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Ein Märchenspiel aus dem Stoff der harten RealitätVon Christoph Wurzel / Fotos: © Thomas AurinNach seiner 2016 an der Oper Stuttgart enthusiastisch gefeierten Inszenierung der Richard-Strauss-Oper Salome versprach ein neuer Regieauftrag an den russischen Theatermacher Kirill Serebrennikov für Humperdincks Hänsel und Gretel eine weitere künstlerisch außergewöhnliche Opernproduktion in Stuttgart zu werden, auf die sich die Blicke der interessierten Opernwelt mit Sicherheit richten würden. Plakat: Ariana Gatesi und David Niyomugabo als Hauptdarsteller im Film für die Neuproduktion von Hänsel und Gretel in Stuttgart Völlig unfreiwillig erregte dann dieses Projekt allerdings große Aufmerksamkeit aus ganz anderen, nämlich politischen Gründen, denn kurz vor der Aufnahme der Proben für die auf den 22. Oktober 2017 angesetzte Premiere wurde Serebrennikov in Moskau von der Justiz unter Hausarrest gestellt und ihm weitere künstlerische Tätigkeit vorerst untersagt. Die Oper Stuttgart entschloss sich dennoch die Produktion herauszubringen und den Premierentermin beizubehalten, da ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung bereits (zum größten Teil) vorhanden war, ein Film über zwei Kinder aus Afrika, die das Schicksal der Humperdinckschen Märchenfiguren nacherleben. Nur die Dramaturgie der eigentlichen Opernhandlung, das Bühnenbild und die Kostüme, die Serebrennikov ebenfalls entwerfen sollte, konnten nicht fertig gestellt werden. Dieses unfertige Material wurde gelagert und steht so nach erhoffter Freilassung des Regisseurs für eine Weiterentwicklung der Produktion im Rahmen einer Wiederaufnahme zur Verfügung, denn so die Zusage der Stuttgarter Intendanz: Kein anderer als Serebrennikov kann und darf Hänsel und Gretel vollenden. In solidarischer Einigkeit wird diese Haltung vom gesamten Produktionsteam mitgetragen und auch von der Landesregierung Baden-Württembergs unterstützt, die damit ein klares Statement abgibt und mit Blick auf das Verhalten der russischen Behörden betont: „Um die Freiheit der Kunst muss immer wieder aufs Neue gerungen werden“. So war bei der Premiere erst einmal nur das vorläufige Fragment einer Operninszenierung zu erleben, gleichzeitig aber dokumentierte sie den Willen, dass Kunst sich nicht vor Bevormundung und Repression zu beugen bereit ist. Zudem war dieser Abend ein besonders schlagkräftiger Beweis, dass die Kunstform Oper keine museale Angelegenheit bleiben muss, sondern sehr vital ihre Stimme zu brennenden Fragen der Gegenwart in diesem Fall auf beklemmende Weise zu erheben und nicht zuletzt dazu Position zu beziehen vermag. Denn von diesem Abend ging auch ein deutliches Signal der Solidarität mit Kirill Srebrennikov aus: „Free Kirill“ steht auf den T-Shirts, die zahlreiche Mitwirkende und auch mancher im Publikum am Premierenabend getragen hat. Der Regisseur Gretel-Sängerin Esther Dierkes zeigt Solidarität mit Serebrennikov: „Free Kirill“; im Hintergrund das Orchester unter der Leitung von Georg Fritzsch Kirill Srebrennikov gehört als Leiter des Moskauer Gogol-Zentrums, einem Theaterlabor, das Schauspiel-, Film- und Musikprojekte miteinander verbindet, zu den führenden Vertretern der zwar schmalen aber sehr erfolgreichen freien Kulturszene in Russland. Seine Inszenierungen und Filmarbeiten sind ebenso erfolgreich in Russland gezeigt worden wie auch auf zahlreichen Festivals in Westeuropa wie Aix-en-Provence oder Cannes. Trotz hoher Eintrittspreise sind die Vorstellungen des Gogol-Zentrums nahezu ausverkauft - und wie dessen Dramaturg Valery Pecheikin auf der Podiumsdiskussion zur Situation der Kunst in Russland berichtete, die dem Premierenabend in Stuttgart vorausging: Das Publikum kommt seit der Festsetzung Serebrennikovs umso zahlreicher. In diesem Erfolg einer innovativ kritischen künstlerischen Arbeit liegt offenbar eine Erklärung, warum Serebrennikov, der kein politischer Dissident ist, ins Visier der Staatsmacht geraten ist. Auf der Podiumsdiskussion berichteten die russische Theaterkritikerin Marina Davydova und der im Berliner Exil lebende Komponist Sergeij Newski von einem Kulturkampf, der die gegenwärtige russische Gesellschaft prägt, ein Kampf zwischen den reaktionären Kräften eines rückwärtsgewandten Klerikalismus, eines glorifizierenden Zarismus, militanter Homophobie und in Teilen totalitären Denkens einerseits gegen jede Form sich als liberal und demokratisch verstehender Kultur andererseits. Gerade in diesen Tagen manifestiert sich dieser Konflikt an der heftig bekämpften Aufführung eines Films, in welchem eine historisch verbürgte Liebesaffäre des letzten von der orthodoxen Kirche heilig gesprochenen Zaren mit einer Tänzerin des Petersburger Balletts thematisiert wird.
Marina Davydova berichtete, dass es in Russland zwar keine
ausdrückliche Zensur gebe, aber sehr wohl über die Vergabe von
Fördergeldern indirekt Zensur ausgeübt werde. So
sei auch der Vorwurf der Unterschlagung derartiger Gelder an
Sereberennikov zu erklären, der eben zur willkürlichen Konstruktion
eines Straftatbestandes geführt habe, obwohl dieser jeder realen
Grundlage entbehre. Serebrennikovs Arbeit sei ein Dorn im Auge
mächtiger Fürsprecher eines kulturellen Rollbacks in Russland, für den
vor allem der Kulturminister Medinski stehe sowie der Oligarch
Malofejew, dem übrigens intensive Kontakte zur AfD nachgesagt werden.
Putin selbst scheine weniger Interesse an Serebrennikov zu haben, habe
aber offensichtlich den reaktionären Kräften in Russland ein Opfer
ermöglichen wollen.
Der Film Den Film, der die szenische Opernhandlung nahezu vollständig begleiten sollte, hatte Serebrennikov in diesem Frühjahr in Ruanda mit dort gecasteten Laiendarstellern gedreht. Darin wird in anderem Umfeld zwar, aber mit den gleichen Motiven (wenn auch etwas anderen Akzenten) die Geschichte der Oper nacherzählt. Es sollte offenbar eine Art Parallelhandlung werden. Hier wie dort geht es um Armut, die sich selbstredend in Afrika anders darstellt und den Focus mehr auf gesellschaftliche Strukturen legt. So versäuft der afrikanische Vater das sauer verdiente Geld lieber mit seinen Kumpeln, statt es der heftig protestierenden Frau für die Familie herzugeben. Peter, der Besenbilder, aus Humperdincks Textbuch dagegen scheint sich („Hunger ist der beste Koch!“) ziemlich betulich mit der Armut abgefunden zu haben, wenn auch gelegentliche Einnahmen über die missliche Lage hinwegtrösten. Verjagt werden die Kinder in beiden Fällen vom groben Auftreten der Mutter. Im Film flüchten die Kinder versteckt unter der Plane eines Kleinlasters in einen städtischen Slum, wo ihnen erst recht die Ärmlichkeit ihrer Umwelt begegnet. Bis ihnen dann eine surreal abstruse Figur (Sandmännchen) die Gesichter weiß schminkt und ihnen dadurch den Traum von Europa, vielleicht eine Sehnsucht danach, eingibt. Zum „Abendsegen“ erscheinen die vierzehn Engel des Operntextes als afrikanische Masken und gleichzeitig zahlreiche Fotos von afrikanischen Menschen, die man nur als Erinnerungen an die endlosen Opfer der Migrationswege quer durch den Kontinent über das Mittelmeer nach Europa interpretieren kann. Zum dritten Bild („Knusperhäuschen“) finden die Kinder sich auf dem Stuttgarter Flughafen wieder, irren staunend umher und begegnen dort ironischerweise als erstem Menschen einer afrikanischen Putzfrau, die sie erst einmal ihre weißen Gesichter abwischen lässt. Eine Odyssee führt sie durch die Kaufhäuser der Stuttgarter Konsumwelt, bis sie schließlich in einer Konditorei von den ausgestellten Kuchen naschen. Doch mit dem Erscheinen der Hexe in der Opernhandlung bricht der Film - und zwar völlig berechtigt- ab und das Publikum erlebt die Zauberszene der Knusperhexe als eine wilde Verfolgungsjagd, die allein von den Rollenträgern der Opernhandlung bestritten wird. Brutal und beklemmend realistisch fuhrwerkt Daniel Kluge in der Hexen-Rolle zusammen mit üblen, vermummten Gestalten über die Bühne, eine Person zeichnet dieses pogromartige Geschehen mit der Camera auf. Assoziationen an rechtsradikale Hatz auf Migranten liegen da ebenso nahe wie an Polizeiwillkür, wie sie Kirill Srebrennikov nach Zeugenaussagen bei seiner Verhaftung in Moskau erlebt hat. Pogromstimmung am Hexenhaus (Ensemble und Orchester) Zum letztlich guten Schluss führt die Inszenierung Kunst und Realität in berührender Weise zusammen: die beiden Kinder aus Afrika erleben die Erlösung der „Kuchenkinder“ aus der Märchenoper von der Königsloge des Stuttgarter Opernhauses aus mit und ihr Traum vom besseren Leben in Europa, der in Wahrheit ein Alptraum war, löst sich in diesem Fall zu Recht in Wohlgefallen auf. Beruhigt können die Kinder in ihre afrikanische Heimat zurückkehren. Uns aber bleiben offene Fragen genug über all das Gesehene zurück.
Die Produktion Georg Fritzsch leitet von ungewohnter Position das musikalische Geschehen umsichtig und ohne nennenswerte Einbußen. Der Orchesterklang kommt schlank und transparent und ohne den pathetischen Weihrauch der stark von Richard Wagner beeinflussten Partitur. FAZIT
Als Experiment bezeichnete Intendant Jossi Wieler diese
ungewöhnliche Premiere, als ein Experiment, das ebenso gelingen wie
scheitern könnte. Als gescheitert wird man es ansehen, wenn man eine
Operninszenierung im üblichen, vielleicht musealen Sinne erwartet. Als
gelungen muss man es bezeichnen, wenn man Oper als lebendige Kunst
begreift, die sich gegenüber der sozialen und politischen Realität
öffnet, aber vor allem auch weil diese Premiere ein eindrucksvolles
Zeichen gegen die Zensur der Kunst und für die Solidarität mit
bedrohten Künstlern war. Es versteht sich von selbst, dass alle Mitwirkenden mit großer
Begeisterung gefeiert wurden und die sympathischen Kinderdarsteller aus
Afrika sogar mit bewegend starken stehenden Ovationen. |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Video
Dramaturgie
Licht
Leitung Kinderchor
Filmregie
Kamera
Schnitt
Filmdramaturgie
Produzent
Staatsorchester Stuttgart
Gesangssolisten
Peter, Besenbinder
Gertrud, sein Weib
Hänsel
Gretel
Knusperhexe
Sandmännchen / Taumännchen
Darsteller im Film
Hänsel
Vater
Mutter
Sandmann
Taumännchen
Männlein im Walde
Inanga-Musiker
Barfrau
Über die Dreharbeiten zu Serebrennikovs Film
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- Fine -