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Mehr als operntheoretisches Geplänkel
Von Thomas Tillmann
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Fotos Bernd Uhlig / La Monnaie Ganz leicht ist sie nicht, die Reise ins Interimsquartier der Brüsseler Oper: Angekommen am Nordbahnhof, wartet man doch eine ganze Weile auf einen Platz in den kleinen Shuttle-Bussen zum "Palais de la Monnaie" (aber immerhin, den Musikerinnen und Musikern geht es auch nicht besser), und nach der Vorstellung ist man schnell wieder in der Realität, wenn man kreuz und quer durch ungastliches Gelände sprintet, um den Zug zurück noch zu erwischen. Und nein, nicht ein- bis zweimal stört Fluglärm massiv die Vorstellung - Flamands Sonett ist stellenweise davon überlagert, Madeleines Schlussszene gleich dreimal, und das lässt sich dann auch nicht mehr damit schönreden, dass es ja in David Martons vielschichtiger, verstörender, berührender Sicht auf Strauss' Capriccio auch um Flucht und Deportation geht. Ansonsten aber passt diese bereits in Lyon gezeigte Produktion mit all ihren Brechungen und permanenten Perspektivwechseln sehr gut in in das Opernzelt, denn das Verschwimmen der Ebenen wird noch unterstrichen durch den improvisierten Spielort, der Lüster und in die Jahre gekommene Plüschsessel einerseits und funktionale Zeltarchitektur und grobe Hafenschäbigkeit andererseits vereint. Gräfin Madeleine (Sally Matthews) und ihr Bruder (Dietrich Henschel) parlieren munter über Liebe und Kunst und ziehen sich damit den Unmut des Haushofmeisters (Christian Oldenburg, links) zu.
Schön ist sie anzusehen, die wunderbar morbide, detailverliebt ausgestattete und von Henning Streck unaufdringlich atmosphärisch ausgeleuchtete Traumwelt von Christian Friedländer, in der das Theater selbst auf der Bühne erscheint, man schaut links auf den Unterbau, in dem Kulissen und Kostüme lagern, rechts in den Zuschauerraum und ganz außen ebenso wie im Hintergrund auf die Logen. Und dann sind da noch die Videoprojektionen links und rechts von der Bühne, in denen einzelne Aspekte des dortigen Geschehens noch zusätzlich verdoppelt werden - ein ambivalenter Aspekt, denn er verdichtet zwar einige szenische Details, lenkt aber auch von vielem anderen ab, und es gibt viel zu sehen in dieser Inszenierung, vielleicht das eine oder andere Mal sogar ein bisschen zu viel, was David Marton anders als viele Kollegen gar nicht nötig hat, er hat das Stück verstanden und erzählt es bemerkenswert intensiv für ein Publikum von heute, er weiß Sängerinnen und Sänger zu inspirieren, erstaunlich stark mit ihren Rollen zu verschmelzen (die Livevideos belegen es). Häufig finde ich es eher nervig, wenn eine Figur vervielfacht wird, aber in diesem Konzept macht es sehr wohl Sinn, Madeleine von drei Tänzerinnen unterschiedlichen Alters spiegeln zu lassen: Am Schluss begegnet sie sowohl sich selbst als kleinem, zum Balletttraining gezwungenen Mädchen, als genusssüchtiger Frau in mittleren Jahren, die in der Loge Tasse um Tasse leert, als schwer gewordene Greisin auf etwas wackeligen Beinen. Alle drei tauchen bereits den ganzen Nachmittag auf, nicht zuletzt werden sie deportiert, während die upper class sich kunsttheoretisch austauscht, einen Interpretationsstrang, der sonst gern in den Vordergrund gestellt wird, den Marton aber nicht nur allein der Vollständigkeit halber einbindet, aber nicht zum zentralen Thema werden lässt (eine differenzierte Entscheidung zweifellos). Hier gilt's der Kunst: Gräfin Madeleine und ihr Bruder (vorn:Sally Matthews und Dietrisch Henschel), Theaterdirektor La Roche, die Schauspielerin Clairon, der Musiker Flamand und der Dichter Olivier (in den Logen von links nach rechts: Kriostinn Simundsson, Charlotte Hellekant, Edgaras Montvidas und Lauri Vasar).
Sally Matthews kommt mit ihrem nicht sehr großen, in der Höhe etwas klirrendem, unter Druck zu etwas Schärfe neigenden lyrischen Sopran bis zum Schlussmonolog nicht an allererste Interpretinnen der Gräfin Madeleine heran. Und dann passiert ein kleines vokales Wunder: Plötzlich klingt die Stimme nicht mehr zu klein, plötzlich hat sie Körper und Volumen in der Mittellage, plötzlich überstrahlt sie das wunderbar musizierende Orchester, plötzlich bekommt das Singen der Britin etwas Zwingendes, Euphorisches, ungemein Mitreißendes, plötzlich versteht man viel mehr vom schönen Text. Darstellerisch und optisch ist sie ohnehin eine wunderbare Madeleine an der Seite von Dietrich Henschel, der sehr engagiert spielt und hervorragend singt und dabei die Erinnerung an den großen Fischer-Dieskau klanglich pflegt. Für wen soll sich Gräfin Madeleine (Sally Matthews, links oben) entscheiden? Für den Komponisten Flamand (Edgaras Montvidas, oben rechts) oder den Dichter Flamand (Lauri Vasar, rechts unten; links unten: eine junge Tänzerin, ein "Spiegelbild" der Gräfin).
Sehr ordentliche Leistungen steuern daneben der höhenstarke, vielleicht mit etwas zu viel Druck, aber glutvoll singende, sehr um Textverständlichkeit bemühte Edgaras Montvidas und Lauri Vasar als sein schreibender Konkurrent Flamand bei. Es macht Sinn, dass Kristinn Sigmundsson den großen Monolog des La Roche mit all seinen mahnenden Phrasen direkt ins Publikum singt - was für eine Aussagekraft haben diese Worte der Richard Strauss und Max Reinhardt verwandten Figur, wenn sie von einem so erfahrenen Interpreten mit noch immer bedeutender Stimme gesungen werden und Assoziationen an Hans Sachs, Wotan, Barak und auch ein wenig an Ochs auf Lerchenau sich einstellen. Mit ihrer großen Kunst und kräftigem, herben Mezzosopran war Charlotte Hellekant eine Clairon comme il faut, François Piolino mit klarem lyrischen Tenor und erster Diktion ein vorzüglicher Monsieur Taupe (in dieser Produktion irgendetwas zwischen Kritiker, Gestaposcherge und Souffleur). Nicht schlecht, aber auch nicht brillant präsentierten sich Elena Galitskaya und Dmitry Ivanchey als italienisches Sängerpaar. Christian Oldenburg hat als schmucker Haushofmeister im gräflichen Schloss mehr Aufgaben als in anderen Produktionen, dazu sind die Berührungen seiner Herrschaft zu intim, und er selber scheint einen sehr verliebten Blick auf Flamand geworfen zu haben, was die Gräfin amüsiert fortspinnt. Ganz vorzüglich präsentiert sich das Symphonieorchester von den ersten Takten des Streichquartetts an, es rauscht leidenschaftlich, aber stets kontrolliert und erfreulich unsentimental unter Lothar Königs' umsichtiger Leitung. FAZIT Ein Nachmittag voller starker, schöner Bilder und beglückender musikalischer Momente. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Kostüme
Licht
Solisten
Die Gräfin
Der Graf,
Flamand,
Olivier,
La Roche,
Die Schauspielerin
Monsieur Taupe
Eine italienische Sängerin
Ein italienischer Tenor
Eine junge Tänzerin
Der Haushofmeister
Diener
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