Die Eroberung des Nutzlosen
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Zeitgenössisches, experimentelles Musiktheater muss nicht nur
auf Festivals stattfinden. Das Theater Osnabrück hat die
künstlerischen Ambitionen und den enormen technischen Aufwand
nicht gescheut, sein Stadttheater in eine Experimentalbühne zu
verwandeln und ein Jahr nach der Uraufführung als
kooperierender Partner der Münchener Biennale David Fennessys
Sweat of the Sun zu zeigen. Noch drei Mal werden die
surreale Performance und faszinierende Klangreise zu erleben
sein. Noch drei Mal wird eine traditionelle Klang- und
Theaterwirklichkeit aus den Angeln gehoben.
Szene aus dem dritten Teil;
Marco Vassalli, Stephanie Schadeweg, José Gallisa, Katarina Morfa,
Jan Friedrich Eggers, Gesche Geier
Die Vorstellung beginnt, bevor man Platz genommen hat. Ein leises
Grundrauschen erfüllt den Raum, vereinzelt klingen Töne, als wenn
Instrumente gestimmt würden. Vor allem die auf einer kleinen,
ansteigenden Tribüne im hinteren Bühnenbereich sitzenden Zuschauer
sind mittendrin. Umgeben von Filmausschnitten, Bildschirmen für
die Textübertragung, Scheinwerferanlagen und Schnürboden, taucht
man ein in einen Kosmos besonderer Art. Selten kommt man den
Künstlern, dem Dirigenten, den Sängern und Schauspielern und dem
Kammerorchester so nah.
Computer-Performer Pete Dowling, Streicher und Klarinette des
Osnabrücker Symphonieorchesters sitzen auf beweglichen Podesten.
Zunächst bilden sie ein geschlossenes Ensemble – Protagonist, in
Osnabrück übernimmt Bariton Jan Friedrich Eggers schauspielerisch
überzeugend diese Rolle und Dirigent An-Hoon Song gegenüber.
Andere Klangfarben wie Posaune, Celesta oder Schlagwerk sind
überall im Theaterraum verteilt. Trommelschläge, eingespielte
Tonschnipsel von Enrico Caruso, gehauchte Klarinettentöne, zarte
Celestafarben, Table-Guitar-Arpeggien, flirrende
Streicherflageoletts oder Posaunenchoral, Geräusche,
Farbmischungen, Klangwelten aus aufsteigenden Glissandi kommen aus
verschiedenen Richtungen und verbinden sich zum Raumklang. Sie
verwirren, wirken fremdartig und monumental wie ein tropischer
Regenwald.
Szene aus dem ersten Teil; Stephanie Schadeweg, Jan Friedrich
Eggers, An-Hoong Song, Osnabrücker Symphonieorchester
Fennessy, der sich seit Jahren in seinen Kompositionen mit Werner
Herzogs Tagebuch Die Eroberung des Nutzlosen
auseinandersetzt, thematisiert in Sweat of the Sun
assoziativ die Suche eines Besessenen. Umgeben von
Filmausschnitten aus dem Dokumentarfilm Burden of Dreams,
in dem Les Blank 1982 die Dreharbeiten des Films „Fitzcarraldo“
aufzeichnet, taucht man in die permanenten Katastrophen und die
Sinnlosigkeit des Unterfangens ein, ein Dampfschiff über einen
Berg zu ziehen. Musik, gesungene, gesprochene Wortfetzen wirken
wie ein permanenter, spannungsgeladener Ausnahmezustand.
Nach diesem ersten Teil beruhigt sich die Atmosphäre. Das
Kammerorchester auf der Bühne teilt sich und formt einen Kreis.
Dirigent An-Hoon Song wandert mit, sodass das gebietende Spiel,
die Traumvisionen des Protagonisten ins Blickfeld rücken.
Collagenartig setzt sich das Raumklangbild nun auch aus
Erinnerungsfetzen und neuen Beobachtungen zusammen. Spielerisch
tut sich ein neuer Klangkosmos auf, überlagern und wechseln
Ausschnitte einer von Caruso gesungenen Rigoletto-Arie,
Naturbeobachtungen, Bachchoral und ein bayrisches Volkslied.
Katarina Morfa tritt als klangvolle Muse hinzu.
Der abschließende Teil trägt den Titel Sweat of the Sun.
Vier Stahlmaste werden auf der Bühne errichtet. Zugleich schwebt
ein von Fennessy selbst entwickeltes, an ein Monochord erinnerndes
„large stringed instrument“ herab, dessen Saite gestrichen,
gezupft oder geschlagen wird. Der Protagonist bleibt am Ende
verlassen zurück und spielt sein Instrument.
Mit dieser letzten Premiere der Spielzeit 2016/17 zeigt das
Theater Osnabrück wieder einmal seine anspruchsvollen
Musiktheaterproduktionen. Hier wird nicht erzählt oder
dargeboten, sondern ein Erfahrungsraum geschaffen. Aufwendige,
wohl durchdachte Raumklangkonzeption, ein ambitioniert singen- und
schauspielendes Ensemble führen nicht nur vor Augen, sondern
machen eine zeitgenössische, assoziations- und erlebnisreiche
Klangreise sinnlich wahrnehmbar.
FAZIT
Musik als stimmige, sinnliche Klangperformance und
Erfahrungsraum – diese zeitgenössischen ästhetischen Konzepte
sind im Theater Osnabrück wunderbar zu erleben.