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Carmen

Oper in drei Akten
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper Merimée
Musik von Georges Bizet


in französischer Sprache

Aufführungsdauer: ca 3 Stunden (eine Pause)

Premiere beim Burgplatz Open Air des Staatstheaters Braunschweig am 18. August 2018

 

Staatstheater Braunschweig
 (Homepage)


Tief in die Kiste gegriffen


Von Bernd Stopka / Fotos von Bettina Stoess

23. August 2003: Beim ersten Burgplatz Open Air des Staatstheaters Braunschweig feiert Carmen von Georges Bizet, (die spanischste aller Opern, von einem Franzosen komponiert) in einer leidenschaftlichen Produktion Premiere und begründet eine Braunschweiger Festspieltradition. Sand in der Arena, ein paar Stühle, nur die nötigsten Requisiten aber üppige Kostüme und eine hochemotionale fesselnde Personenregie begeistern das Publikum in einer klassischen Inszenierung in deutscher Sprache, in der sogar eine Madonnenprozession zu sehen ist. Der Braunschweiger Löwe beobachtet die ganze Sache von seinem Sockel aus und nimmt vor manchem geistigen Auge momentweise die Gestalt eines spanischen Stieres an. Der Wettergott spielt mit, wie oft auch in den Folgejahren bei Opern-Inszenierungen von Tosca, Madama Butterfly, Der fliegende Holländer, Cavalleria rusticana, Turandot, Der Freischütz, Ein Maskenball, den Burgplatzkonzerten und Musical-Produktionen wie West Side Story und im letzten Jahr Hairspray - um nur einige zu nennen. Der Burgplatz bietet eine herrliche Kulisse, die Arena ist nicht zu groß, die Akustikanlage ausgesprochen gut, das Publikum treu, die Aufführung fast immer ausverkauft.

foto folgt
Carmen (Jelena Kordić), Don José (Kwonsoo Jeon)

18. August 2018: Wieder Braunschweig, wieder Burgplatz, wieder Carmen. Zum 15jährigen Jubiläum steht Bizets Meisterwerk erneut auf dem Spielplan. Viel Wasser ist inzwischen die Oker hinuntergeflossen und hat Carmen in den sozialen Brennpunkt einer heutigen Stadt geschwemmt. Auf einer vertrockneten harten Rasenfläche, die man durch wenig Grüngebliebenes als solche nur ahnen kann (aktueller geht es kaum), liegen gammelige alte Möbel herum: Stühle, Sessel, Bettgestelle, Kühlschränke, Türen und Leuchtbuchstaben, aus denen Lillas Pastia später die Leuchtschrift seiner Taverne zusammenstellen wird. Dieser Lillas Pastia tritt zunächst in einem schwarzen Flamenco-Rock und mit Stierhörnern auf – an diesem Abend die einzige Reminiszenz an das Spanische dieser Oper – und bleibt dann nur mit einer schwarzen Torero-Hose bekleidet als morbides Leitmotiv ständig auf der Bühne. Wie der Tod, der allgegenwärtig ist, der töten und zum Leben erwecken kann. Letzteres muss er auch, weil der Oper sonst die Hauptpersonen ausgehen würden, denn Don José ist hier ein psychisch dekompensierter schießwütiger Soldat, der jede und jeden mit seinem Revolver bedroht und Carmen an jedem Aktschluss erschießt. Zuletzt auch sich. Niemals hätte ihm eine Dienstwaffe anvertraut werden dürfen. Ihn so zu charakterisieren, nimmt ihm so ziemlich alles, was die emotionale Dramatik der Figur ausmacht. José wird doch eigentlich durch Carmen von einem pflichtbewussten und ordentlichen Soldaten zu einem Spielball ihrer und seiner Gefühle (und das ist allemal spannender). Eigentlich – denn diese Braunschweiger Carmen wirkt eher wie eine genervte Bürozicke, der auch ihr goldenes Top keine Erotik oder Verführungskraft verleihen kann. Sie wirkt gelangweilt, überfüttert, uncharismatisch.
 
Vergrößerung in neuem Fenster  Frasquita (Jelena Banković), Don José (Kwonsoo Jeon), Lillas Pastia/der Tod (Mattias Schamberger), Carmen (Jelena Kordić), Remendado (Matthias Stier)
 

Das inszenierte Vorspiel zeigt das Ende der Oper, die quasi als Rückblick inszeniert ist. Die Blume, die Carmen Don José zuwirft ist ein schwarzer Handschuh, von dem sich Escamillo später gewaltsam den zweiten holt. Carmens Kolleginnen sehen eher so aus, als arbeiteten sie in einem Bordell und nicht in einer Zigarettenfabrik. Zuniga missbraucht das Mädchen, das er vor Carmens Messerstecherei gerettet hat. Brutalität hier, Fummelei da, Tänze in Zeitlupe. Anstelle von Kastagnetten schlägt Carmen zwei Bierflaschen aufeinander und die Karten, aus denen Girlies das Schicksal lesen, sammeln sie vom Boden auf, denn Lillas Pastia hat sie wild in die Luft geworfen. Don José singt seine Blumenarie am Tisch sitzend eher wie bei einem Verhör als in höchster Leidenschaft. Die Habanera singt Carmen während sie auf Brettern, die auf Möbeln liegen, geschickt und sicher über die Bühne balanciert. Als kontrastierende Charakterisierung der beiden Frauen steigt Micaëla während ihrer Arie im dritten Akt unsicher von Stuhl zu Stuhl, um später blutig unter dem inzwischen zu einem Haufen zusammengelegten Sperrmüll zu liegen. Müll wird von Bühnenbildnern ja immer wieder gern genommen, diesmal nun also Sperrmüll. Mit Wasser wird herumgespritzt und zwischendurch wird das Publikum von Taschenlampen und Scheinwerfern geblendet, Schüsse wecken die Schlafenden auf, stoppen aber nur kurzzeitig das Dauergequassel um mich herum. Wenn sich Remendado und Dancaïro Frauenkleider anziehen, ist schließlich der traurige Höhepunkt der Regie und des Fremdschämens erreicht. Das Regieteam (Regie: Philipp M. Krenn, Bühne: Heike Vollmer, Kostüme: Regine Standfuss), das erklärtermaßen möglichst tief in das Stück hineinschauen wollte, hat tief in die längst schon verstaubte Mottenkiste des modernen Regietheaters gegriffen und viele alte und ungeliebte Bekannte herausgeholt, es aber nicht geschafft, eine überzeugende oder gar bewegende Aktualisierung zu präsentieren. 

Ein Problem des Aktualisierungszwangs unseres modernen Regietheaters ist immer das gleiche: Die Diskrepanz zwischen Musik und Aktualisierung schafft mehr emotionale Distanz als Nähe. Was nicht zusammenpasst, hat es schwer zu berühren und zu bewegen. Die Gegensätze zu vereinen ist möglich aber nicht einfach. Dabei ist das Publikum sehr wohl in der Lage die Transferarbeit in die heutige Zeit, in das eigene Gefühlsleben eigenständig zu leisten. Die Emotionen, die berühren, sind eh immer die gleichen, ob sie im Flamencokleid oder in Leggins gespielt werden, eine höchstmögliche Authentizität ist das Ausschlaggebende. Das kann durchaus auch bei einer Aktualisierung erreicht werden, doch dazu gehört viel Fingerspitzengefühl und Feinarbeit. Hier gelingt es, wie so oft, nicht. Und das macht die Inszenierung über weite Strecken gewollt bedeutsam und ganz einfach langweilig.

Das Braunschweiger Burgplatz Open Air hat Eventcharakter, ob da eine sozialpolitische Inszenierung mit den Mitteln des modernen Regietheaters geeignet ist, Menschen, die sonst nicht in die Oper gehen, für die Oper zu begeistern, wäre zu hinterfragen – und ob es da dann auch wirklich die Originalsprache sein muss, oder ob sich in diesem Fall nicht doch eine deutsche Übersetzung anbietet ebenso.


Bild zum Vergrößern

Chor, Extrachor, Kinderchor, Lillas Pastia (Mattias Schamberger), Don José (Kwonsoo Jeon)
 
Die exzellente Beschallungsanlage unterstützt die Sänger optimal, macht eine Einschätzung der Stimmen aber naturgemäß nur bedingt möglich. Jelena Kordić und Kwonsoo Jeon setzen das Regiekonzept als Carmen und Don José schauspielerisch und auch gesanglich adäquat um, wobei Kwonsoo Jeon eine stärkere Bühnenpräsenz hat als Jelena Kordić. Ekaterina Kudryavtseva singt die Micaëla mit beeindruckender Stimmtechnik und eher fraulichem als unschuldig kindlichem Timbre, was gut zu ihrem gouvernantenhaften Kostüm passt. Eugene Villanueva singt den Escamillo souverän und Matthias Schamberger spielt den Lillas Pastia, der den Tod verkörpert, sehr überzeugend als überlegenen Unsympathen. Unter den kleineren Partien beeindruckt Dominic Barberi als Zuniga.
Srba Dinić leitet das Staatsorchester sängerfreundlich, aber unauffällig, das Vorspiel zum 3. Akt gelingt mit dem wundervoll gespielten Flötensolo berührend, aber nicht sentimental. Chor Extrachor und Kinderchor wurden von Georg Menskes bestens einstudiert und zeigen sich bei den Massenszenen gesanglich und schauspielerisch höchst agil.

Und was sagt der Braunschweiger Löwe zu alldem? Nichts. Er wurde samt Sockel schamhaft (oder gnädig) mit schwarzem Tuch verhängt.


FAZIT

Ein wenig gelungener Versuch einer Aktualisierung und Andersdeutung, der beim Open Air besonders fehl am Burgplatze erscheint. Musikalisch ordentlich, aber nicht begeisternd.

 


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Srba Dinić

Inszenierung
Philipp M. Krenn

Bühne
Heike Vollmer

Kostüme
Regine Standfuss

Chor
Georg Menskes

Kinderchor
Mike Garling

Dramaturgie
Valeska Stern

 

Chor, Extrachor und Kinderchor
des Staatstheaters Braunschweig

Staatsorchester Braunschweig

Solisten

Carmen
Jelena Kordić

Don José
Kwonsoo Jeon

Micaëla
Ekaterina Kudryavtseva

Escamillo
Eugene Villanueva

Remendado
Matthias Stier

Dancaïro
Maximilian Krummen

Frasquita
Jelena Banković

Mercédès
Milda Tubelytė

Zuniga
Dominic Barberi

Moralès
David Oštrek

Lillas Pastia
Mattias Schamberger

Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Braunschweig
 (Homepage)





Da capo al Fine

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