Macht wider Willen
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg folgen
Das Theater Osnabrück eröffnet die Spielzeit 2015/16
mit einer nachdenklich stimmenden Inszenierung von
Verdis düsterem Meisterwerk Simon Boccanegra.
Simon
Boccanegra (Rhys Jenkins) im Prolog vor seiner Wahl zum Dogen
Schon im Prolog verbinden sich Privates und
Politisches zu einem tragischen, unheilvollen Drama: Als der
Seeräuber Simon Boccanegra – von Veronika
Lindner zunächst wie eine melancholisch clowneske
Spielfigur kostümiert - erfährt, dass das Volk ihn
zum Dogen von Genua wählen will, freundet er sich
schließlich mit dem Gedanken an. Er will die neue
politische Position nutzen, um sich mit seinem
adligen Gegenspieler Fiesco auszusöhnen und hofft,
auf diese Weise die Tochter Fiescos, Boccanegras
Geliebte und Mutter seiner Tochter Maria
standesgemäß ehelichen zu können. Doch dann die
grausame Ernüchterung. Während das Volk ihn als neu
gewählten Dogen feiern will, findet Boccanegra die
Leiche seiner Geliebten im Palast.
Das nächste Schicksalsschlag kommt 25 Jahre später.
Boccanegra, glücklich seine verloren geglaubte
Tochter Maria, die als Amelia Grimaldi lebt,
wiedergefunden zu haben, macht sich seinen
ehemaligen Günstling Paolo zum Feind und Mörder,
weil er ihm die Heirat mit seiner Tochter
verweigert. Schließlich muss er erfahren, dass der
Geliebte seiner Tochter der Verschwörer Gabriele
Adorno ist. Die Verstrickungen nehmen ihren Lauf.
Zwar wird Boccanegras von Aufständischen bedrohte
Macht wieder hergestellt, Intrigant Paolo seiner
gerechten Strafe zugeführt und das Amt des Dogen dem
geläuterten Schwiegersohn Gabriele Adorno übergeben.
Zwar schafft er es, sich mit seinem
Patrizier-Erzfeind Fiesco auszusöhnen, aber sein Tod
steht unmittelbar bevor.
Amelia
Grimaldi (Lina Liu) und Gabriele Adorno (Michael Wade Lee)
beim nächtlichen Stelldichein im ersten Akt
Regisseur Jochen Biganzoli erzählt in seiner
Osnabrücker Inszenierung die tragischen Ereignisse
aus einer endzeitlichen Perspektive, wobei die
privaten Schicksalsschläge auf Kosten der parallel
stattfindenden historisch-politischen Ereignisse in
den Vordergrund gerückt sind. Es ist die erlittene
Gewalt, die Gewissheit zu sterben und eine damit
verbundene Entfremdung und Vereinsamung, wie
Ingeborg Bachmann sie in ihren Gedichten
thematisiert, die dem Opernabend seine besondere
Tiefe geben. Gleich zu Beginn rezitiert Marie Bauer
eindrucksvoll (die Stimme erklingt aus dem Off) „Es könnte viel bedeuten“. Später kommen noch drei
weitere Gedichte an ausgewählten Schlüsselstellen
hinzu. Und wie sehr die poetischen Strömungen des
Unterbewussten ihre eigene szenische Evidenz
entfalten, wird deutlich, wenn bspw. vor Beginn des
kleinen, gespenstisch flirrenden Orchestervorspiels
zum ersten Akt das Ingeborg Bachmanns Gedicht „Fall
ab, Herz“ erklingt. Das nächtliche Stelldichein von
Amelia Grimaldi und ihrem Geliebten Gabriele Adorno
erscheint plötzlich als assoziationsreiches Netz
bzw. Nebeneinander von Wirklichkeit und Erinnerung,
gefolgt von der toten Maria, die bis zum Schluss
immer wieder als Projektion erscheint.
Tilo Steffens ansprechende Bühnenarchitektur stellt
einen von grauen, stilisierten Häuserfassaden mit
quadratischen Fenstern und rechteckigen Türöffnungen
gerahmten, nüchternen Spieltort dar, der sich mit
kleinen Requisiten wie Sonnenschirm und Decke und
Beleuchtung schnell in die vorgesehenen Tageszeiten
und so unterschiedliche Handlungsorte wie Platz in
Genua, Zimmer des Dogen, Ratssaal, Garten mit Blick
aufs Meer verwandeln lässt.
Für den kontinuierlichen Spannungsbogen des Abends
sorgt neben der genauen, mit zahlreichen
Spannungspausen durchsetzten Erzähltechnik
Biganzolis vor allem auch die meisterlich
einstudierte, kontrastreiche, verschiedene Tempi,
melancholische, lyrische und dramatische Phasen
berücksichtigende musikalische Darbietung des Extra-
und Opernchores des Theater Osnabrück, des
Osnabrücker Symphonieorchesters und
Gesangsolistenensembles unter der umsichtigen
Leitung Andreas Hotz. Auch Hotz lässt Raum für Ruhe,
zum Innehalten und Verarbeiten, als wenn die Musik
die Wahrnehmung der handelnden Personen
widerspiegele.
Neu im Gesangssolistenensemble ist der walisische
Bariton Rhys Jenkins. Klang- und kraftvoll
interpretiert er den mächtigen und melancholischen
Simon Boccanegra. José Gallisa verkörpert mit
sonorer Tiefe und dramatischem Brustregister den
Rache lüsternen Fiesco. Mit gleichmäßig strömender,
mühelos wirkender Klangrede stellt Lina Liu seine
Enkeltochter Maria alias Amelia Grimaldi dar.
Bezaubernd ist das Duett im zweiten Akt mit dem
strahlenden Tenorklang Michael Wade Lees als
Liebhaber Gabriele Adorno.
FAZIT
Mit guten Solisten, einer
nachdenklich stimmenden, anrührenden musikalischen
und szenischen Interpretation des Verdi-Musikdramas
gelingt dem kleinen Theater Osnabrück ein
fulminanter, ganz eigener Einstieg in die Spielzeit.