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Inseln des zeitgenössischen Tanzes Von Thomas Molke / Fotos von Bettina Stöß Nachdem der Ballettintendant Ben Van Cauwenbergh im ersten neuen Ballettabend dieser Spielzeit mit Tschaikowskys Der Nussknacker vor allem den Geschmack der Anhänger des klassischen Handlungsballettes bedient hat (siehe auch unsere Rezension), widmet er sich im zweiten Ballettabend dem zeitgenössischen Tanz, um zum einen die ganze Bandbreite seiner Compagnie zu präsentieren und zum anderen auch die Anhänger des modernen Tanzes anzusprechen. Für die Choreographien hat er einen Ballett-Titanen gewinnen können, der seine Karriere unter dem legendären John Cranko in Stuttgart begann und anschließend lange Zeit die Geschicke des Nederlands Dans Theater (NDT) sehr erfolgreich geleitet hat: Jiří Kylián. Bis 2009 kreierte er 74 Stücke für diese Compagnie. Für das Aalto Ballett hat er davon insgesamt vier Choreographien ausgewählt, die sowohl musikalisch als auch im Bewegungskanon die Vielfalt und den Abwechslungsreichtum seiner Tanzsprache offenbaren. Wings of Wax: von links: Ana Carolina Reis, Tomá š Ottych und Yulia TsoiDen Anfang macht Wings of Wax, ein Stück, das vom NDT 1 am 23. Januar 1997 in Den Haag uraufgeführt wurde. Inspiriert ist das Stück von der mythologischen Geschichte über Daedalus und Ikarus, die versuchten, mit Wachsflügeln, die der Erfinder Daedalus konstruiert hatte, ihrer Gefangenschaft auf Kreta zu entkommen. Während Daedalus die Flucht gelang, stürzte Ikarus ins Meer, weil er der Sonne zu nah kam und dadurch das Wachs schmolz. Kylián überträgt die urmenschliche Sehnsucht nach Freiheit, die er in dieser Geschichte sieht auf die vier Tänzerinnen und vier Tänzer des Stückes. Mit Sprüngen und Hebefiguren in den Pas de deux versuchen sie permanent, dem Gesetz der Schwerkraft zu entkommen, werden dabei aber immer wieder auf den eigenen Körper zurückgeworfen. Kylián hat dafür mit dem Bühnenbildner Michael Simon einen vertrockneten Baum entworfen, der aus dem Schnürboden mit der Krone nach unten herabhängt und damit scheinbar die Schwerkraft auf den Kopf stellt. Um diesen Baum kreist ein einsamer Scheinwerfer, der die Tänzerinnen und Tänzer wie eine Überwachungskamera zu beobachten scheint. Musikalisch werden die minimalistischen Klänge von Glass' Streichquartett Nr. 5 in melancholische Auszüge aus Heinrich Ignaz Franz Bibers Rosenkranzsonate für Violine solo und Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen eingebettet. In schwarzen Kostümen bilden die Tänzerinnen und Tänzer einen Kontrast zum weißen Boden, von dem sie sich in verschiedenen Konstellationen stets zu lösen versuchen. 27' 52'': hinter dem Tuch auf der linken Seite Mariya Tyurina, rechts: Denis Untila Der zweite Teil, der rund fünf Jahre später entstand, ist noch abstrakter gehalten und trägt den Titel 27' 52''. Damit wird auf die Dauer des Stückes angespielt, das in der Vorbereitungszeit 4.418,75 Stunden in Anspruch genommen haben soll. Hierbei werden von den drei Tänzerinnen und Tänzern Zeit und Raum gewissermaßen aufgelöst. Zu sphärischen Klängen von Dirk Haubrich bewegen sie sich überwiegend paarweise über die Bühne, auf der aus dem Schnürboden in verschiedenen Ebenen weiße Tücher herabgelassen werden. Diese bieten den Tänzern teilweise Rückzugsmöglichkeiten oder dienen wie die hell angestrahlte Rückwand als Schattenspiel. Doch auch der weiße Bühnenboden wird von den Tänzern angehoben. Mal verstecken sie sich darunter, dann ziehen sie andere Tänzer mit dem Boden über die Bühne. Insgesamt erzeugt das Stück eine sehr düstere Atmosphäre, was vor allem durch den Schluss unterstrichen wird. Wenn die verbleibenden Tänzer sich unter den Bühnenboden gelegt haben, fallen die Tücher nacheinander aus dem Schnürboden herab und hinterlassen die Bühne in einem regelrechten Chaos. Diese Emotionen scheinen das Premierenpublikum sehr zu bewegen, was sich in frenetischem Beifall am Ende äußert. Petite Mort: Yulia Tsoi und Armen Hakobyan beim Pas de deux Nach der Pause geht es dann etwas heiterer zu. Zunächst gibt es eine Choreographie, die in Essen bereits 2012 im Rahmen des Tanzabends Zeitblicke zu erleben war: Petite Mort (siehe auch unsere Rezension). Das Stück gehört zu einer Sammlung von abstrakten Balletten, die Jiří Kylián unter dem Titel Black and White 1991 zum 200. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart mit dem NDT 1 bei den Salzburger Festspielen erstmals präsentierte. Der Titel nimmt zum einen Bezug zur Musikauswahl, die mit dem "Adagio" aus Mozarts Klavierkonzert A-Dur, KV 488, und dem berühmten "Andante" aus seinem Klavierkonzert C-Dur, KV 467, nur die Mittelstücke aus den Konzerten, also gewissermaßen einen "verstümmelten" Torso, präsentiert. Zum anderen deutet er die französische Umschreibung für den Orgasmus an, wenn die Tänzerinnen in engen hautfarbenen Korsagen mit den Männern in den Pas de deux zu einer Einheit verschmelzen. Bevor das "Adagio" beginnt, lässt Kylián die sechs Tänzer zunächst mit einem Degen tanzen, was im weiteren Verlauf der Musik in einen Paartanz übergeht. Ob die Degen hierbei als Phallus-Symbol oder Zeichen der männlichen Überlegenheit betrachtet werden sollen, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Schemenhaft sind im Hintergrund bereits die Frauen zu erkennen, denen die Werbung mit dem Degen zu gelten scheint. Mit einem großen Tuch, welches die Tänzer über die Bühne ziehen, holen sie die Frauen in ihre eigene Welt. Dabei wirken die Tänzerinnen eher fremdbestimmt. So schweben sie in einer Sequenz hinter Schneiderpuppen mit weiten ausladenden dunkelblauen Rokokokostümen über die Bühne. Von den zwölf Tänzern waren bereits sieben in dieser Produktion vor vier Jahren zu erleben. Schlussbild aus Sechs Tänze: Ensemble Für die Umbaupause zum letzten Stück wird dann ein Auszug aus der Choreographie Birth-Day gezeigt, die 2001 mit dem NDT 3 in Berlin uraufgeführt wurde und Slapstick pur bietet. Zu den schnellen Takten der Musik Mozarts springen eine Tänzerin und ein Tänzer in Rokokokostümen mit hohen Perücken in und um ein Bett herum und erinnern dabei stark an den Bewegungskanon der damaligen Slapstick-Komödie Väter der Klamotte. Das anschließende vierte Stück, Sechs Tänze, übernimmt zu Mozarts Deutschen Tänzen, KV 571, diese Leichtigkeit und begeistert in zahlreichen Pas de deux und Pas de trois durch grandiose Lebensfreude. Dabei treten die Tänzer nicht nur mit weißen Perücken auf, sondern verteilen bei ihren schnellen Bewegungen auch noch reichlich Puder auf der Bühne. Auch die dunkelblauen Rokokokostüme und die Degen aus dem vorherigen Stück tauchen wieder auf. Am Ende rieseln dann Seifenblasen aus dem Schürboden auf die Tänzer herab. Auch in diesem letzten Teil überzeugen die Tänzerinnen und Tänzer durch große Präzision. So wird der komplette Abend vom Publikum mit großem Jubel belohnt, in den sich auch der Choreograph Jiří Kylián einreiht. FAZIT Freunde des modernen Tanzes bekommen an diesem Abend die Vielseitigkeit von Kyliáns Schaffen eindrucksvoll präsentiert. Anhänger des klassischen Ballettes dürften zumindest nach der Pause auf ihre Kosten kommen. 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Produktionsteam
Choreographie
Kostüme
Wings of Wax Bühnenbild Licht
Yulia Tsoi
27' 52''
Bühnenbild
Licht Tänzerinnen und Tänzer
Mariya Tyurina
Petite Mort
Bühnenbild
Licht Tänzerinnen und Tänzer
Ana Carolina Reis Birth-Day (Filmfragment)
Bühnenbild und
Licht
Film / Video Tänzerinnen und Tänzer
Gioconda Barbuto
Sechs Tänze
Bühne und Kostüme
Licht Tänzerinnen und Tänzer
Ana Carolina Reis |
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