischer, aber trotzdem durchsetzungsfähiger, immer klangschön geführter Sopran. Frappierend gelingt die schnelle Verwandlung von der sehr attraktiven Blondine in den burschikosen Hilfspolizisten, der glaubhaft als Mann durchgeht. Obwohl die Regie in keinem Moment Illusionstheater schaffen will und ihre technischen Mittel permanent überdeutlich vor Augen führt, ist dieser Coup glaubwürdiger als in fast allen herkömmlichen Inszenierungen.

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Grün (wie hier die Anzüge und Gesichtsschminke der Gefangenen) ist für die Kamera in der Greenscreen-Technik unsichtbar - so wie die aus politischen Gründen in der Türkei Inhaftierten für die deutsche Öffentlichkeit unsichtbar sind, so die Metaphorik der Regie.

Lösch widersteht der Versuchung, die Handlung des zweiten Aktes allzu konkret in ein türkisches Gefängnis zu verlegen. Ein paar Videosequenzen auf der fast allgegenwärtigen Leinwand stellen den Gegenwartsbezug her, aber die Greenscreen-Technologie erhält hier eine neue Bedeutung: Die in grün gekleideten und grün geschminkten Gefangenen sind für die Kamera unsichtbar - so wie die Inhaftierten in der Türkei von der deutschen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden. Wenn sie sich abschminken (im Grunde eine Zumutung, wenn das teilweise während des Singens geschieht, aber Tenor Thomas Mohr in der Partie des Florestan lässt sich davon nicht irritieren), dann werden sie sichtbar, vom Publikum und damit von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Thomas Mohr alias Florestan erklärt gegenüber dem Regisseur-Moderator Matthias Krelle, er werde seit zwei Jahren in Isolationshaft gehalten, was sich in etwa aus dem Libretto ableiten lässt. Auch hier muss man konstatieren: So pointiert hat man das vermutlich noch nie inszeniert bekommen. Stimmlich hat Thomas Mohr mit der ersten Arie so seine Probleme; die Stimme muss ziemlich lange suchen, bis sie den richtigen Ton für die ersten Worte "Gott, welch' Dunkel hier" gefunden hat, und über den hysterisch-verzweifelten poco-allegro-Schluss "in's himmlische Reich" singt er hastig hinweg, denn da liegen die Spitzentöne wohl doch arg hoch. In anderen Passagen klingt die nicht mehr ganz junge Stimme edel, nicht zu heldenhaft schwer, und Mohr bewältigt die Partie gesanglich schön und insgesamt sehr ordentlich.

Vergrößerung in neuem Fenster Florestan (in grün) wird, stellvertretend für alle unschuldig in der Türkei Inhaftierten, von den Zeitzeugen getragen: (von links) Doğan Akhanlı, Hakan Akay, Agît Keser und Süleyman Demirtaş

Allzu leicht wird der Fidelio zur Freiheitsoper, mitunter gar zur Revolutionsoper hochstilisiert - dabei bleibt das Herrschaftssystem intakt. Der Böse ist Einzeltäter, die Rettung kommt, in Gestalt des Ministers (solide: Martin Tzonev), vom Staat. Wenn aber der Bösewicht wie hier mit Erdogan-Pizarro bereits der mächtigste Mann im Staat ist? Dann muss die Rettung aus dem Volk, aus der Bürgergesellschaft als höchste Instanz kommen. Folglich stellt sich der Minister mitten ins Publikum, raffinierterweise mit grüner Jacke, sodass er quasi unsichtbar wird und man zu seinen Worten das Opernpublikum auf der Leinwand sieht. Wir sind es, die Rettung bringen müssen. Passend dazu wird das befreiende Trompetensignal vom Balkon aus gespielt (Kompliment für den namentlich nicht genannten Solisten). Das Chorfinale, keine neue Lösung, wird mehr oder weniger konzertant gegeben, und das krude Loblied auf die Gattenliebe (das ja eher banal die bürgerlichen Wertevorstellungen über das hehre Freiheitsideal setzt) wird ganz nebensächlich abgehandelt. So genau achtet man ohnehin nicht darauf, denn gleichzeitig wird das Publikum über die Leinwand aufgefordert, ganz konkret aktiv zu werden: Mit Postkarten an inhaftierte politische Gefangene (solche Karten liegen dann auch im Foyer aus), mit Protestschreiben an die Bundeskanzlerin und den Außenminister. Musterbriefe und weitere Informationen stehen, ziemlich versteckt allerdings, auf der Website des Theaters (link).

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Finale mit politischer Botschaft (in der Mitte Matthias Kelle als "Regisseur").

Das mitunter leider reichlich unpräzise Beethoven-Orchester spielt unter der Leitung von Dirk Kaftan einen kantigen Beethoven, mit scharf und pointiert artikulierenden Bläser und prägnanter Pauke, während die Streicher eher zurückgenommen sind - das akzentuiert die Nähe zu den am Beginn des 19. Jahrhunderts im Nachklang der französischen Revolution populären Militärmusiken. Die Ouvertüre wird bildlich begleitet (und in den Bildwechseln sehr genau rhythmisiert) vom Wechsel von Landschaftsszenen und Nachrichtenbildern - schon da wird das Spannungsfeld zwischen dem Konsumieren der "schönen" Türkei mit ihren landschaftlichen Reizen und der politischen Wirklichkeit hervorgehoben, aber auch mit Bildern aus der deutschen Flüchtlingspolitik (etwa Merkel und Erdogan bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, aber mit größtmöglicher Distanz) unterlegt.

Inhaltlich geht das Konzept von Volker Lösch durchaus auf. Sicher kann man der Produktion vorwerfen, Beethoven zu instrumentalisieren; manches ist allzu platt geraten (und dennoch wird die Regie besser mit den Schwierigkeiten des Werkes fertig als die allermeisten anderen Inszenierungen); sicher hat die Oper als Diskurstheater ihre Grenzen; sicher muss sich die Musik letztendlich unterordnen. Aber mit solchen Einwänden wird man dem Ansatz nicht gerecht, eben keinen "normalen" Beethoven zeigen zu wollen, sondern mit Beethoven gezielt zu politisieren. Natürlich gab es in der hier besprochenen zweiten Aufführung ein paar Proteste, aber gefühlte 90 Prozent der Besucher erhoben sich sofort nach dem Schlusston zu stehenden Ovationen. Ein couragiertes Theater kommt offensichtlich an bei der überwiegenden Mehrheit, darunter übrigens, ein schöner Nebeneffekt, ungewöhnlich viele erkennbar türkischstämmige Menschen. Wir empfehlen: Schnell Karten besorgen, denn die weiteren Aufführungen sind schon jetzt weitgehend ausverkauft.


FAZIT

Ein Paukenschlag zum Auftakt des Beethoven-Jahres: Fidelio als agitatorisches Polit-Theater mit konkreter Handlungsanweisung - natürlich streit- und angreifbar, aber versäumen sollte man die spannende Produktion auf hohem musikalischem Niveau auf gar keinen Fall.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Dirk Kaftan

Inszenierung
Volker Lösch

Bühne
Carola Reuther

Kostüme
Alissa Kolbusch

Videodesign
Christopher Kondek
Ruth Stoffer

Licht
Max Karbe

Chor
Marco Medved

Dramaturgie
Stefan Schnabel
Bernhard Helmich


Statisterie des Theater Bonn

Chor und Extrachor
des Theater Bonn

Beethoven Orchester Bonn


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Rocco, Kerkermeister
* Karl-Heinz Lehner /
Tobias Schabel

Don Fernando, Minister
Martin Tzonev

Don Pizarro, Governeur
Mark Morouse

Florestan, Gefangener
Thomas Mohr

Leonore, seine Gemahlin
Martina Welschenbach

Marzelline, Roccos Tochter
Marie Heeschen /
* Louise Kemény

Jaquino, Pförtner
Kieran Carell

Erster Gefangener
Jonghoon You /
* Jae Hoon Jung

Zweiter Gefangener
Enrico Döring /
* Nicholas Probst

Regisseur
Matthias Kelle

Kameramann
Krzystof Honowski /
Rikisaburo Sato /
Chantal Bergemann

Zeitzeugen
Hakan Akay
Doğan Akhanlı
Süleyman Demirtaş
Agît Keser
Dîlan Yazıcıoğlu



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