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Drei
Uraufführungen des modernen Tanzes Von Thomas Molke / Fotos von Klaus Lefebvre Nachdem Ballettdirektor Ricardo Fernando die vergangene Spielzeit mit dem Handlungsballett Alice im Wunderland eröffnet und damit Groß und Klein in der Vorweihnachtszeit eine Alternative zum Nussknacker geboten hat, wendet er sich in dieser Spielzeit zunächst an die Freunde des modernen Ausdruckstanzes. So gibt es drei Uraufführungen, in denen die fast komplett neu besetzte kleine Compagnie an der Volme eine große Bandbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten vorstellen kann. Während man beim modernen Tanz allerdings häufig gewohnt ist, die Musikauswahl nur vom Band zu hören, kommt an diesem Abend in allen drei Teilen das Philharmonische Orchester Hagen live zum Einsatz. Dabei ist die musikalische Besetzung dieser drei Stücke so unterschiedlich, dass bei den jeweils circa halbstündigen Teilen schon allein deshalb zwei Pausen nötig sind, um den Orchestergraben umzugestalten. Für den zweiten Teil, Heavy Light, müssen nämlich Streicher und Bläser einem riesigen Schlagwerkzeug weichen. Von der Tradition, bei den dreiteiligen Ballettabenden den letzten Teil selbst zu choreographieren, weicht Fernando auch in dieser Produktion nicht ab, und wie so oft bedient vor allem seine Choreographie auch den Geschmack eines Publikums, das dem modernen Ausdruckstanz nicht so zugetan ist. Eoin Mac Donncha in Breaking Skin Den Anfang macht der portugiesische Choreograph Hugo Viera, der in Hagen bereits vor drei Spielzeiten mit Mind over matter großen Beifall erhielt (siehe auch unsere Rezension). Seine neue Choreographie heißt Breaking Skin und handelt von den nicht näher bestimmten Obsessionen eines Menschen, die den Körper so in Beschlag nehmen, dass das Gefühl entsteht, in der eigenen Haut nicht genügend Platz zu haben und diese folglich zum Platzen bringen zu müssen. Als Text wählt er Auszüge aus Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares von dem portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa. Wenn der Vorhang sich hebt, zitiert der für diese Produktion als Gast engagierte Tänzer Eoin Mac Donncha Passagen aus diesem Buch auf Englisch, die einen Einblick in die Gedankenstruktur der Titelfigur geben. Dabei schiebt sich Mac Donncha in einem fahlen Lichtkegel auf einem in Ellipsen-Form schräg angebrachten weißen Ballettbogen mit abstrakten Bewegungen nach vorne und deutet dabei einen inneren Kampf an. Wenn das Orchester mit der Sinfonie Nr. 4 des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov beginnt, treten auch die anderen Tänzerinnen und Tänzer auf, die scheinbar den inneren Kampf Mac Donnchas nach außen tragen. Scheinwerfer, die an schräg nach oben führenden Stangen angebracht sind, erzeugen beeindruckende Lichteffekte. Ob man nun bei diesen abstrakten Bewegungen, die die Tänzer mal als Paar, mal als Gruppe in den Lichtkegeln vorführen, wirklich eine Befreiung aus der eigenen Haut erkennen kann, ist Ansichtssache. Die Bilder zeugen jedenfalls von einer ansprechenden Ästhetik, besonders wenn Mac Donncha in weißen Staub getaucht wird. Heavy Light: Ensemble Für den zweiten Teil des Abends müssen die Streicher und Bläser im Orchestergraben einem gewaltigen Schlagwerkzeug weichen, das in Darrel Toulons Choreographie Heavy Light zum Einsatz kommt. Der Titel lässt sich dabei auf zwei Arten deuten. Zum einen können die beiden Begriffe als Kontrastpaar ("schwer" und "leicht") betrachtet werden und damit wie schon das erste Stück einen inneren Kampf andeuten. Zum anderen lässt sich "Light" auch als Substantiv verstehen, so dass man an ein "schweres Licht" denkt, dass wie die Mittagsglut in der Wüste auf den Menschen lastet. An eine Wüste erinnert auch die Bühne von Peer Palmowski. Der zunächst weiße viereckige Tanzboden wird nach und nach mit aus dem Schnürboden herabrieselnden Sand bedeckt. Über diesen Boden robben die Tänzer wie Wanderer auf der Suche. Mal halten sie inne und blicken sich um, mal baden sie im Sandregen. Auch hier schafft es die Lichtgestaltung von Achim Köster, bewegende Bilder zu entwerfen, obwohl sich das Stück inhaltlich nicht wirklich erschließt. Die Musik von Steven Mackey, die den gleichen Titel beträgt, klingt mit Schlagwerkzeug, E-Gitarre und Flöte relativ abstrakt und liefert ebenfalls keine weiteren Erkenntnisse. Six Breaths: Bobby Briscoe (hinten) und Gustavo Barros (vorne) in "Under One's Breath" Etwas verständlicher gelingt dann der dritte Teil des Abends vom Ballettdirektor höchstpersönlich, den er mit Six Breaths übertitelt hat. Auch hier trägt die ausgewählte Musik von Ezio Bosso den gleichen Titel. Fernando teilt hier wie Bosso das Leben in sechs Atemzüge ein, die unterschiedliche Stationen von der Geburt bis zum Tod darstellen. Interessant ist hierbei die Orchestrierung. Bosso verwendet ein Klavier, das als Kopf der Komposition fungiert und das jeweilige Thema des Atemzuges vorgibt, während sechs Celli gewissermaßen die beiden Lungenflügel darstellen und mit eindrucksvollem Spiel die Atemzüge des Menschen versinnbildlichen. Wenn man aus der Pause in den Zuschauerraum zurückkehrt, sieht man bereits die Mundpartien der einzelnen Tänzer in großen Schwarz-Weiß-Videoaufnahmen und hört sie in ihrer jeweiligen Sprache das Thema des kommenden Stückes, den Atemzug, formulieren. Aus dem Schnürboden werden fensterförmige Bühnenelemente in unterschiedlichen Konstellationen für jeden Atemzug herabgelassen, die mit Rollos aus Lamellen einerseits als Projektionsfläche fungieren können und andererseits ermöglichen, den Blick auf die dahinter positionierten Tänzer freizugeben. Six Breaths: Ensemble Es beginnt mit dem ersten Atemzug des Menschen bei der Geburt. Hier ist das komplette Ensemble beteiligt. Auf einem steril wirkenden Bühnenboden nehmen die Tänzerinnen und Tänzer zunächst eine embryonale Haltung ein, aus der sie sich allmählich befreien, wenn sie gewissermaßen den Weg aus dem Mutterleib in die Welt antreten. Dass dies nicht immer ganz leicht ist, deuten sie mit heftigen klatschenden Bewegungen und abstrakten Posen an. Der zweite Atemzug ist nun als Terzett angelegt und zeigt, wie der Mensch in der Schnelllebigkeit der Zeit außer Atem kommt. Bobby Briscoe, Gustavo Barros und Eunji Yang drücken durch hektische Bewegungen aus, wie ein Mensch an seine Grenzen gelangen kann. Dabei überzeugen die drei durch kraftvollen Ausdruckstanz. Recht melancholisch gelingt der dritte Atemzug. Jiwon Kim Doede und Nikolaos Doede zeigen in einem eindringlichen Pas de deux, was passiert, wenn der Atem durch ein Gefühl der Trauer blockiert wird. Eindrucksvoll gelingt auch der vierte Teil, an dem wieder das ganze Ensemble beteiligt ist. Hier geht es um Atmen im Einklang. Dazu treten zunächst zwei Paare auf, die die gleichen Bewegungen vollziehen. Aus den Paaren wird zunächst eine Dreier- und dann eine Vierergruppe, wobei die beiden Gruppen immer noch im Einklang sind. Doch irgendwann werden die Gruppen so groß, dass der Einklang nicht mehr eingehalten werden kann. Von diesem Teil zeigt sich das Publikum besonders beeindruckt. Der fünfte Teil ist dann zunächst sehr leise angelegt. Bobby Briscoe schiebt Gustavo Barros zunächst wie das Pendel einer Uhr von links nach rechts. Auch die vier Tänzerinnen Kana Mabuchi, Yoko Furihata, Ana Isabel Casquilho und Tal Eitan vermitteln zu den leisen Klängen große Intimität. Zum letzten Atemzug versammelt sich dann das ganze Ensemble und lässt in ausdrucksstarkem Bewegungstanz das Leben noch einmal Revue passieren. Nach diesem Teil gibt es - erstmals an diesem Abend - regelrecht frenetischen Beifall. Das überwiegend aus Abonnenten bestehende Publikum dieser Vorstellung kann wahrscheinlich mit den ersten beiden Teilen nicht ganz so viel anfangen. FAZIT Das Ballett Hagen stellt mit einem fast komplett erneuerten Ensemble einmal wieder seine Vielseitigkeit unter Beweis. Freunde des modernen Ausdruckstanzes dürften bei diesem abstrakten Tanzabend, der auch musikalisch drei absolut unterschiedliche Stücke präsentiert, auf ihre Kosten kommen. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamMusikalische Leitung Bühne Kostüme Licht / Video Dramaturgie
Philharmonisches Orchester Hagen
Breaking Skin Choreographie Tänzerinnen und Tänzer *rezensierte Aufführung
Ana Isabel Casquilho
Heavy Light
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer *rezensierte Aufführung
Ana Isabel Casquilho
Gitarre
Six Breaths
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer *rezensierte Aufführung
Draw Breath
Out of Breath
Crying Breath
In the Same Breath
Under One's Breath
Last Breath
Weitere Informationen
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