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Durch Räume und Träume Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger
Im Mittelalter war das
flandrische Brügge eine reiche Handelsstadt, die durch die
Wasserläufe Zwin und Reie einerseits direkt mit der Nordsee
verbunden war und andererseits mit Kanälen durchzogen und somit
nicht nur von und durch, sondern auch im Wasser lebte. Die
Lebensader zur Nordsee wurde durch das Versanden des Zwin am Ende des
15. Jahrhunderts abgeschnitten und Brügge starb. Aus einer Stadt
voll praller Lebendigkeit wurde eine bedeutungslose, geradezu tote
Stadt. Der belgische Schriftsteller Georges Rodenbach nutzte diesen
Hintergrund als Parallele in seinem symbolistischen Roman Bruges-la-Morte (Das tote Brügge),
der als Vorlage für Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt diente. Der
Komponist selbst skizzierte die Handlung, Hans Müller begann das
Libretto und der Vater des Komponisten, Julius Korngold, beendete es
unter dem Pseudonym Paul Schott.
Welche Bildparallele könnte besser zur Geschichte Brügges
passen, als das Sterben einer großen, glücklichen Liebe? Und
welche besser zum Versanden einer Lebensader als das Gefangensein in
der Erinnerung, der Vergangenheit?
Marta Herman
(Brigitta), Marian Pop (Frank)
Paul hat seine Frau Marie
verloren, lebt in der Erinnerung an sie und hat sich ein Zimmer
eingerichtet, in dem er alles, was ihn an Marie erinnert, wie Reliquien
verehrt. Als er auf der Straße zufällig Marietta – eine
Tänzerin – trifft, die Marie zum Verwechseln ähnlich sieht,
lädt er sie zu sich nach Hause ein. Als sie dort auch noch das
Lied singt, das Paul mit Marie in innigste Verbindung bringt, geht
seine Phantasie mir ihm durch. Nachdem Marietta ihren kurzen Besuch
beendet hat, verfällt er in Visionen. Marie und Marietta,
Realität und Phantasie, Wunsch und Wahn verschwimmen darin und mit
inneren und äußeren Kämpfen, Prozessionen und
großem Theater befreit er sich von der toten Marie, indem er die
lebendige Marietta erwürgt. Als Marietta kurz zurückkommt, um
etwas Vergessenes abzuholen, erwacht er aus seiner Vision und erkennt
seine Befreiung. Zusammen mit seinem Freund Frank geht er auf Reisen
und verlässt die im doppelten Sinne tote Stadt, um ein neues Leben
zu beginnen.
Das Team um Regisseur Markus Dietz hat die Geschichte der 1920
gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführten Oper für
die Neuinszenierung am Staatstheater Kassel vom Ende des 19.
Jahrhunderts in die Gegenwart verlegt, folgt damit aber nicht nur
einfach dem allgemeinen Trend, sondern erreicht damit einen
ähnlichen Gegenwartsbezug, wie er bei der Uraufführung
bestand. Bühnenbildnerin Mayke Hegger hat als einheitlichen Rahmen
einen hellen Raum geschaffen, dessen Hintergrund für
Veränderungen offen ist. Zunächst sieht man eine
bühnenbreite und –hohe raumteilerähnliche, weiße
Regalwand, in der Paul Bilder und Reliquien präsentiert
(Schal, Laute, Duftflakons, Briefbündel, Maries Zopf usw.). Die
Rückwand bildet eine Leinwand, auf der Fotos und Filme der
Verstorbenen gezeigt werden können. Ein multimediales
Erinnerungszentrum, das mit einer Fernbedienung gesteuert werden kann.
Perspektivisch geschickt
öffnen sich bei hochgezogener Leinwand im Hintergrund verschiedene
Wege, Raumtiefen und Spielebenen, die durch den Einsatz der Hubpodien
auch unterschiedlich abgestuft werden können. Werden sie einzeln
versenkt, können sie schmal und lang an Brügges Kanäle
erinnern, deren Wasser vieles verschluckt und manches wieder hergibt.
Als permanentes Bühnenelement steht in der Mitte der Bühne
ein schlaflagerähnlicher, gepolsterter, weißer Quader.
„Die Kirche des Gewesenen“, wie Frank Pauls Wohnung bezeichnet, ist ein
ausgesprochen überzeugendes Bühnenbild. Durch Beleuchtung
erhält der eigentlich weiße Raum eine traurig-graue
Grundstimmung und leuchtet nur dann auf, wenn Pauls Erinnerungen
besonders schön werden oder Marietta anwesend ist. Die
Visionen/Traumbilder/Wahngedanken bewegen sich ebenfalls in diesem
jeweils nur wie beschrieben veränderten Raum und lassen
zunächst geschickt offen, ob es nun Realität oder Fiktion
sein soll, was da gerade geschieht. Im Nebeneffekt verhindert das
auch, dass die Pferde mit der Regie gänzlich durchgehen, denn im
Traum wäre ja nun mal alles möglich – und das kann zu den
wildesten Auswüchsen führen.
Die grundlegende Regieidee
ist die körperliche Anwesenheit Maries, durch die sich spannende,
spiegelähnliche Bilder ergeben und Konflikte und Konkurrenzen
visualisiert werden. Etwa wenn Paul Marietta durchs Haar fährt und
Marie ihm gegenüberstehend die Bewegung spiegelt. Ganz
großartig wirkt die Erscheinung Maries mit dem warnenden Gesang
auf der Hinterbühne wie aus einer anderen Dimension. Je näher
sich Marietta und Paul kommen, umso trauriger wird Marie, was dann
schnell in zickige Giftigkeit und geradezu brutales Einfordern
sexueller Ansprüche umschlägt. Viele Details, wie Pauls
schwarze Krawatte, die zeigt, dass er die Trauerphase nie verlassen hat
und die gleichen roten Kleider von Marie und Marietta (Kostüme:
Henrike Bromber) lassen sich im Laufe des Abends entdecken.
Ensemble und Opernchor
Es erscheint zwar
bedeutungsvoll, wenn Paul erst mit Marie kopuliert, während
Marietta im Hintergrund tanzt und sich das Bild durch den
Befreiungstraum dann umkehrt und die Damen die Plätze gewechselt
haben – die Frage ist nur, warum das Ganze auf die sexuelle Ebene
gezogen werden muss. Marietta ist Tänzerin, aber keine
Tabledancerin. Klar, das ist bühnenwirksam und Nacktheit wird
immer wieder gern genommen, aber das zieht Pauls Liebe auf eine optisch
beherrschende Ebene, die seine vielschichtige, tiefe emotionale
Zuneigung und Abhängigkeit in den Hintergrund drängt. Das ist
schade und auch nicht musikkonform. Besonders grenzwertig erscheint in
den Traumbildern die gekreuzigte Marie im blutigen Hemd, die
Gesellschaft, die mit roten Hände auf sie zeigt, als hätten
sie ihre Hände vorher in ihrem Blut versenkt, das sie im Abgehen
effektvoll auf die schönen weißen Seitenwände
schmieren. Vom leuchtenden Kreuz herabgestiegen, versucht Marie mit
Paul Sex zu machen, während der Kinderchor, auf deren Gesichter
Kreuze oder Teilkreuze geschminkt sind, zuschaut bis Marietta die Szene
auflöst. Blut, Kreuz, Auferstehung, ein Erlöser… das kommt
bekannt vor. Wie gesagt, im Traum ist alles möglich, aber dieser
Erlöserinnengedanke scheint doch ein bisschen weit hergeholt. Die
christlichen Elemente der Erlösung sind in Libretto und Partitur
durch die Prozession und die Nonnen enthalten und deuten damit an, was
nicht unbedingt und schon gar nicht in dieser drastischen Form
umgedeutet werden muss. Der Eintritt Brigittas (Pauls treuer
Haushälterin) in ein Kloster gehört ebenfalls zu den
vielschichtigen Andeutungen, die traumanalytisch ein Festessen
sind. Dass Brigitta oben die Kopfbedeckung einer Nonne trägt
und unten schwarze Reizwäsche, gehört hier hingegen zum
sexuell orientierten Regiegedanken. Nur durch das Träumen
lässt sich erklären, dass nicht nur Paul, sondern auch
Marietta Marie sehen und berühren kann und ihr den Zopf vom Kopf
reißt, um sie anschließend damit auszupeitschen.
Eva
Maria Sommersberg (Marie) und Charles Workman (Paul), Chor
Die Idee, Marie leibhaftig
auftreten zu lassen, hat ihre Reize, wird aber immer wieder auch zum
Problem der Inszenierung. Wenn sie permanent auf der Bühne
anwesend ist und nicht nur durch die Räume und Träume
geistert (sehr lebendig, eifersüchtig und nicht nur sinnlich,
sondern auch ganz heftig körperlich und sexuell mit Paul im
Kontakt steht), fragt man sich, was er dann noch mit einer zweiten
Marie will (wobei es sich damit erklären könnte, dass die bis
zum Erwürgen klammernde „untote“ Marie eine echte Zicke ist. Das
bringt das Stück aber nicht wirklich weiter). Verwirrend erscheint
zunächst auch, dass Paul Marie nach dem Erwachen aus seinem Traum
und bevor er sein Haus verlassen kann, gleich noch einmal töten
muss. Aber letztendlich ist das die logische Konsequenz: Die tote, Paul
beherrschende Marie kann nicht nur im Traum überwunden werden,
sondern muss auch noch einmal tatsächlich aus dem Leben geschafft
werden. Der Traum ist ja nur ein Traum und in der eigentlichen
Geschichte (und im Leben im Allgemeinen und Besonderen) reicht es aus,
Träume mit Träumen zu verarbeiten. Hier aber könnte man
auf die wildesten Ideen kommen und daher seien unglücklich
Liebende trotz des gezeigten Erfolgs vor jeglicher Nachahmung gewarnt.
Neben dem
unverwüstlichen „Glück, das mir verblieb“ gibt es eine zweite
Wunschkonzertnummer in dieser Oper, die auch tatsächlich als
solche präsentiert wird. Der Chor lagert sich bequem auf der
Bühne und lauscht dem Gesang Pierrots, der auf dem Proszeniumsgang
zwischen Orchester und Publikum Paul zunächst wie einer Leiche die
Augen zudrückt, sich dann in das „Mein Sehnen, mein Wähnen“
versenkt – und damit zum größten Glücksmoment des
Abends wird. Mit höchster Stimmkultur, traumhaft schönem
Timbre und dem genau richtigen Maß an Ausdruck, um emotional zu
berühren, aber nicht ins Gefühlige abzudriften, singt Hansung
Yoo dieses Lied zum Steinerweichen. Ähnlich berührend und
überzeugend singt Marta Herman Pauls Haushälterin Brigitta
mit stimmvollem, warmem und beseeltem Mezzo. Charles Workman ist
eine attraktive Bühnenerscheinung, als Paul aber kein, wie
ansonsten in dieser Partie gewohnt, hell und klar strahlender, sondern
ein warmstimmiger und eher matt leuchtender Tenor. Das wäre
für die Figur gar nicht verkehrt, denn wieso sollte ein derart
gebeutelter Mann wie Paul in den hellsten und strahlendsten Tönen
singen? Problematischer sind die Höhen, mit denen die Stimme
überfordert zu sein scheint. Kein Spitzenton ist so atonal
komponiert wie einige, die man an diesem Abend zu hören bekommt.
Celine Byrne muss sich als Marietta erst warm singen, was aber auch der
Premierennervosität geschuldet sein kann. Atemberaubend sind ihre
wundervoll angesetzen Piano-Töne („Abend sinkt im Hag“) und der
aus der Hinterbühne gesungene Warngesang (der allerdings so klang,
als sei er klangtechnisch unterstützt). Etwas mehr Volumen
könnte der Stimme für diese Partie gut tun, die die
Sopranistin ansonsten auch schauspielerisch eindrucksvoll
bewältigt. Marian Pop hat man schon in überzeugenderen Rollen
erlebt, als Freund Frank klingt sein Bariton neben schönen
Tönen zuweilen etwas spröde und blass. Aber als
Ensemblemitglied muss man auch Partien übernehmen, die nicht ideal
in der Stimme liegen. Die Theatertruppe um Marietta ist stimmlich
adäquat und gut aufeinander abgestimmt besetzt. Eva-Marie
Sommersberg zeigt in der stummen Rolle der toten Marie eine exzellente
schauspielerische Leistung.
Die schwelgerische Musik, die in der Spätromantik verankert ist,
aber deutlich Korngolds eigenen Stil erkennen lässt und mit
gelegentlich aufklingenden Elementen an die Karriere Korngolds als
Filmmusikkomponisten erinnert, blüht unter Patrik Ringborgs
Dirigat vielfarbig und leidenschaftlich auf. Das schwelgt und tobt, das
brodelt und strahlt und zieht in einen Bann, dem man sich nicht
entziehen kann und das auch gar nicht möchte.
Ungewöhnlicher aber überzeugender Weise geht der erste
Akt nahtlos in den zweiten über, was den Sog der Musik nur noch
verstärkt. Das Orchester folgt seinem GMD willig und engagiert,
fast lupenrein, bis auf den zerfaserten Schlusston, der den
Zuhörer in die Realität des Lebens mit seinen Schwächen
neben dem Schönen zurückgeholt hat. Aber warum sollte es uns
da besser gehen als Paul? Eine ästhetisch ansprechende, gut nachvollziehbare, aber nicht in allen Regieideen überzeugende Inszenierung. Pierrot ist fantastisch und Brigitta sehr gut besetzt. Dirigat und Orchester können richtig begeistern. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
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