Das Lied der Nacht
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von Jörg Landsberg
Braunfels Die Vögel, Gurlitt Soldaten. Immer mal
wieder sorgt das Theater Osnabrück in der Sparte Musiktheater
für Überraschungen, kramt seltene Werke aus, richtet in
Ausstellungen sein Augenmerk auf in Vergessenheit geratene
Künstler. In dieser Spielzeit ist es Hans Gál und seine zweite
Opernkomposition, die dramatische Ballade Das Lied der
Nacht. 1890 bei Wien geboren und 1987 in Edinburgh
verstorben, fand Gáls Karriere in Deutschland mit der
Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 trotz seiner
traditionellen, im Tonalen verhafteten Tonsprache ein abruptes
Ende. Wie alle jüdischen Künstler erhielt er Aufführungs- und
Arbeitsverbot. 1938, nach der Annexion Österreichs emigrierte
Gál nach England und fand schließlich in Edinburgh eine neue
Heimat. Aber auch nach dem zweiten Weltkrieg blieben Komponist
und Opernwerke in Deutschland so gut wie ungespielt. Dabei
erfreuten sie sich gerade in den 1920er Jahren hier großer
Beliebtheit.
Vor allem Das Lied der Nacht, die zweite Zusammenarbeit
Gáls mit seinem ungewöhnlichen Librettisten Karl Michael von
Levetzow fand regen Zuspruch. Im April 1926, einen Tag früher
als die themenverwandte Puccini-Oper Turandot, wurde
das Werk in Breslau uraufgeführt. Im Unterschied zu
Turandot blieb die Oper jedoch seit 1930 in Deutschland
ungespielt. Auch Tonaufnahmen existieren bisher nicht. Umso
bedeutender die Wiederentdeckung des Theater Osnabrück.
Prinzessin Lianora (Lina Liu, mit
dem Damenchor) will nicht heiraten.
Protagonistin Lianora ähnelt Puccinis Turandot, doch Gáls
Librettist Karl Michael von Levetzow setzt andere Akzente. Auch
Erbprinzessin Lianora soll heiraten, um das Land zu retten und
verweigert sich. Während Turandot den Bewerbern Rätsel stellt und
die Prinzen hinrichten lässt, wenn sie die Fragen nicht
beantworten können, entschließt sich Lianora, ins Kloster zu
gehen. Zuvor sucht sie Rat bei der steinernen Fürstin-Äbtissin,
die ihr die Augen öffnet: „In uns ist die Nacht und ihr großes
Werden, in uns ist die Welt und ihr Neugebären“ klärt sie Lianora
auf und empfiehlt ihr, sich für die Liebe zu entscheiden, den zu
erwählen, vor dem sie „erbebe“. Es ist zunächst nur seine Stimme,
der sehnsuchtsvolle Gesang, der sie Nacht für Nacht betört.
Schwarz gewandet und maskiert bleiben Identität und Herkunft
verborgen, bis er sie vor den gewaltsamen Zugriffen ihres Vetters
Tancreds rettet und küsst. Die Geschichte nimmt – trotz des
unbeschwerten Beginns – eine tragische Wendung. Lianora bekennt
sich zwar zu dem großen Unbekannten und erklärt ihn vor aller
Öffentlichkeit zu ihrem Gemahl, doch als sich der Zukünftige als
Bootsmann Ciullo, als einfacher Mann aus dem Volke entpuppt, zieht
sie ihr Eheversprechen zurück.
Lianora (Lina Liu, links) sucht Rat
bei der steinernen Äbtissin (Gritt Gnauck, rechts).
Mascha Pörzgen, die für die Neuinszenierung, die neue
Erstbegegnung des Theater Osnabrück verantwortlich zeichnet,
erzählt aus der Perspektive einer pubertierenden, von Ängsten und
Verlockungen geplagten Lianora, bereitet jedoch die vorhersehbare
Handlung ohne dramatische Spannung auf. Frank Fellmann hat ein
Mädchenzimmer mit Meertapete, großem Himmelbett und
aufgebrochener Zimmerdecke auf die Bühne gestellt. Seine Kostüme
versinnbildlichen den Mädchentraum schlechthin. Lianoras Dutt,
fantasievoll arrangierte Röcke und farbenprächtige Wollstrümpfe
erinnern an die exotischen Welten einer kirgisischen Prinzessin.
Die rosa gewandeten Gespielinnen tragen romantisch bunte
Blumenkränze und Schleifchen im Haar und Märchenprinz Tancred
changiert zwischen blondem Lohengrin in azur leuchtendem Anzug,
Abenteurer und Ritterrüstung. Kontrastierend zu den Märchenfiguren
erscheint Bootsmann Ciullo im Profil als ganz in schwarz
gehüllter, symbolistischer Fährmann. Fellmann schuf auch die
Videoinstallation für das lanagatmige Orchesterstück im zweiten
Akt. Ruhig bewegt oder aufgewühlt schillert da das Meer, führt
anspielungsreich aber ohne Tiefgang die Ängste, Träume und
unerfüllten Sehnsüchte einer jungen Frau vor Augen.
Ganz anders der alle Märchenfiguren berauschende Gesang des
Bootsmanns, das „Lied der Nacht“ selbst. Da erklingt kein „Nessun
dorma“, eher ein schlichter, im 6/8-Rhythmus von Ferne rufender
Gesang eines Gondoliere, den Ferdinand von Bothmer klangschön,
lyrisch schlank und hell timbriert gestaltet. Gáls Musik ist tonal
verankert und für eine Komposition der 1920er Jahre konservativ.
Und doch schillert und fließt harmonisch ein von Brüchen und
Kontrasten durchsetzter Farbenreichtum, den das Osnabrücker
Symphonieorchester unter der Leitung von Andreas Hotz transparent
in Szene setzt. Lina Liu singt die anspruchsvolle Partie der
Lianora. Textverständlich, mit strömenden, klangschönen
Melodiebögen, stechend hohen Spitzentönen und warm grundierter
Tiefe rührt ihr Gesang. Überzeugend verkörpert auch Susann
Vent-Wunderlich die Rolle der Freundin Hämone sowie Gritt Gnauck
die Fürstin-Äbtissin.
Hans Gáls Oper Das Lied der Nacht wartet auf weitere
Interpretationen, auf detaillierte, die Musik einbeziehende
Auseinandersetzungen von Fantasie und Wirklichkeit. Ulrike
Schumann erwähnt in ihrem Beitrag im Programmheft zum Beispiel den
Bezug des Librettos zu Familiengeschichte und Bohemienleben des
Librettisten und homosexuellen Außenseiters von Levetzow. Man darf
gespannt sein.
FAZIT
Das Lied der Nacht
ist eine Entdeckung, die mit spannenderen Inszenierungen unser
Musikleben bereichern kann und vor allem die Rezeption der
1920er Jahre in Deutschland erweitert.