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b.35

Decadance

Ballett von Ohad Naharin
Musik von Dick Tale, Goldfrapp, Antonio Vivaldi, David Darling, Harold Budd, Brian Eno, Rajesh Roshan, Chronamad und The Beach Boys
- Uraufführung dieser Fassung -

Environment

Ballett von Ben J. Riepe
Musik von Roman Pfeifer
- Uraufführung -

Abendlied

Ballett von Remus Şucheană
Musik von Franz Schubert (Trio Nr. 2 Es-Dur D 929 für Klavier, Violine und Violoncello)
- Uraufführung -

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (zwei Pausen)

Premiere am 27. April 2018 im Opernhaus Düsseldorf


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Gaga, Bewusstseinsströme und die fatale Sehnsucht nach Romantik

Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt

Vergrößerung Decadance: Ensemble

Mr. Gaga kommt nach Düsseldorf. Na ja, nicht direkt persönlich, aber seine Bewegungssprache, der er selbst die Bezeichnung "Gaga" (wie eine frühkindliche, vorsprachliche Lautäußerung) verpasst hat, die eine Entsprechung sein soll zu den gänzlich unakademischen Bewegungen, die sich hinter "Gaga" verbergen. Bewegungen, die sich durch eine erweiterte Körpererfahrung quasi natürlich ergeben und den gewohnten Bewegungsraum stark erweitern. Mr. Gaga, das ist der 1952 geborene israelische Choreograph Ohad Naharin, künstlerischer Leiter der Batsheva Dance Company in Tel Aviv und durch den Dokumentarfilm Mr. Gaga, der es 2016 in die deutschen Kinos schaffte, inzwischen auch hierzulande von einiger Popularität.

Vergrößerung

Decadance: Cassie Martín, Pedro Maricato, Ensemble

Mag Gaga als Methode die Einzigartigkeit und Individualität der Tänzerinnen und Tänzer zum Gegenstand haben, so ist die Choreographie von Decadance keineswegs frei oder gar beliebig. Naharin hat ein fabelhaftes Gespür dafür, den Raum mit Bewegung zu füllen, und auch für das passende Timing. Er hat keine Berührungsängste in Richtung Showbiz und Street Dance, und es ist keineswegs ein Spagat zwischen Ballett und Jugendkultur, sondern vielmehr Tanz als Naturereignis, und das scheint durchaus geeignet, die Musentempel der Hochkultur tänzerisch kräftig durchzuschütteln und allen Mief auszutreiben. Es wird ungeheuer kraftvoll und dynamisch getanzt, und das machen die 17 Tänzerinnen und Tänzer des Ballett am Rhein grandios (nicht ganz so gut sieht es um die Synchronität aus, die bisweilen verlangt wird). Das alles hat hohes Tempo und explodiert förmlich, zudem farblich exzellent ausgeleuchtet. Manche Szenen erinnern an das Tanztheater Pina Bauschs, etwa wenn das Ensemble sich aufreiht und jede(r) zunächst das Trikot hochzieht und die rechte Seite des Brustkorbs vorzeigt, später dann die Innenflächen der Hände - Verweise auf die Wundmale Christi. Aber mit welchem tieferen Sinn? Dass die Choreographie bei aller Wucht dennoch nicht ganz glücklich macht, hat einen anderen Grund: Sie greift collagenhaft Szenen aus anderen Stücken Naharins auf, die innerhalb von 10 Jahren - einer Dekade, darauf spielt der Titel Decadance an. Wer aber hat die Auswahl getroffen, die sich prompt auch noch "Uraufführung" nennt? Die Einstudierung des Abends jedenfalls liegt in den Händen von Iyar Elezra, einer Mitarbeiterin Naharins. Was fehlt, das ist eine innere Dramaturgie - es bleibt bei einem bunten, aber wenig stringenten halbstündigen Potpourri, dessen Musik zwischen Vivaldis Stabat Mater (dazu gibt es einen in diesem Kontext beinahe klassisch anmutenden Pas de trois) und Brian Eno. Man hätte dann doch gerne eine geschlossene und in sich schlüssige Choreographie von Naharin gesehen.

Vergrößerung Environment: Vincent Hoffman, Alexandre Simões

Ziemlich mutig ist das zweite Werk des Abends, Environment von Ben J. Riepe. Der arbeitet normalerweise mit eigener Compagnie in der freien Szene Düsseldorfs, und das im Grenzbereich zwischen Tanz und bildender Kunst. So ist er auch hier federführend für Choreographie, Ausstattung und Licht zuständig, und als "Tanzstück" lässt sich Environment auch nur schwerlich beschreiben. Zwei Tänzer in grünen Kostümen und käfigartigen Gehäusen über dem Kopf hantieren mit einem Fahrzeug, das eine Mischung aus Seifenkiste, Kinderwagen und überdimensioniertem Rasenmäher ist und am Ende explodiert. Andere tragen historisierende Kleider, sehr farbenfroh, die auch gleich das Gesicht bedecken. So sind (fast) alle Tänzerinnen und Tänzer maskiert, und das macht sie in gewisser Hinsicht zu Objekten, lebendigen Kunstgegenständen, die mit den ständig wechselnden Hintergründen korrespondieren. Zwischendurch wird gesungen oder wenigstens gesummt, es gibt eine Essensszene, die im Aufbau an Leonardos Abendmahl erinnert. Ein Tänzer wandert unentwegt in Frack und Zylinder durch den Raum und spricht eine Textcollage, die sich um Bewusstseinsströme und Unbewusstsein, die Wahrnehmung von Bildern und Linearität oder Nichtlinearität des Erzählens dreht (man bekommt das nur bruchstückhaft mit). Einmal steht er vor einem riesigen Bild, das Casper David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer andeutet. In der Summe führt das zu einem surrealen Bilderbogen, in dem der Tanz im eigentlichen Sinn kaum vorkommt - man muss die Offenheit haben, jede bewusste Bewegung als "Tanz" zu verstehen. Auf ganz andere Weise als Decadance räumt das Werk, das vor allem auf visuelle Überrumplung setzt, mit den Sehgewohnheiten des Ballettpublikums auf. In seiner Ästhetik passt es sicher besser in die freie Szene als in ein "normales" Opernhaus. Aber genau das könnte ja eine befruchtende Provokation innerhalb des Spielplans des Ballett am Rhein sein. Wenn da nicht die dritte Choreographie des Abends wäre, die das postwendend wieder zurücknimmt.

Vergrößerung

Environment: Feline van Dijken, Brice Asnar, Yoav Bosidan

Für die ist Ballettdirektor Remus Şucheană zuständig, der mehr und mehr Aufgaben vom Hausherren Martin Schläpfer übernommen hat und noch übernehmen wird. Abendlied ist seine zweite eigene Choreographie nach dem durchaus beachtlichen Concerto Grosso im Ballettabend b.30. Jetzt hat er Schuberts spätes Klaviertrio Es-Dur D929 als Musik verwendet, famos gespielt von Alina Bercu (Klavier), Franziska Früh (Violine) und Nikolaus Trieb (Violoncello). Şucheană erzählt dazu die Geschichte eines jungen Mannes zwischen Realität und Traum. Leider kommt das nicht über die üblichen Romantik-Klischees hinaus, und Eric White tanzt ja ordentlich, aber leider brav wie ein Konfirmand voller pubertärem Weltschmerz und dem zugehörigen schematischen Pathos. Irgendwie geht es um die anderen (tendenziell bedrohlich), um Frauen (immer begehrenswert, leider allzu flüchtig und mitunter an anderen Männern interessiert) und vor allem um Einsamkeit. Dazu bemüht Şucheană eine im wesentlichen klassische Tanzsprache mit ein paar Brechungen, die aber weit hinter dem zurückbleiben, was man vom Hausherrn Martin Schläpfer gewohnt ist - ein bisschen mit der Ferse auf den Boden Hämmern macht noch kein zeitgemäßes Ballett.

Vergrößerung Abendlied: Julie Thirault, Rashaen Arts, Sonia Dvořák, Philip Handschin

Sicher ist das betörend schön anzusehen in edler graublauer Ästhetik (Ausstattung: Darko Petrovics) mit weiten, schleierartigen Gewändern für die Damen, durch die das Mondlicht hindurchscheint (und konventionell langweiligen Trikots für die Herren). Nur findet Şucheană nicht die Mittel, die Spannung aufrecht zu erhalten. Die Geschichte ist allzu schnell auserzählt, benötigt nicht annähernd die 40 Minuten, die Schuberts Komposition dauert. Viele an sich hübsch choreographierte Szenen (die in manchen Nummern aber noch arg wackelig wirken) sind nicht mehr als Füllmaterial, ansehnlich, aber belanglos. Abendlied wäre an einem kleineren Haus mit konservativem Ballettprofil vielleicht nicht schlecht aufgehoben, aber im Düsseldorfer Spielplan ist es als Uraufführung ein Anachronismus. Der Applaus des Premierenpublikums war höflich, aber keineswegs begeistert. Ob Şucheană mit seinem Abendlied das Stammpublikum nach Riepes irritierendem Environment besänftigen wollte? Es liest sich leider wie ein "das vorher war nicht so gemeint". Hoffentlich ist diese Choreographie kein programmatisches Zeichen für eine Zukunft, in der Schläpfer sich mehr und mehr auf die Rolle des Hauschoreographen zurückziehen und Şucheană das Feld überlassen will.


FAZIT

Ein Ballettabend, der mehr verspricht, als er einhalten kann: Naharins Choreographie fehlt der rote Faden, Riepes Werk ist eine spannende Installation mit wenig Tanz und Şucheană scheitert in romantischer Nostalgie.


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Produktionsteam

Decadance

Choreographie
Ohad Naharin

Kostüme
Rakefet Levy

Choreographische Einstudierung
Iyar Elezra

Licht
Avi Yona Bueno (Bambi)

Lichtumsetzung
Gadi Glik

Tänzerinnen und Tänzer

Camille Andriot
Mariana Dias
Sonia Dvorák
Alexandra Inculet
Helen Clare Kinney
Aleksandra Liashenko
Norma Magalhães
Cassie Martín
Virginia Segarra Vidal
Rashaen Arts
Brice Asnar
Yoav Bosidan
Rubén Cabaleiro Campo
Vincent Hoffman
Pedro Maricato
Alexandre Simões
Arthur Stashak


Environment

Choreographie,
Kostüme, Bühne
Ben J. Riepe

Licht
Ben J. Riepe
Thomas Diek

Komposition und Sounddesign
Roman Pfeifer

Sounddesign Produktion
Misagh Azimi

Mitarbeit Bühne und Kostüme
Gwen Wieczorek

Beratung Bühne
Martin Rottenkolber

Stimmbildung
Romana Noack

Collage aus Texten von Joshua Gros,
Milo Rau, Gernot Böhme, Louise Bourgois
Philipp Preuß, Susan Sontag und Francis Bacon


Tänzerinnen und Tänzer

Ann-Kathrin Adam
Doris Becker
Feline van Dijken
Norma Magalhães
Cassie Martín
Virginia Segarra Vidal
Elisabeta Stanculescu
Rashaen Arts
Brice Asnar
Yoav Bosidan
Philip Handschin
Vincent Hoffman
Sonny Locsin
Friedrich Pohl
Boris Randzio
Alexandre Simões


Abendlied

Choreographie
Remus Şucheană

Bühne und Kostüme
Darko Petrovic

Licht
Thomas Diek

Klavier
Alina Bercu

Violine
Franziska Früh

Violoncello
Nikolaus Trieb


Tänzerinnen und Tänzer

Ann-Kathrin Adam
Camille Andriot
Doris Becker
Mariana Dias
Feline van Dijken
Sonia Dvorák
Alexandra Inculet
Kailey Kaba
Yuko Kato
So-Yeon Kim
Helen Clare Kinney
Aleksandra Liashenko
Norma Magalhães
Cassie Martín
Claudine Schoch
Virginia Segarra Vidal
Elisabeta Stanculescu
Julie Thirault
Rashaen Arts
Brice Asnar
Yoav Bosidan
Rubén Cabaleiro Campo
Michael Foster
Filipe Frederico
Philip Handschin
Vincent Hoffman
Sonny Locsin
Pedro Maricato
Tomoaki Nakanome
Bruno Narnhammer
Chidozie Nzerem
Friedrich Pohl
Boris Randzio
Alexandre Simões
Arthur Stashak
Daniel Vizcayo
Eric White



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Ballett am Rhein
(Homepage)



Da capo al Fine

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