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Darf es ein wenig Kitsch sein?
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Es ist die choreographische Visitenkarte des neuen Chefs: Concerto grosso Nr. 1 ist die erste Choreographie von Remus Şucheană, der von Martin Schläpfer zum Co-Direktor des Ballett am Rhein berufen wurde. Als Musik hat er das Concerto grosso Nr. 1 von Alfred Schnittke gewählt, ein halbstündiges Werk für zwei Violinen, Klavier (im Wechsel mit Cembalo) und Streichorchester. Komponiert 1977 steht das Werk beispielhaft für Schnittkes Stil, der mit klassischen Modellen und Zitaten spielt. Şucheană greift das auf, unterlegt es mit kleinen Geschichten. Ein Mädchen geht auf Distanz zu den Eltern (mit mädchenhaftem Charme: Ann-Kathrin Adam); eine Frau verlässt ihren Geliebten (mit kontrollierter Leidenspose: Yuko Kato); eine andere Frau entfremdet sich der Gruppe durch ihren Individualismus (mit sympathischer Extravaganz Marlúcia do Amaral auf den Leib choreographiert). Alle drei wählen einen Weg in die Einsamkeit, das ist der rote Faden. Şucheană lässt sich von der Musik führen, spiegelt den Wechsel von Solo und Tutti im Tanz wieder, verwendet die Sprache des danse d'ecole korrespondierend zu Schnittkes (wenn auch verfremdeten) neoklassizistischem Formbewusstsein.
Choreographiert ist das mit souveräner Hand. Das narrative Element wird nicht zu dominant, die Tanzsprache variiert das Vertraute immer wieder mit kleinen Überraschungsmomenten. Ein gelungener Einstand, keine Frage. Was fehlt? Es wirkt fast zu "rund", zu perfekt kalkuliert. Es fehlt eine Spur Witz, Selbstironie und Abgründigkeit. Im Kontrast dazu betont der junge kanadische Dirigent Jean-Michael Lavoie am Pult der recht guten Düsseldorfer Symphoniker eher die zerfließenden Aspekte als die traditionell form- und rhythmusbildenden. Franziska Früh und Dragos Manza als Violinsolisten sowie Christian Grifa an Klavier und Cembalo dürften ruhig etwas stärker in den Vordergrund drängen. Marco Goecke: Lonesome George; Foto © Gert Weigelt Im Mittelteil folgt Lonesome George von Marko Goecke - diese Arbeit zur Musik von Schostakowitschs 8. Streichquartett (in einer Orchesterfassung) war erst 2015 im Ballettabend b.24 zu sehen (unsere Rezension). Warum gerade dieses Stück so schnell wiederaufgenommen wird? Weil es halt so gut sei, so die Dramaturgin, was nicht wirklich überzeugt, weil die Compagnie sicher noch bessere Werke im Repertoire hat. Natürlich knüpft es thematisch an Concerto Grosso Nr. 1 an, weil die Einsamkeit schon im Titel steht. "Lonesome George" war die letzte Riesenschildkröte auf den Galapagos-Inseln, letzter Vertreter der Art zumindest auf seiner Insel. Die für Goecke stilbildenden hektischen Hand- und Armbewegungen, die mechanischen Abläufe mit einer zwingenden aber nicht erkennbaren Logik üben auch beim Wiedersehen große Faszination aus. Und die Aufführung hat, wenn der Eindruck nicht täuscht, an Witz noch dazugewonnen.
Einsam ist auch Marcos Menha als zentrale Figur in Wounded Angel von Natalia Horecna. Er ist "The Love", also die "Liebe", und steht stellvertretend für den Menschen, um den das "Ego" und "The Heart", also das "Herz" ringen, jeweils flankiert von vier Mitstreitern: Fear (Angst), Jealousy (Eifersucht), Insecurity (Unsicherheit) und das "Poor me syndrom" (Selbstmitleid) auf Seiten des Ego, Wealth (Gesundheit), Self Love (Eigenliebe), Believe (Zuversicht) und Sucess (Erfolg) als Begleiter des Herzens. Damit sich das auch auf jeden Fall erschließt, haben die Tänzer ihren Rollennamen oder ein entsprechendes Symbol auf den überlangen T-Shirts aufgedruckt. Dazu kommt noch ein verwundeter Engel, den Horecna einem (in Finnland sehr populären) Bild des Malers Hugo Simberg entnommen hat und der traurig am Fuß einer Himmelsleiter sitzt. "Wounded Angel ist ein Ballett über den kleinen Wunder-Engel in uns. Es handelt davon, das Vertrauen zu leben und das Vertrauen zu uns selbst zu finden. Und davon, dass es nie zu spät ist." Das Schreibt die Choreographin über das Stück. Au weia, ein spätpubertäres Selbstfindungswerk, poesiealbumtauglich? Das "Ego" mit Begleitern: Wounded Angel; Foto © Gert Weigelt
Ganz so schlimm kommt es zum Glück nicht. Die comicartigen Kostüme hat Natalia Horecna selbst entworfen (wie auch das interessante Bühnenbild mit Himmelstreppe). Dazu choreographiert sie einen kraftvollen Stil, den sie selbst als "schmutzigen Neoklassizismus" bezeichnet, der keine völlig neuen Wege sucht, aber in kleinen Zeichen eine Distanz schafft, als würde Horecna den Tanz mit allem Traditionsballast hier von außen mit einer Portion Skepsis betrachten. Musikalisch beginnt es mit Ausschnitten aus Bartoks Wunderbarem Mandarin (und es wäre sicher interessant, wenn Natalia Horecna einmal den kompletten Mandarin oder auch Strawinskys Petruschka in diesem Stil erarbeiten würde), streift ein Stück für Klarinette und Klavier von Alban Berg (aus op.5) und Werke von Denys Bouliane; am stärksten musikalisch prägend aber ist das Duo Probosci (Timba Harris, Violine, und Gyan Riley, Gitarre), die dem Aussehen nach ebenfalls direkt dem Bild Simbergs entsprungen sind, ein Fiedler mit Begleiter aus dem Dorfleben des 19. Jahrhunderts (streng genommen von 1903, als das Gemälde entstand) mit einer volksliedhaften Musik. Das ist von ziemlich frecher Ästhetik, die den herzensgut naiven Ansatz gleich wieder in Frage stellt. Sozusagen bewusster Kitsch mit Ironiefaktor als Waffe gegen den hinter der Idee lauernden Kitsch. In dieser Ambivalenz funktioniert das tatsächlich recht gut. Am Ende siegt natürlich das Herz über das Ego. Aber welcher Kitsch hat jetzt gewonnen, der gute oder der böse? Das muss jeder für sich entscheiden.
Ein achtbares Debut von Remus Şucheană, ein schräges Comic-Ballett ohne Angst vor Sentimentalität von Natalia Horecna, dazwischen eine Wiederaufnahme eines eigenwillig faszinierenden Arbeit von Marco Goecke - ein interessanter Ballettabend. Gemessen an den selbst gesetzten hohen Ansprüchen von Martin Schläpfers Compagnie aber einer der schwächeren Sorte. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamConcerto grosso Nr. 1
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Violine
Klavier/Cembalo
Musikalische Leitung Düsseldorfer Symphoniker Tänzerinnen und TänzerAnn-Kathrin AdamYuko Kato Marlúcia do Amaral Doris Becker Sabrina Delafield Sonia Dvo?ák Nathalie Guth Alexandra Inculet Christine Jaroszewski Kailey Kaba So-Yeon Kim Norma Magalhães Asuka Morgenstern Virginia Segarra Vidal Elisabeta Stanculescu Irene Vaqueiro Rashaen Arts Brice Asnar Yoav Bosidan Rubén Cabaleiro Campo Odsuren Dagva Michael Foster Filipe Frederico Philip Handschin Vincent Hoffman Sonny Locsin Tomoaki Nakanome Chidozie Nzerem Marcus Pei Friedrich Pohl Arthur Stashak Eric White Lonesome George
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Dramaturgie
Musikalische Leitung Düsseldorfer Symphoniker Tänzerinnen und TänzerMarlúcia do AmaralCamille Andriot Wun Sze Chan Mariana Dias Nathalie Guth Michael Foster Sonny Locsin Arthur Stashak Marcos Menha Bruno Narnhammer Alban Pinet Alexandre Simões Wounded Angel
Choreographie,
Bühnenrealisation
Licht
Klavier
Klarinette Duo Probosci:
Musikalische Leitung Düsseldorfer Symphoniker Tänzerinnen und Tänzer
The Love
Wounded Angel
The Heart
Ego
Fear
Jealousy
Insecurity
Poor me Syndrom
Wealth
Self Love
The Believe
Success
The Soul's Couple
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