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b.32

Petite Messe solennelle (Uraufführung)

Ballett von Martin Schläpfer
Musik von Giacchino Rossini (Petite Messe Solennelle für Sopran, Alt, Tenor, Bass, zwei Klaviere, Harmonium und gemischten Chor, Klavierstücke aus den Péchés de vieillesse)

Aufführungsdauer: ca. 2h (eine Pause)

Uraufführung am 2. Juni 2017 im Opernhaus Düsseldorf


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Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Das Hohe und das Niedrige

Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt

Martin Schläpfer läuft sich schon mal warm fürs große Handlungsballett. Schließlich wagt er sich in der nächsten Spielzeit an nichts Geringeres als den Schwanensee. Kleine narrative Szenen gab es zuletzt zwar immer in seinen Choreographien, doch eher am Rande. In dieser Version von Rossinis Petite Messe Solennelle geht es ungleich konkreter zu: Florian Ettis ziemlich holzschnittartiges Bühnenbild mit drei asymmetrischen Bögen lässt sich als Kirchenraum wie als Piazza eines italienischen Dorfes deuten, vielleicht auch Keller einer düsteren Spelunke, spielt auf faschistische Architektur an wie auf die Moderne, und notfalls lassen sich trotz fehlender Eleganz auch Renaissance-Arkaden darin erahnen. Wirklich schön sieht es nicht aus, ist aber bedeutungsschwer in seiner Vieldeutigkeit. Vorhang auf zum großen Welttheater.

Vergrößerung Die alte Frau: Christine Jaruszewski und Ensemble

Rossini hat sich selbst ironisch über sein Alterswerk geäußert. Der gefeierte Opernkomponist (der sich freilich längst zur Ruhe gesetzt hatte und nur noch gelegentlich komponierte) und eine Vertonung der katholischen Messe, das liefert in seinem Widerstreit von weltlicher und geistlicher Sphäre (und zwischen hoher Kunst und Gassenhauer) die konzeptionelle Grundlage zu Martin Schläpfers Choreographie. So wie der Bühnenraum gleichzeitig Kirche und Marktplatz sein kann, so erscheint hier der Mensch im Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde, zwischen Religion und banaler Alltagssphäre. Die Kostüme (ebenfalls von Florian Etti entworfen) spiegeln dezent das Italien der 1940er-Jahre wieder, das im künstlerischen Gedächtnis vor allem durch den filmischen Neorealismus wie de Sicas Fahrraddiebe präsent ist: Eine Welt des Sich-behaupten-Müssens der "kleinen Leute". Das schafft eine historische Distanz, zeigt eine Kunst-Welt und greift dennoch Rossinis Italianitá auf.

Vergrößerung

Der Priester: Alban Pinet und Ensemble

Schläpfer erzählt keine durchgehende Geschichte, sondern montiert eine Reihe von Genre-Szenen nebeneinander. Es beginnt mit einer Frau (Mariana Dias), die unter einer Reihe von Stühlen kauert, allmählich zum Leben erwacht, zum Kyrie eleison ("Herr, erbarme Dich") stürzt und sich aufrichtet, offenbar mit Gott wie mit dem Leben ringt und damit das Thema vorgibt (und ein Problem des Stückes ist, dass damit ziemlich schnell auch schon ziemlich viel gesagt ist von dem, worum es geht). Später wird eine andere Frau (Camille Andriot), mit etlichen Rosenkränzen wie mit schweren Ketten behängt und fast niedergedrückt, im Crucifixus ein großes Solo tanzen, dabei die Rosenkranz-Ketten abwerfen und in leicht hysterischer Extase enden. Im Dona nobis pacem ("Gib' uns Frieden") schließlich steht erst eine, dann mehrere Frauen gegen die Gruppe, aus der Dorfgemeinschaft Ausgeschlossene. Schläpfer traut dem Katholizismus nicht und führt dessen theatralische, mitunter unmenschliche Dimension vor. Der Gott der katholischen Kirche bleibt in der Choreographie sehr fern.

Vergrößerung Marlúcia do Amaral

Es gibt die alte Frau im einfachen Kleid (Christine Jaroszewski), die leitmotivisch auftritt, so etwas wie die Über-Mutter; es gibt den Priester (Alban Pinet) und die Verlockungen der Welt (ein gefährliches, weil extrem klischeebeladenes Bild), die herumlungernden jungen Männer, einen Brotverkäufer und sogar die roten Fahnen wehen. Welches Portrait auf diesen Fahnen mitweht, ist leider nicht zu erkennen - angeblich soll es sich um Mussolini handeln (Mussolini auf der roten Fahne - das vereint die zwei Heilsvisionen von den Enden der politischen Skala). Nach der Pause (die das doch gar nicht so lange Stück unnötig zerreißt) sitzen ein paar rauchende Jünglinge auf der Bühne, wo man zum Offertorium den Altar (und Weihrauch) erwarten würde - auch so eine bitterböse Volte. Nicht jedes Detail wird auf der Bühne deutlich. Dramaturgin Anna do Paço hat einen hilfreichen Aufsatz für das Programmheft geschrieben, in dem sich manches nachlesen lässt. Mitunter aber entsteht droht der zweifellos sehr kluge gedankliche Überbau das Stück zu erdrücken.

Vergrößerung

Nikotin statt Weihrauch - Rubén Cabaleiro Campo, Eric White, Brice Asnar, Yoav Bosidan, Bruno Narnhammer, Philip Handschin

Schläpfer springt aber immer wieder aus der sehr handfesten Darstellung des Dorflebens auf eine abstrakte, allein vom Tänzerischen bestimmte Ebene. Da tauchen plötzlich Elemente eines klassischen pas de deux auf und Soli und Ensemble mit großen Gesten und großen Sprüngen, die den Realismus wieder abschütteln. Das sind die choreographisch interessanteren Momente, zumal sie sehr genau auf die Musik hören. Schläpfer blendet zwischen dieser "tänzerischen" Schicht und der "realen" Welt hin und her, fokussiert mal diese, mal jene Sphäre. Die Übergänge sind dabei fließend und lassen Überlagerungen zu. Faszinierend gelungen sind die Ensebles, darunter die beiden Fugen, kraftvoll trotzig gestampft im cum sancto spiritu, fließender und eleganter am Ende des Credo.

Tanzästhetisch setzt sich Schläpfer mit diesem Verfahren zwischen vielleicht nicht alle, aber so einige Stühle: Anhängern des kleinteiligen Handlungsballetts könnte das zu wenig an Handlung, puristischen Schläpfer-Fans bereits zu viel sein, zumal es den "Handlungsszenen" mitunter an der Souveränität fehlt, einfach "nur" erzählen zu wollen. Es gibt, zum Beispiel, eine ziemlich alberne Nummer für mehrere Tänzer, die mit großen Schinken(!) hantieren (diese "wie eine Monstranz", so steht's im Programmheft, vor sich her tragen - die Assoziation stellt sich allein beim Sehen nicht unbedingt ein). Das dürfte ruhig leichter, weniger um Bedeutung bemüht choreographiert sein - es bleibt der Eindruck, dass Schläpfer noch "fremdelt" mit dem Handlungsballett. Mitunter wirkt diese Petite Messe Solennelle wie ein großes Potpourri, bei dem der Choreograph auslotet, was zu den verschiedenen Seiten möglich ist, ohne den großen, bei allen disparaten Elementen Homogenität stiftenden Zusammenhang ästhetisch gefunden zu haben.

Vergrößerung Ensemble

Recht gut ist es um die musikalische Seite bestellt. Die Rheinoper hat für diese Produktion hat zwei Flügel des legendären Pariser Klavierbauers Pleyel von 1857 aufgetrieben und restaurieren lassen, die einen authentischen, weichen Klang ermöglichen. Wolfgang Wiechert und Dagmar Thelen spielen sensibel und nuanciert. Das Harmonium (Patrick Francis Chestnut) ist beinahe zu dezent eingesetzt. GMD Axel Kober dirigiert unpathetisch und weniger auf den Effekt hin als vielmehr auf kammermusikalische Klarheit und die delikaten Zwischentöne. Rossini hatte sich für die Uraufführung einen Mini-Chor von gerade einmal acht Sängern vorgestellt - was selbst für eine kleine Kapelle wie bei der Uraufführung 1864 zu dünn war (jedenfalls war der Chor dann doppelt so groß). Für das ungleich größer dimensionierte Düsseldorfer Opernhaus sind es 30 ganz vorzügliche Sängerinnen und Sänger des Opernchores, die mit geringem Vibrato sehr homogen und ausgesprochen differenziert singen und nie auftrumpfend laut werden. Leider kann aus dem Solistenquartett nur Tenor Corby Welch auf diesem Niveau mithalten und findet (meistens) den richtigen Tonfall, nicht zu leicht und nicht zu schwer, während Sopranistin Morenike Fadayomi und Altistin Katharina Kunczio den Operngestus nicht richtig ablegen und immer wieder allzu "dick" im Klang sind, und Bassist Günes Gürle den richtigen Tonfall mal zur einen, mal zur anderen Seite verpasst und in einen weinerlichen, in der Intonation oft ungenauen Gestus verfällt.


FAZIT

Martin Schläpfer holt zum ganz großen Wurf aus und möchte die ganze Welt in aller Widersprüchlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit zeigen - ganz rund läuft das nicht ab, spannend ist es allemal.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Axel Kober

Choreographie
Martin Schläpfer

Bühne und Kostüme
Florian Etti

Licht
Volker Weinhardt

Chorleitung
Gerhard Michalski

Sopran
Morenike Fadayomi

Alt
Katarzyna Kuncio

Tenor
Corby Welch

Bass
Günes Gürle

Klavier
Eduardo Boechat
Dagmar Thelen
Wolfgang Wiechert

Harmonium
Patrick Francis Chestnut

Düsseldorfer Symphoniker

Tänzerinnen und Tänzer

Ann-Kathrin Adam
Marlúcia do Amaral
Camille Andriot
Doris Becker
Wun Sze Chan
Sabrina Delafield
Mariana Dias
Feline van Dijken
Sonia Dvořák
Alexandra Inculet
Christine Jaroszewski
Kailey Kaba
Yuko Kato
So-Yeon Kim
Helen Clare Kinney
Norma Magalhães
Cassie Martín
Asuka Morgenstern
Claudine Schoch
Virginia Segarra Vidal
Elisabeta Stanculescu
Julie Thirault
Irene Vaqueiro
Rashaen Arts
Brice Asnar
Yoav Bosidan
Rubén Cabaleiro Campo
Odsuren Dagva
Michael Foster
Filipe Frederico
Philip Handschin
Vincent Hoffman
Richard Jones
Sonny Locsin
Marcos Menha
Tomoaki Nakanome
Bruno Narnhammer
Chidozie Nzerem
Marcus Pei
Alban Pinet
Friedrich Pohl
Boris Randzio
Alexandre Simões
Arthur Stashak
Eric White






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