Faustisches Streben
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Es muss nicht immer Richard Wagner sein. Mit der letzten
Musiktheaterpremiere der Spielzeit 2017/18 zeigt das Theater
Osnabrück noch einmal, welch grandiose Gesamtkunstwerke im
Verborgenen schlummern und bei uns viel zu selten zu sehen
bzw. zu hören sind. Facettenreiche musikalische Bilderwelten,
Zitate und lange sinfonische Abschnitte – die Oper „Doktor
Faust“, dessen Dichtung Busoni schon 1915 vollendete, dessen
Komposition jedoch 1924, nach dem Tod des Kosmopoliten, von
seinem Schüler Philipp Jarnach ergänzt werden musste, lebt von
großer, anregender Ausdrucksvielfalt. Wie gleich zu Beginn der
langen sinfonischen Einleitung ein naturalistisch wirkender
Glockenklang klangfarblich expressionistisch verfeinert,
mixturähnlich ausgestaltet und weiterentwickelt wird, Chor und
Extrachor schließlich im zartesten Pianissimo „Pax“ hinzufügen
- die Osnabrücker Sinfoniker, das Solistenensemble und der
Opern- und Extrachor verstehen es unter der Leitung von
Andreas Hotz von Anfang an, das Publikum in den Bann zu
ziehen, die Musikwelten Busonis einfühlsam zu zelebrieren,
mystisch geisterhafte, religiöse oder romantisch-pathetische
Atmosphäre ausdrucksstark vor Augen zu führen.
Mephistopheles (Jürgen Müller,
links) verführt Faust (Rhys Jenkins, rechts).
Busonis
Libretto ist nicht Goethes „Faust“. Seiner Dichtung liegen ältere,
dem Puppen- bzw. Volkstheater entnommene Szenen zugrunde: Nach dem
Tode Gretchens bringen drei Studenten aus Krakau Faust das
Zauberbuch. Er beschwört sechs Geister, die ihm als Flammen
erscheinen. Nur der letzte, Mephistopheles ist schnell genug, um
Fausts Verfolger zu töten. Er willigt in die Vertragsbedingungen
ein. Sein unerbittlicher Verfolger, Gretchens Bruder, der Soldat,
wird ermordet. Faust kommt als besondere Attraktion an den
Herzoghof nach Parma, verführt die zwischen Abneigung und
Anziehung schwankende schöne Braut und flieht mir ihr. Sie stirbt
bei der Geburt des gemeinsamen Kindes, das ihm tot in die
Wittenberger Studentenkneipe gebracht wird. Trotz schwindender
Kräfte bleibt sein unermüdliches Streben nach neuem Erleben und
tiefen Erkenntnissen. In Anlehnung an die Euphorion-Szene des
Faust II beschwört er nun den Geist der Unbeschwertheit und des
jugendlichen Übermuts. Und auch im Angesicht des Todes, nachdem
ihn die Geister verlassen haben und ohne Trost im Gebet zu finden,
bleibt sein Wille weiterzuleben ungebrochen.
Andrea Schwalbach zeigt diesen letzten faustischen Willen als
Traum von der kleinen Familienidylle. Während Faust verstirbt,
feiern die Herzogin und Faust alias Mephisto den ersten Geburtstag
mit ihrem Kind.
Szene während der musikalischen
Einleitung (José Gallisa, Mark Hamman, Lina Liu, Jennifer Wakana
Richter, Jan Friedrich Eggers und Jasmin This)
Schwalbachs
Faust, der von Rhys Jenkins brillant gespielt und mit brustig
schillerndem Bariton und müheloser Leichtigkeit gesungen wird, ist
von Anfang an ein gebrochener, verwirrter, kranker Bürgerlicher.
An seiner Seite verführt bzw. steht ihm – ebenfalls meisterlich
gesungen - Tenor Jürgen Müller als Alter Ego/ Mephisto zur Seite.
Angesichts schwindender Kräfte und Krankheit lässt Faust nun
Menschen und Stationen seines Lebens noch einmal Revue passieren.
Alles findet am quasi selben Ort statt, eine Art spärlich
möblierter Probebühne. Bücherhaufen werden neu geordnet und wieder
verworfen. Gretchen wird als tote, passive Maskenfigur aus dem
Kasperletheater von einem zum anderen gereicht. Hinter einem
Sammelsurium an leicht verwahrlosten Sitzgelegenheiten prangt ein
groß dimensioniertes Gemälde mit adligem Reiter, hoch dekoriertem
Pferd und aufgestellten Gefechtsgruppen. Mal scheinen sich die
farbreichen Gestalten des Gemäldes von oben nach unten in eine
bräunlich gelbe Farbsoße aufzulösen, mal in umgekehrter
Bewegungsrichtung neu zu entstehen.
G retchens
Bruder ist kein Soldat, sondern ein mit den Wundmalen Christi
versehener, ebenfalls gebrochener Mann, der sich im Intermezzo
zu den Orgelimprovisationen an den unteren Rand des Gemäldes
in die Szene schleppt, pantomimisch das tote Gretchen im Arm
haltend. Eine von Jan Friedrich Eggers beeindruckend gespielt
und gesungene Szene. Sie ist Symbol für eine Gesellschaft im
Umbruch, deren dekadente Spielereien mit Kasperlefiguren und
der schönen Herzogin – klangvoll und textverständlich
interpretiert von Lina Liu – auf dem herzoglichen Fest zur
Schau gestellt werden.
Bei allen szenischen, mimischen und choreografischen Einfällen der
Regisseurin letztlich stand an diesem Premierenabend das kontrast-
und facettenreich interpretierte musikalische Geschehen im
Vordergrund. Star des Abends waren neben den Gesangssolisten und
dem brillant aufgelegten Osnabrücker Symphonieorchester auch der
wunderbar homogene, im zarten Pianissimo aus dem Off tönende Chor
und Extrachor des Theaters.
FAZIT
Eine vor allem musikalisch überzeugende, selten zu sehende
Faust-Interpretation Feruccio Busonis
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Andreas Hotz
Inszenierung
Andrea Schwalbach
Bühne
Anne Neuser
Kostüme
Stephan von Wedel
Choreinstudierung
Markus Lafleur
Dramaturgie
Ulrike Schumann
Osnabrücker Symphonieorchester
Opernchor
des Theaters Osnabrück
Solisten
Doktor Faust
Rhys Jenkins
Mephistopheles / Nachtwächter
Jürgen Müller
Wagner / Theologe
José Gallisa
Herzog von Parma /
Megäros, eine Geisterstimme
Mark Hamman
Die Herzogin von Parma
Lina Liu
Der Zeremonienmeister / Jurist
Genadijus Bergorulko
Soldat / Naturgelehrter /
Asmodus, eine Geisterstimme
Jan Friedrich Eggers
Ein Leutnant
Hans-Herrmann Ehrich
Der Schüchterne / 3. Wittenberger Student
Ulrich Enbergs
Gravis, eine Geisterstimme
Marcin Tlałka
Levis, eine Geisterstimme
Kyodong Kum
Beezlebuth, eine Geisterstimme /
1. Wittenberger Student
Daniel Wagner
Drei Studenten aus Krakau
Jong-Bae Bu
Ji-Seong Yoo
Kyodong Kum
2. Wittenberger Student
Jong-Bae Bu /
Silvio Heil
4. Wittenberger Student
Ji-Seong Yoo
5. Wittenberger Student
Tomas Vaitkus
Ein Student
Mario Lee /
Dongil Lim /
Genadijus Bergorulko
Stimme von oben, 1. Sopran-Solo
Radoslava Yordanova
Stimme von oben, 2. Sopran-Solo
Chihiro Meier-Tejima
Stimme von oben, Mezzo-Solo
Kathrin Brauer
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Osnabrück
(Homepage)
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