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Everest

Oper in einem Akt
Text von Gene Scheer
Musik von Joby Talbot


in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 15' (keine Pause)


Europäische Erstaufführung im Theater Hagen am 6. Mai 2018
(rezensierte Aufführung: 18. Mai 2018)

Logo: Theater Hagen

Theater Hagen
(Homepage)
Kollektiver Burn-Out der Leistungsgesellschaft

Von Stefan Schmöe / Fotos von Klaus Lefebvre (© Theater Hagen)

Es genügt ein Buchstabe, um aus dem "Everest" einen "Neverest" zu machen. Das kleine Wortspiel, beinahe nebenbei inszeniert, umreißt recht gut, wie Regisseur Johannes Erath und Ausstatter Kaspar Glaner die europäische Erstaufführung der Oper Everest von Joby Talbot angehen, nämlich als Parabel auf das ruhelose menschliche Streben nach dem Gipfel des Möglichen und das Scheitern. Dabei ist die 2015 in Dallas uraufgeführte Oper vordergründig tatsächlich ein Bergsteigerdrama: Bergführer Rob Hall führt den bereits entkräfteten Doug Hansen auf den Gipfel des Everest, aber es ist bereits zu spät am Tag, um noch sicher absteigen zu können. Beck Weathers, ein dritter Bergsteiger, ist unterhalb des Gipfels zurückgeblieben und wartet vergeblich auf die anderen - er hat, das Ende bleibt hier offen, noch die Chance auf eine Rückkehr. Als vierte Hauptrolle wird Jan Arnold, Robs schwangere Frau, vom fernen Neuseeland per Satellitentelefon zugeschaltet. Der Plot beruht auf einer wahren Begebenheit und erzählt von einer Expedition in Jahr 1996 - eine Art Doku-Drama also. Durchbrochen und verfremdet wird die durchaus filmische Erzählweise durch einen Chor, der zunächst wie ein Erzähler fungiert; vom Ende her kann man ihn auch als Chor der Seelen der am Berg Verstorbenen auffassen.

Vergrößerung in neuem Fenster So beginnt die Oper: Eine erschöpfte Gesellschafft schaut auf den Berg.

Joby Talbot, 1971 in London geboren, hat sich als Komponist von Filmmusik (u.a. Per Anhalter durch die Galaxis 2005, und Sing 2016) einen Namen gemacht, was man der eklektischen, mit Dissonanzen gewürzten tonalen Partitur anhört, nicht nur der lautmalerischen Effekte und dem Einsatz der Windmaschine beim Aufkommen des Sturmes wegen. Die Stimmen sind sehr gesanglich behandelt, auch formal gibt es da Arien, Duette und ein großes Quartett der vier Hauptpartien auf dem Höhepunkt der Oper. "Moderner" ist der Orchestersatz, der vom riesigen, oft unkonventionell gespielten Schlagwerk dominiert wird, und auch eine komplexe Rhythmik mit oft gegeneinander verschobenen Strukturen wirkt einer allzu großen Gefälligkeit der Musik entgegen, die dennoch auch das Abonnementspublikum nicht groß verschreckt. Es gibt eine Reihe von wirkungsvollen Momenten in dieser vielfarbig instrumentierten und souverän ausgearbeiteten Oper, aber allzu lange in Erinnerung bleibt die Musik nicht; dazu klingt ein allzu pauschales Pathos mit. Ein wirklich großes Werk ist Everest nicht, so der Eindruck beim ersten Hören. Trotzdem passt es gut zum Theater Hagen, wo man sich vor einigen Jahren ja regelmäßig der amerikanischen Oper angenommen hat (stilistisch gehört dieses Werk eines britischen Komponisten durchaus dorthin) und auch das (gemäßigt) Neue pflegt.

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Doug Hansen (Kenneth Mattice) und der Everest

Nun ist der Schicksalsberg der Deutschen ein literarischer, nämlich Thomas Manns Zauberberg, und dahin verlegt die Regie das Geschehen: In ein Sanatorium mit Bergblick. Die Stühle - normale Holzstühle wie in einem Speisesaal - haben Räder wie Rollstühle. Die pittoreske Gesellschaft dort scheint wie ein Spiegel der Gesellschaft ihrer Zeit - wobei das Regieteam wohl eher das Jahr 1924 (in dem der Zauberberg erschien und - möglicherweise - den Briten George Mallory und Andrew Irvine die Erstbesteigung gelang; da beide auf der Expedition zu Tode kamen, ist nicht rekonstruierbar, ob sie den Gipfel erreichten) als die im Roman beschriebenen Jahre kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs im Sinn hat. Lange Zeit steht ein strahlend hell angeleuchtetes Modell des Everest in einer kleinen Vitrine im Raum, um das sich die Protagonisten herumwinden. Geschickt zeigt Johannes Erath das langsame Sterben von Doug und Rob sowie die Hilflosigkeit und Antriebslosigkeit des wartenden Beck wie im Zeitraffer, als sei es das allmähliche Dahindämmern in der Klinik, in der es keine messbare Zeit mehr gibt - und gleichzeitig ist durch die farbige Musik immer das Bergsteigerdrama präsent.

Vergrößerung in neuem Fenster Laut Libretto befinden sich Jan (Veronika Haller) und Rob (Musa Nkuna) an verschiedenen Enden der Welt und sind nur per Telefon verbunden, hier kommen sie sich noch einmal nahe.

Die faszinierende, strenge Ästhetik in kalten Weißtönen unterstreicht die Klinikatmosphäre eindringlich. Wenn Beck einen der Rollstühle umwirft und minutenlang dessen in der Luft hängendes Rad andreht, ist das ein bedrückendes Symbol für Leere und Ziellosigkeit, und man ahnt schnell, dass diese historische Bilderbuchgesellschaft sich nicht zu sehr von unserer modernen Leistungsgesellschaft am Rande des kollektiven Burn-Outs unterscheidet. Insofern geht das Regiekonzept blendend auf. Es bleibt ein kleiner Schatten: Thomas Manns Zauberberg mit seiner ganzen Komplexität, ein Jahrhundertkunstwerk, lastet geradezu erdrückend auf der ein wenig schwachbrüstigen Oper, so dass er ihr die Luft nimmt: Man hat letztendlich irgendwie mehr Thomas Mann als Joby Talbot gesehen.

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Warten auf Veränderung: Beck Weathers (Morgan Moody)

Das Theater Hagen mit seinen begrenzten räumlichen Möglichkeiten muss einen Teil des riesigen Orchesterapparats in die Seitenlogen, Ränge und sogar Flure davor auslagern, aber unter dem durch und durch souveränen Dirigat von GMD Joseph Trafton spielt das um einige Gäste erweiterte Philharmonische Orchester Hagen mit bestechender Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dazu nuanciert im Klang, aber immer schlank und zurückhaltend in der Lautstärke. Der Vorrang gebührt den Kantilenen der Sänger. Musa Nkuna imponiert mit beweglichem und leicht metallischem, dadurch sehr präsentem Tenor als Rob, Veronika Haller singt mit warmem lyrischen Sopran seine Frau Jan. Nicht ganz so profiliert, aber sehr ordentlich gestalten Kenneth Mattice den Doug Hansen und Morgan Moody den Beck Weathers. Klangschön und szenisch wie musikalisch sehr präsent singt der von Wolfgang Müller-Salow einstudierte Chor. Vom Hagener Publikum wurde das 75 Minuten kurze Stück in der hier besprochenen (und recht gut besuchten) zweiten Aufführung mit zwar nicht enthusiastischem, aber doch langem und freundlichem Beifall bedacht.


FAZIT

Everest ist kein Werk, das sich groß in die Musikgeschichte einschreiben wird, aber in sehr guter musikalischer Umsetzung und vor allem ästhetisch faszinierender und spannender Regie gelingt dem Theater Hagen ein sehens- und hörenswerter Opernabend.





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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Joseph Trafton

Inszenierung
Johannes Erath

Ausstattung
Kaspar Glaner

Licht
Hans-Joachim Köster

Video
Bibi Abel

Choreinstudierung
Wolfgang Müller-Salow

Dramaturgie
Francis Hüsers
Corinna Jarosch


Statisterie
des Theater Hagen

Chor des Theater Hagen

Philharmonisches
Orchester Hagen


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Jane Arnold
Veronika Haller

Meg Weathers
* Pauline Engelhaupt /
Elizabeth Pilon

Rob Hall
Musa Nkuna

Doug Hansen
Kenneth Mattice

Beck Weathers
Morgan Moody

Guy Cotter
Sebastian Joest

Mike Groom
Wolfgang Niggel


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Theater Hagen
(Homepage)




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