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Wenn Gewissheiten wanken
Von Roberto Becker / Fotos © A. T. Schaefer An der Oper in Stuttgart geht eine Ära zu Ende. Jossi Wieler und sein künstlerischer Langzeitpartner als Dramaturg und Mit-Regisseur Sergio Morabito verlassen Stuttgart. Vor allem die beiden haben das Haus in den letzten Jahren künstlerisch geprägt und das Erbe von Klaus Zehelein, der Stuttgart zu einer Art Opern-Werkstatt mit und fürs Publikum gemacht hatte, erhalten und auf ihre Art weitergeführt. Was an sich schon eine Leistung ist, die Anerkennung verdient. Die haben sie auch in diversen Rankings erhalten. Jossi Wieler muss sich wohl als gesuchter, freier Regisseur keine Sorgen um künftige Aufgaben machen. Sergio Morabito wird an die Staatsoper nach Wien gehen. Ein Neuanfang, der für dieses Haus Spannendes verspricht. Ratlosigkeit, wenn alles in Trümmern liegt: Andre Morsch (Fernando), Sophie Marilley (Elvire), Ester Dierkes (Josephe), Sachiko Hara (Philipp), Dominic Große (Jeronimo)
Zum Abschluss der Stuttgarter Jahre haben sie gemeinsam mit Anna Viebrock, die bei den herausragenden Inszenierungen der beiden immer den Raum beisteuerte, und mit Sylvain Cambreling eine Uraufführung herausgebracht. Der Auftrag dazu ging an den japanischen Komponisten Toshio Hosokawa und den Librettisten Marcel Beyer. Der Titel Erdbeben. Träume knüpft mit seinem Plot an Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben von Chili an, ist aber angereichert durch die Erfahrungen der zwei Jahrhunderte nach Kleist. Denkt heute also den Holocaust und den Tsunami von Fukushima mit. Ungleich größere Katastrophen, mit denen die Natur ihr Primat auf dem Planeten in Erinnerung bringt, und ungleich erschütternde Zivilisationsbrüche. Kunst wird daraus, wenn es die drängenden Fragen, Ahnungen, Zuspitzungen, Utopien oder Dystopien ins Zeitlose hebt und über die Suggestivkraft der Musik gleichsam ins Denken einsickert. Genau das gelingt dem japanisch-deutschen Duo und ihren Interpreten alles in allem auf beispielhafte Weise. Zuerst natürlich über die Musik, die bei Hosokawa anhebt, wie ein Windhauch oder das Atmen des Planeten Erde und von da ins musikalisch gestaltete Klangschichten hineingleitet. Eine Musik, die das Träumerische des Textes aufnimmt. Und die all das Verschüttete unter den eingestürzten, von Menschen errichteten Gebäuden und den Rauch über den Trümmern die Dimension von Klängen verleiht. Die sadistischen Knaben kriechen aus ihren Löchern - oben das Paar, das in verbotener Liebe zueinander findet.
Das wirkt einerseits gleichförmig suggestiv, anderseits aber türmen sich dann die katastrophischen Orchesterzwischenspiele umso gewaltiger auf. Erdbeben.Träume ist nach Vision of Lear (1998), Hanjo (2004), Matsukaze (2011) und Stilles Meer (2016) die fünften Oper des Japaners. Diesmal erweist er sich auch als ein Meister packender Ausbrüche und nicht nur der kontemplativen Innerlichkeit. Aber es geht ja auch um den Eindruck eines Erdbebens und eines Tsunamis. Auf der anderen Seite wird eine Masse von Menschen durch eine Hetzrede zu einem mörderischen Mob, dem vier Menschen zum Opfer fallen. Dazwischen immer wieder a capella eingeschobene, gesprochene Passagen unterbrechen dabei allenfalls den Klangrausch, verstärken allerdings den Eindruck der Musik nicht wirklich. Das Grundgerüst der Handlung bzw. das Personentableau hat Beyer dabei von Kleist übernommen. In der Person von Philipp, dem überlebenden Sohn einer verbotenen Liebe, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist, werden Episoden der Handlung (in insgesamt 18 Szenen) als dessen Rückerinnerung neu sortiert. Das große Beben und der schwankende Grund
Aus der verbotenen Liebe von Josephe und Jeronimo sind zwei Kinder hervorgegangen, von denen nur Philipp ebenso wie seine Adoptiveltern Elvire und Fernando überleben. Seine leiblichen Eltern, der Bruder Juan und Elvires jüngere Schwester Constanze fallen einem Mob zum Opfer, den der vom Wachmann zum Demagoge mutierte Pedrillo aufstachelt. Seine Adoptiveltern Elvire und Fernando vergegenwärtigen für ihn das Geschehen und die Katastrophe, denen Phillipp seine Existenz verdankt. Am Ende hört Philipp plötzlich die Stimmen seiner leiblichen Eltern als Geisterstimmen. Anknüpfungspunkten an das Alptraumhafte der Handlung, bleibt aber doch immer noch in ihrer eigenen Welt. Anna Viebrocks Bühne ist dabei inspiriert von den tatsächlichen Zerstörungen in Fukushima. Eine Betonruine, eine Fußgängerbrücke, ein Mast mit Scheinwerfern, der aufgebrochene Boden und alles immer wieder in gespenstischen Auf- und Abbewegungen. Hier hat nichts mehr einen festen Grund. Bei Philipp sind Erinnerungen Träume
Hier bewähren sich durchweg alle Protagonisten. Von den Überlebenden der exemplarischen Katastrophe Elvire (Sophie Marilley) und Fernando (baritonal solide: André Morsch) über Josephe (Esther Asteron) und ihrem Geliebten und Privatlehrer Jeronimo (Dominic Große) bis hin zum all das erinnernden Sohn (Sachiko Hara). Grandios vor allem das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Sylvain Cambreling, das sich voll auf das Atmosphärische der Musik von Hosakawa einlässt und mit seiner Vielseitigkeit erneut auch mit einem neuen Stück moderner Musik bewährt.
Zum Abschluss seiner Intendanz ist Jossi Wieler und seinen langjährigen Partnern Sergio Morabito, Anna Viebrock und Sylvani Cambreling eine packende Uraufführungsinszenierung gelungen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Licht
Chor und Kinderchor
Solisten
Josephe Asteron
Jeronimo
Elvire
Fernando Ormez
Constanze
Pedrillo
Anführer der sadistischen Knaben
Philipp
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