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Les Bienveillantes
(Die Wohlgesinnten)


Oper für Solisten, Vokalquartett, Chor und großes Orchester
Libretto von Händl Klaus nach dem gleichnamigen Roman von Jonathan Littell
Musik von Hèctor Parra


In deutscher Sprache mit flämischen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h (eine Pause)

Koproduktion mit dem Staatstheater Nürnberg und dem Teatro Real Madrid
Uraufführung an der Vlaamse Opera in Antwerpen am 24. April 2019


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Vlaamse Opera
(Homepage)
Tief ist die Jauchegrube der Vergangenheit

Von Roberto Becker / Fotos Annemie Augustijns © Opera Ballet Vlaanderen


"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" So leitet Thomas Mann sein biblisches Erinnerungsprojekt über Joseph und seine Brüder ein. Sollte man ihn auch ergründen und in ihn eintauchen, wenn er eine Kloake ist? Jonathan Littell hat die Frage mit "Ja - muss man" beantwortet und den Roman Die Wohlgesinnten geschrieben. Ein 1400 Seiten dickes Aufregerbuch. Weil darin den exemplarischen Zivilisationsbruch des Holocaust, der kurz vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf das Konto der Deutschen geht, aus der Perspektive eines Täters verhandelt wird. Eines Mannes, der davongekommen ist, ohne sich für seine aktive Zeit bei der SS und ihren Sondereinsatzkommandos verantworten zu müssen. Und der dem Grauen auf voyeuristische, manche sagen: pornographische Weise so nahe kommt, dass nicht nur ihm davon gelegentlich übel wird.

Vergrößerung in neuem Fenster Max Aue erinnert sich - ein Verhör der besonderen Art

Aviel Cahn, der Intendant der Flämischen Zweistädteoper Antwerpen-Gent, hat Händl Klaus (*1969) und Hector Parra (*1976) den Auftrag zur Oper Les Bienveillantes (der Roman ist unter diesem französischen Originaltitel 2006 erschienen) erteilt. Den in Sachen Libretto erfahrenen Österreicher und den katalanischen Komponisten. Dazu den vor allem in Deutschland erfolgreichen, ebenfalls katalanischen Regisseur Calixto Bieito. Der hat seine wilden Jahre, in denen er mit Schockrealismus für einige Tumulte (wie in Berlin mit seiner Entführung aus dem Serail an der Komischen Oper) gesorgt hatte, längst hinter sich. Hat aber nicht vergessen, dass viele seinen Namen mit dem Einsatz von Theatersurrogaten diverser Körperflüssigkeiten verbinden. Der anfangs klinisch reine Raum, den Rebecca Ringst als Einheitsbühnenbild nur mit Neonröhren, Tisch, Stuhl und Türen in den weißen Wänden ausgestattet hat, sieht am Ende ziemlich eingesaut aus.

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Sie graben ihre Gruben selbst - Bieito findet Bilder jenseits realistischer Schockbilder

Der dunkle Anti-Held sitzt im ersten und im letzten Bild des langen, anstrengenden und über drei Stunden währenden Abends mit weißem Hemd am Tisch. Beim zweiten Mal ist er gerade frisch geduscht und wieder sauber. Splitternackt auf offener Bühne. Banaler und direkter kann man Reinwaschen gar nicht übersetzen. Obwohl er das eigentlich gar nicht macht. Weil er sich gar nicht für schuldig hält. Jedenfalls nicht so, wie er es in den Augen der Nachgeborenen sollte.

Vergrößerung in neuem Fenster Links der Mord an der Mutter, rechts die Schwester und in der Mitte deren Zwillinge

Dieser erfundene Dr. Maximilian Aue hält sich selbst wohl allenfalls für einen Beobachter, der hier und da sogar Schlimmeres verhindert hat, der "Gnadenschüsse" auf noch lebende Menschen in einer Gruber voller Leichen für einen Akt der Menschlichkeit hält. "Seien sie lieb zu dem Kind", sagt er zu einem Soldaten, dem er ein kleines Mädchen übergibt, das ihn gerade nach seiner Mutter gefragt hatte. Die Sequenz endet mit dem Satz: "die Stadt war judenrein". Die Konfrontation mit dieser Art von zynischer Pseudoempathie ist das, was den Text so aufregend unbehaglich und provozierend macht. Oder das Spiel mit der Nacktheit jener jungen Frau, die auf den Tisch in der Mitte der Bühne gestellt wird und dort wie in der Position einer am Handgelenk Erhängten verharrt, während die umstehenden Männer, aber auch Frauen, allesamt im bürgerlichen Zivil (Kostüme: Ingo Krügler) sie küssen oder begrapschen. Das ist jene alltägliche Ebene des Tabu- bzw. banalen Zivilisationsbruchs, die dazu führte, dass in vielen deutschen Städten nach dem "Abtransport" von Juden deren Hausrat gleich im Treppenhaus an die unmittelbaren Nachbarn verscherbelt wurde.

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Bieito, wie man ihn (von früher) kennt: Der Abgrund der Erinnerung - eine Kloake

Diese fast schon subtilen Assoziation werden freilich von der Wucht der Musik Parras meist überlagert. Hier herrscht der große Ton vor, der Ruhe zerstören, in Gewissheiten einbrechen und dräuend herrschen will. Bei Peter Rundel wird das fabelhafte Symphonische Orchester der Flämischen Oper gelegentlich mit elektronischen Zugaben verstärkt, zur Waffe gegen jede Gewissheit des schönen Klangs. In der Wucht der Orchesterfurors aber auch im Parlando, das den deutsch gesungenen Text grundiert. Dass die Oper, wie schon der Roman, der Gliederung einer barocken Tanzsuite folgt, die sieben Bilder mit Toccata, Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue überschrieben sind, und dass der - wie Parra selbst sagt - Geist der Johannespassion für ihn inspirierend war, verheißt keineswegs Erbauliches. Händl Klaus hat jedenfalls kreativ destilliert, Parra großformatig vertont. Das die persönliche Komponente der inzestuösen Beziehung von Max (hoch intensiv: Peter Tantsits) zu seiner Schwester Una (Rachel Harnisch ist die mit Ariosem privilegierte Vertreterin der Welt außerhalb des Nazi-Universums) und der Mord an der Mutter (grandios: Natascha Petrinsky) und ihrem Mann das Geschehen oft dominieren, mag daran liegen, dass diese Komponente einfach opernaffiner ist, als die Reise zu den realen Orten des Holocaust.


FAZIT

Die Oper nach Jonathan Littells kontrovers diskutierter Roman erlebt an der Flämischen Oper in Antwerpen eine eindrucksvolle Uraufführung.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Peter Rundel

Regie
Calixto Bieito

Bühne
Rebecca Ringst

Kostüme
Ingo Krügler

Licht
Michael Bauer

Chor
Jan Schweiger

Dramaturgie
Luc Joosten



Chor und Orchester der
Opera Vlaanderen


Solisten

Maximilian Aue
Peter Tantsits

Una Moreau, Schwester
Rachel Harnisch

Héloïse Aue, Mutter
Natascha Petrinsky

Aristide Moreau
David Alegret

Dr. Mandelbrod /Grafhorst /Kaltenbrunner
Gianluca Zampieri

Thomas Hauser
Günter Papendell

Kommissar Clemens/Hafner/Hauptmann 1
Michael J. Scott

Kommissar Weser/Hartl/Ober/Bierkamp/Hauptmann 2
Donald Thomson

Blobel/ Hohenegg/Organist
Claudio Otelli

Hilde/Frau 1
Hanne Roos

Helga/Frau 2
Maria Fiselier

Hans/Mann/Russe
Kris Belligh

Hedwig
Sandra Paelinck

Schupo
Erik Dello

Schupo
Dejan Toshev

Schupo
Mark Gough



Weitere Informationen
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Vlaamse Opera



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