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Rehabilitierung eines "Skandalons"
Von Christoph Wurzel / Fotos von Monika Rittershaus Im Louvre hängt ein Gemälde, das zu einem dramatischen Moment geronnen die Geschichte erzählt, um die es in Henzes Werk geht. Nur wenige Jahre nach dem realen Ereignis malte Théodore Géricault ein Bild mit dem unverfänglichen Titel „Szene eines Schiffbruchs“, tatsächlich aber war das Geschehen auf einem im Ozean treibenden Floß gemeint, auf das sich 1816 im Meer vor der französischen Kolonie Senegal fast 150 Mann Besatzung der havarierten Fregatte Medusa gerettet hatten, weil die Offiziere des sinkenden Kriegsschiffs die wenigen Boote für sich beanspruchten. Überfüllt mit den Menschen der niedrigen Ränge trieb das Floß sich selbst überlassen und manövrierunfähig dreizehn Tage lang auf der tobenden See, bis es von einem anderen Schiff gesichtet und die letztlich noch verbliebenen fünf Überlebenden gerettet wurden. Neben dem nautischen Versagen des Kapitäns wurde vor allem die menschenverachtende Verantwortungslosigkeit der französischen Offiziere zum Skandal, nachdem zwei der Überlebenden einen Bericht über das Ereignis veröffentlicht hatten, was unterschwellig als Vorzeichen für den Niedergang des maroden Bourbonenregimes wirkte, bis es schließlich 1830 durch eine Revolution beseitigt wurde. Géricaults Monumentalgemälde, das heute den vom Maler intendierten Titel „Das Floß der Medusa“ trägt, zeigt eindrucksvoll die ganze Dramatik des Geschehens, wie die wenigen Überlebenden ohne Nahrung und Wasser verzweifelt um Rettung ringen, einige auf dem Floß verbliebene Tote zu Opfern von Kannibalismus werden und wie gleichsam als Symbol letzten Durchhaltewillens ein dunkelhäutiger Mann einem in der Ferne kaum sichtbaren Schiff eine zerfetzte Tricolore entgegenstreckt. Seither gilt das Gemälde als bedeutendes Beispiel für künstlerisches Engagement gegen koloniale Machtwillkür und als eindrucksvolle Erinnerung an deren Opfer. Rettungslos im Meer: Allegorie hoffnungsloser Verzweiflung (Dale Duesing als Charon, Chor der Schiffbrüchigen) Zahlreiche Künstler haben sich mit diesem Ereignis auseinandergesetzt, so auch Hans Werner Henze in seinem Oratorium, zu dem Ernst Schnabel das Libretto schrieb, damaliger Hörspielchef des NDR, in dessen Auftrag das Werk entstand. Wie seinerzeit der Maler verstand Henze seine Komposition ebenso als Parteinahme gegen das Unrecht und für den entschlossenen Kampf um die Befreiung aus Unterdrückung, was für ihn in den 1960er Jahren die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in Vietnam und Lateinamerika bedeutete. Er widmete sein Oratorium daher Ernesto „Che“ Guevara. Dies wurde zum Anlass für den ungeheuren Skandal um die Uraufführung des Werks im Dezember 1968 in Hamburg. Sozialistische Studentengruppen hatten Henzes Widmung als Aufforderung verstanden, unmittelbar vor der Aufführung auf der Bühne ein Portrait des lateinamerikanischen Revolutionärs und eine rote Fahre aufzuhängen. Dies führte zu Protesten vor allem aus den Reihen des beteiligten RIAS-Chores. Im Publikum kam es zum Aufruhr, Polizei rückte im Saal an und die Aufführung, die im Radio direkt übertragen werden sollte, platzte. Der NDR sendete zeitversetzt die Aufnahme der Generalprobe. Henzes Oratorium hatte, noch bevor es überhaupt ein Publikum zu hören bekam, einen der größten Skandale im Musikbetrieb der Nachkriegszeit ausgelöst. Hatte es bereits im Vorfeld harsche Kritik an Henzes politischer wie künstlerischer Haltung gegeben, so sah sich der Komponist nach diesem Uraufführungsdesaster fast vernichtender Polemik ausgesetzt, die darauf abzielte, dass er politisch die Revolution predige, während er künstlerisch den bürgerlichen Musikbetrieb bediene - was in unserer Gegenwart, in der auch die Kunstform Oper sich immer wieder den brennenden Zeitfragen stellt, kaum mehr als Widerspruch, sondern eher als aufrüttelndes Statement erscheint. Welch brennende Aktualität Henzes „Skandalwerk“ von damals noch heute besitzt, beweist die Produktion der Amsterdamer Oper, die dieses engagierte, selten zu hörende Werk dem Publikum in einer Version präsentierte, die alles Plakative vermeidet, den humanistischen Kern des Stücks aber gleichwohl betont. Regisseur Romeo Castellucci hat die episch erzählte Handlung nicht in naturalistische Bühnenaktionen umgesetzt, sondern überzeugend in allegorische Bilder gefasst. Der Ausdruck von Dramatik und Emotionalität bleibt dem Orchester vorbehalten, insofern wird dem oratorisch konzipierten Werk genau Rechnung getragen und seiner inneren Dramaturgie Geltung verschafft. Das vielschichtige Libretto verbindet den nüchternen Erzählbericht des Sprechers mit den lyrischen Reflexionen der solistischen Stimmen und den Kollektivparts der Chöre, die jeweils Teile der versinkenden Schiffsbesatzung repräsentieren, auf der einen Seite der Bühne die zahlenmäßig mehr und mehr abnehmenden Lebenden, auf der anderen Seite die entsprechend zunehmende Anzahl der toten Seeleute. Ihren Gesängen sind Worte aus Dantes Inferno unterlegt, die Stimmen der um ihr Leben Ringenden hat Henze gegen Schluss seines Werks nach dem Vorbild Bachscher Passionen komponiert. Unter der transparenten Gaze der Projektionsfläche erscheinen die Choristen immer wieder wie im magischen Theater in unwirklichem Licht als Totenköpfe oder nur mit ihren um Rettung ringenden Händen. Großartig meisterten die beteiligten Chöre ihre komplexen Passagen mit höchster Präzision und in souveräner Vokalgestaltung. Bilder von magischer Kraft: der Chor der verzweifelten Schiffbrüchigen; im Vordergrund Charon, der Fährmann ins Totenreich (Dale Duesing) Das Kontinuum der Aufführung bildet über die gesamte Breite der Bühne die Videoprojektion eines Films, der aus immer wieder wechselnden Perspektiven einen im Ozean um sein Leben schwimmenden afrikanischen Mann zeigt, bis ihn am Schluss wie auch im historischen Geschehen helfende Hände leblos aus dem Wasser ziehen. Nur in einem einzigen Moment wirft die Inszenierung ein aktualisierendes Schlaglicht, wenn der Afrikaner gleich zu Beginn sein Dorf verlässt, ein Boot besteigt und sich dem Meer anvertraut - dann wird die Szene zum ergreifenden Memento für die endlose Zahl derer, die gegenwärtig aus welchen Gründen auch immer rettungslos auf den Meeren der Welt in verlassenen Booten ums Überleben kämpfen und zu Tausenden dabei umkommen, die „viel zu Vielen“, wie es im Libretto bezogen auf die Toten des Floßes heißt. Aufbruch ins Ungewisse, schließlich in den Tod: Mamadou Ndiaye als Darsteller der Videoprojektion Neben dem nüchtern berichtenden Sprecher, der zugleich die Rolle Charons, des Fährmanns ins Totenreich, vertritt, repräsentieren die beiden Gesangssolisten die Grundprinzipien der Handlung: der Bariton als Matrose Jean-Charles den Lebenswillen, der Sopran, La Mort, den Tod. Lenneke Ruiten sang diese bis in schmerzende Höhen hinaufsteigende Partie sirenenhaft lockend mit expressiver Kraft. Bo Skovhus gab seiner Figur zwischen resignativer Todesergebenheit und kämpferischem Überlebenswillen vokal tiefe menschliche Emotionalität. Als Sprecher wirkte Dale Duesing mit dem Ausdruck innerer Teilnahme am vermittelten Geschehen. Komplementär zu der in ihrer allegorischen Abstraktion eindrucksvollen Szene, wirkte die vom Amsterdamer Opernorchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher ungemein dramatisch umgesetzte Musik. Die Partitur im Riesenformat vor sich, realisierte Metzmacher Henzes Musik bis in die kleinste Details nuancenreich und genau. Henzes sieht einen ungeheuren Orchesterapparat vor, neben dem gewohnten großen symphonischen Instrumentarium Klavier, Elektrische Orgel, Elektrogitarren und rund ein Dutzend verschiedene Schlagwerke - Chance auf größtmöglichen Klangfarbenreichtum, die das Orchester bewundernswert nutzte. In der Originalfassung lässt Henze das Werk mit harten solistischen Trommelschlägen enden, die provokant den Rhythmus der 68er Straßendemonstrationen nachklingen lassen: „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“. In der in Amsterdam gespielten überarbeiteten Fassung Henzes ist dieses revolutionäre Ostinato von einer gewaltigen Eruption des gesamten Orchesters überdeckt. Dennoch müssten auch so nach dem abrupt abbrechenden Finale die letzten Worte des Erzählers wie ein Stachel im Gedächtnis des Publikums haften geblieben sein: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von der Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen“.
Eine faszinierende Aufführung, die gerade durch ihre zurückhaltende Aktualisierung umso überzeugender wird. Auch die musikalische Umsetzung rechtfertigt Henzes Oratorium als großes Werk des 20. Jahrhunderts, das an Wirkungsmächtigkeit bis heute nichts eingebüßt hat.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung, Bühnenbild, Mitwirkung Regie Dramaturgie Filmproduktion
Cappella Amsterdam
Nieuw Vocaal Amsterdam Nederlands Philharmonisch Orkest Solisten
La Mort (Sopran)
Jean-Charles (Bariton)
Charon (Sprecher)
Darsteller im Video
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