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Labyrinth der Verwirrung Von Thomas Molke / Fotos: © Claudia Scheer van Erp
Opernintendant Berthold Schneider liebt im Bereich des Musiktheaters
Experimente. So hat er seine Intendanz in Wuppertal vor einer Spielzeit nicht
nur mit der Video-Oper Three Tales von Steve Reich eröffnet, bei der das
Publikum mitten im Geschehen auf der Bühne saß (siehe auch
unsere Rezension),
sondern auch zu Beginn der aktuellen Spielzeit den dritten Akt von Richard Wagners
Götterdämmerung mit Heiner Goebbels' Orchesterzyklus Surrogate Cities
kombiniert (siehe auch unsere Rezension).
Nun gibt es ein weiteres "besonderes" Musiktheaterprojekt, bei dem sich die
Zuschauer erneut auf der Bühne aufhalten. Als Steigerung kommt hinzu, dass man
die Aufführung nicht nur live verfolgen kann, sondern auch noch mit einem
Smartphone oder Tablet, auf das man sich vorher eine besondere App herunterladen
muss, über die man in verschiedenen Kameraperspektiven das Geschehen auf der
Bühne verfolgen kann. Damit will man wohl der fortschreitenden Digitalisierung
unserer Gesellschaft Rechnung tragen und sich absolut modern präsentieren. Ob
man dadurch jedoch neue Zuschauer ins Opernhaus locken kann, ist fraglich.
Größer ist wahrscheinlich das Risiko, langjährige Besucher mit solchen Projekten
zu vergraulen. Immerhin gibt es für die Zuschauer, die sich aus
Sicherheitsgründen eine derartige App nicht auf ihr privates Tablet
herunterladen wollen oder die sich einfach diesem technischen Fortschritt
verweigert haben, die Möglichkeit, ein Tablet im Opernhaus auszuleihen, und am
Einlass stehen auch freundliche Mitarbeiter, die bei Schwierigkeiten mit der
Technik helfen.
Alcinas Zauberinsel als Labyrinth
Als Stück ist eine absolute Barockrarität ausgewählt worden, die von der ersten
Opernkomponistin der Geschichte stammt: Francesca Caccini. Caccini, die
liebevoll "La Cecchina", das Singvögelchen, genannt wurde, gelang es im 17.
Jahrhundert, fast vier Jahrzehnte als freischaffende und hochbezahlte Musikerin
tätig zu sein. Dank der politischen Situation in der Toscana - hier hielten
nämlich Christina von Lothringen und ihre Schwiegertochter Maria Magdalena die
Zügel in der Hand und führten die Gegend durch eine fast 30 Jahre währende
Periode des Friedens und Wohlstands - konnte Caccini am Hof das Frauenensemble
"Le cantatrici de Pitti" leiten. In dieser Zeit soll sie insgesamt sieben
Bühnenwerke komponiert haben, von denen jedoch nur La liberazione di Ruggiero
dall'isola d'Alcina erhalten ist. Die Oper wurde am 3. Februar 1625 zur
Einweihung des Poggio Imperiale uraufgeführt und kann auch als eine Art
Machtdemonstration der amtierenden Großherzogin Maria Magdalena verstanden
werden, da eine fiktionale Welt gezeigt wird, in der größtenteils Frauen die
handelnden Personen sind. Im letzten Jahr war dieses Werk zum einen
bei den Internationalen Maifestspielen im Foyer des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und konzertant bei den Tagen Alter Musik in Herne
zu erleben (siehe auch
unsere Rezension).
Alcina (Ralitsa Ralinova) kann man in ihrem Reich
zunächst nur über eine App sehen.
Wie Händels Meisterwerk Alcina greift das Stück auf das berühmte Versepos
Orlando furioso von Ludovico Ariosto zurück und handelt von dem
Sarazenenritter Ruggiero, der auf der Insel der orientalischen Zauberin Alcina
strandet und sich durch Einsatz von Magie in sie verliebt. Seine Verlobte
Bradamante, mit der er eigentlich das Haus Este in Ferrara gründen soll, taucht
aber anders als bei Händel hier nicht auf, sondern schickt ihre Vertraute
Melissa, bei der es sich ebenfalls um eine Zauberin handelt, in Alcinas Reich,
um Ruggiero zu finden und zurückzubringen. Melissa gelingt es, Alcinas Zauber zu
zerstören und Ruggiero wieder zur Vernunft zu bringen. Dazu verwandelt sie sich
unter anderem auch in seinen Erzieher Atlas. Die früheren Liebhaber Alcinas, die
in Pflanzen verwandelt worden sind, werden ebenso befreit wie die Damen, die
ihre Freiheit für die ihres Geliebten opfern wollten und dafür von Alcina
versteinert wurden. Alcina schwört mit ihren höllischen Verbündeten Rache, doch
sie wird von Melissa in die Flucht geschlagen. Ein gewaltiges Meeresungeheuer
trägt Alcina davon, während Melissa und die befreiten Paare den Wert der Tugend
preisen.
Verloren in Alcinas Reich: Ruggiero (Simon
Stricker)
Von alldem versteht man in der Inszenierung des Musiktheaterkollektivs AGORA,
das sich unter dem Impuls von Benjamin David 2015 zusammengeschlossen hat, nicht
allzu viel ohne Tablet oder Smartphone. Die Handlung ist nämlich genauso wie die
Übertitel nur digital abrufbar. Da man die singenden Künstlerinnen und Künstler
teilweise nicht sieht, weiß man selbst mit Tablet nicht immer, wer gerade singt
oder was gerade passiert. Dann gibt es bei der Übertragung der Übertitel auf dem
Tablet bisweilen ebenfalls Probleme, so dass auch dadurch erschwert wird, der
Handlung zu folgen. Während die Zuschauer zu Beginn noch verstreut im
Zuschauerraum sitzen, tritt Sangmin Jeon im Prolog auf und lädt gemeinsam mit
Mark-Bowman-Hester zur Betrachtung der folgenden Geschichte ein. Im Original
handelt es sich dabei um den Meeresgott Neptun und den Fluss Weichsel. Die
Zuschauer werden nun aufgefordert über einen schwarzen Steg die Bühne zu
betreten. Der Bühnenboden ist in der Mitte herabgelassen, und man blickt in ein
Labyrinth von schwarzen Vorhängen. Irgendwo sieht man dunkle Gestalten mit
schwarzen Federn herumhuschen. In der Mitte liegt Simon Stricker als träumender
Ritter Ruggiero. Dann wird der Bühnenboden hochgefahren. Von nun an können die
Zuschauer durch das Labyrinth laufen und die Bühne selbst erkunden. Das mag
witzig gedacht sein, funktioniert aber nicht wirklich, weil es einfach zu voll
ist und man nie weiß, wo man eigentlich hinlaufen soll, um das jeweilige
Geschehen nicht nur über den Bildschirm betrachten zu können. Die Bilder auf den
Tablets sind nämlich nicht gerade von einer guten Qualität und obendrein auch
noch leicht zeitversetzt, so dass der Gesang der Solisten erklingt, bevor sich
auf dem Bildschirm die Lippen bewegen.
Melissa (Joyce Tripiciano) versucht, Alcinas
Reich zu zerstören.
Durch das ganze Gerenne auf der Bühne und den ständig suchenden Blick auf das
Tablet bekommt man von der eigentlichen Geschichte nur noch wenig mit. Wenn man
Pech hat, wird man auch noch mit schwarzen Fuseln überschüttet, die sich nicht
nur auf sondern auch unter der Kleidung unangenehm festsetzen. Wer nicht eine
Stunde stehen oder durch das Labyrinth laufen will, kann sich auf einen der
wenigen Plätze am Bühnenrand setzen, dürfte aber Schwierigkeiten haben, von da
aus dem Geschehen zu folgen, und fragt sich vielleicht, ob eine DVD vor dem
heimischen Bildschirm nicht bequemer und verständlicher gewesen wäre. Selbst
wenn man sich auf das Experiment einlässt, bleibt die Frage, wieso Alcina in
diesem Labyrinth nicht zu finden ist, obwohl man ihre Stimme auf der Bühne hört.
Auf dem Bildschirm sieht es so aus, als ob sie ebenfalls irgendwo in dem
Labyrinth umherirrt. Dies scheint aber ein abgesperrter Bereich hinter dem
Orchester zu sein. Erst wenn ganz am Ende das Labyrinth in den Schnürboden
emporgezogen wird, betritt sie die leere Bühne und muss sich eingestehen, dass sie
ihre Zauberkraft verloren hat. Der Chor sitzt nun im Publikum und applaudiert
den Zuschauern auf der Bühne, vielleicht dafür, dass sie das über eine Stunde
lang ausgehalten haben.
Dabei lässt der Abend musikalisch keine Wünsche offen. Clemens Flick taucht mit
dem Sinfonieorchester Wuppertal in eine wunderbar barocke Klangwelt ein.
Vielleicht hätte man sich einfach die ganze Zeit vor dem Orchester platzieren
sollen, denn musikalisch hat das Werk sehr schöne Passagen zu bieten. Ralitsa
Ralinova stattet die Zauberin Alcina mit einem leuchtenden Sopran aus und setzt
mit großartiger Mimik, die auf dem Bildschirm in Großaufnahme zu erkennen ist,
Akzente. Stimmlich und darstellerisch arbeitet sie die Verführungskünste der
Zauberin genauso überzeugend heraus wie das Leid und die Verzweiflung, wenn sie
erkennen muss, dass sie ihrer Rivalin Melissa im Kampf um Ruggiero unterliegt.
Ein musikalischer Höhepunkt ist ihr großes Lamento "Ahi, Melissa, Melissa", in
dem sie einen letzten Versuch unternimmt, Ruggiero zurückzugewinnen. Joyce
Tripiciano hält als Alcinas Gegenspielerin Melissa mit dunklem Mezzosopran und
flexibler Stimmführung dagegen und macht deutlich, dass ihre Macht der Alcinas
überlegen ist. Simon Stricker überzeugt als Ruggiero mit kräftigem Bariton. Nina
Koufochristou als 1. Damigella und der von Markus Baisch einstudierte Chor
runden den Abend zumindest musikalisch überzeugend ab, so dass man sich fast
umso mehr wünscht, das Stück wäre nur konzertant vorgestellt worden, da die
begehbare Inszenierung von dem musikalischen Glanz ablenkt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Regie
Mitarbeit Regie Bühne und Kostüme Chor Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Chor der Wuppertaler Bühnen Statisterie der SolistenAlcina / Dama Disincantata Ruggiero Melissa Nettuno / Pastore Vistula 1. Damigella
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Sirena / Nunzia Damigelle
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- Fine -