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Sechs Variationen über die Möglichkeit von Tanz
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Eine "Plattform Choreographie" für den Nachwuchs: Mit Young Moves möchte Ballettdirektor Martin Schläpfer im Spielplan ein Format etablieren, bei dem ausgewählte Tänzerinnen und Tänzer seiner Compagnie unter einigermaßen authentischen Stadttheater-Bedingungen (was bedeutet: Budget, Produktionszeit in den Werkstätten und dergleichen, natürlich auch Aufführungen auf der großen Bühne) eigene Choreographien zu entwickeln. Noch fehlt, auch das erwähnt er im Programmheft, ein angemessener Etat für das jährlich vorgesehene Projekt, aber ein Anfang ist gemacht: Sechs jeweils rund viertelstündige Arbeiten werden im Stadttheater Duisburg präsentiert.
Den Auftakt macht der Franzose Albin Pinet, seit 2013 im Ensemble und zuvor Tänzer bei John Neumeier in Hamburg. 10 Tänzerinnen und Tänzer posieren in individuell gehaltener Unterwäsche auf der Bühne, rechts und links Kleiderständer, an denen sie sich bedienen werden, wobei auch schon mal eine Frau zur Latzhose und ein Mann zum Kleid greift. Dazu Unterhaltungsmusik der 1920er-Jahre - man fühlt sich in ein Stück von Pina Bausch versetzt, nicht zuletzt wegen der Geschlechterrollen-Problematik, die das Werk bestimmt. Pinet gibt dem eine eigene Note, wobei er an die Eleganz und Lässigkeit der Wuppertaler Choreographin nicht heranreicht. Dann gibt es einen Bruch: Zur zarten elektronischen Musik der Isländerin Hildur Guðnadóttir ertastet ein junges Paar ganz vorsichtig den Körper des anderen - ein Alternativentwurf der Geschlechtsfindung. Am Ende überlagert Pinet, das ist nicht ganz geglückt, beide Welten. Der Titel Odnalro spielt, rückwärts gelesen, auf den Roman Orlando von Virginia Woolf an, der um eben das Geschlechterrollenthema kreist. Damit lädt sich Pinet unnötig viel intellektuellen Ballast auf, den sein Stück gar nicht nötig hat, denn es trägt genug eigene, unmittelbar tänzerische Impulse in sich. Es mag nicht alles gelungen sein, aber mit der Akzentverschiebung vom Ballett zum Tanztheater, das sich um klassisches Bewegungsrepertoire nicht allzu sehr kümmert und seine eigenen Geschichten erzählt, hinterlässt Pinet einen starken Eindruck. Wun Sze Chan: It is passing by; Ensemble Am etwas bemühten Überbau kranken auch die nächsten beiden Arbeiten, vor allem It is passing by der aus Hong Kong stammenden Wun Sze Chan, die mit einer Videosequenz (Michael Maurissens) einen erzählerischen Einstieg schafft: Gefilmt werden Menschen auf dem Weg zur Arbeit - beim Verlassen des Hauses, in der Straßenbahn, in kleinen Bildern auf große Leinwand eingeblendet. Das wirkt ein wenig kleinkariert und nimmt allzu viel (Zeit-)Raum ein, ohne entscheidende Impulse zu geben. Das 16-köpfige Ensemble steht in Business-Anzügen auf der Bühne, zur Gruppe formiert, nur eine Tänzerin ist ausgeschlossen. "Lasst mich durch", ruft sie ohne Erfolg, öffnet dann ihren Aktenkoffer, und heraus fallen, ganz genau ist das nicht zu erkennen, einige Stoff-Hasen. Es bleibt eine rätselhafte Geschichte, die da erzählt wird und die tänzerischen Elemente ziemlich erdrückt. Ohne Musik entwickeln sich verschiedene Formationen, während im Hintergrund blütenlose Grünpflanzen, wie man sie in Großraumbüros antrifft, aufgebaut werden. Den Abschluss bildet eine asiatische Musiknummer, zu der eine Tänzerin und ein Tänzer in überdrehter Kindlichkeit und Fröhlichkeit an der Rampe tanzen, Blick ins Publikum. Letzteres bleibt irritiert und ziemlich ratlos - It is passing by, am ehesten als Konfrontation von Privatheit und Gruppenzwang zu verstehen (was an den tänzerischen Ausdrucksmitteln kaum erkenntlich wird), hat allzu viele Ansatzpunkte außerhalb der Tanz- und Körpersprache und vielleicht auch kulturell bedingte Chiffren, die sich nicht so leicht erschließen.
Thematisch schließt sich da FIELDWORK \ˈFĒLD-ˌWƏRK\ der Französin Louisa Rachedi an, die bereits unter Schläpfers Vorgänger Youri Vamos in Düsseldorf und Duisburg engagiert war. Es geht um das Spannungsverhältnis von Individuum und Gruppe, um Mechanismen eines Kollektivs mit starkem Bezug zum Begriff "Großstadt" - so steht's zumindest im Programmheft. Auf der Bühne habe ich das nicht wiedererkannt, was vielleicht auch daran liegt, dass nach den assoziationsreichen Choreographien zuvor eine gewisse Erschöpfung einsetzt - und man dieses Stück mit sehr poetischen Bildern und Bewegungsfolgen, die aus sich selbst heraus zu entstehen scheinen, als Tanz an sich wahrnehmen kann. Die elektronische Musik von Cliff Martinez schafft wechselnde Stimmungen, die raffiniert ausgeleuchtete Bühne (überhaupt gebührt dem Licht-Designer Franz-Xaver Schaffer für alle sechs lichttechnisch hervorragend gestalteten Choreographien höchstes Lob) mit viel Nebel erzeugt eine faszinierende Atmosphäre, in der Louisa Rachedi in fließendem Wechsel zwischen Gruppen- und Soloszenen beeindruckende Momente gelingen. Die Fantasie-Kostüme (asiatisches Design mit einem anarchischen Hauch von Pippi Langstrumpf) rücken den Tanz, der wenig narrative Struktur erkennen lässt, in eine eigene, etwas fremde, aber in ihrer Rätselhaftigkeit berührende Welt. Am Ende gerät das leider etwas kleinteilig. In seiner ästhetischen Konzeption aber gelingt Louisa Rachedi (die auch für Kostüme und Bühne verantwortlich ist) ein insgesamt sehr spannendes Stück Tanztheater. Boris Randzio: Mindrift; Anne Marchand, Christine Jaroszewski, Virginia Segarra Vidal
Mindrift ist eine Kombination der Wörter mind und drift, also ein Wandern oder Schweifen von Gedanken. Drei Tänzerinnen bilden zunächst eine fast skulpturale Einheit, entfernen sich voneinander, bewegen sich noch synchron, dann zunehmend individuell, und aus der Gruppe erwachsen drei Soli. Die Choreographie von Boris Randzio wirkt sehr konzentriert, mitunter in den synchronen Bewegungsfolgen allerdings auch ein wenig banal. Als musikalische Basis wählt Randzio Miniaturen des ungarischen Komponisten György Kurtág für Solo-Bratsche aus, eigentümliche, verinnerlichte Epigramme. Die Kostüme (Monika Gebauer-Randzio) - lockere Oberteile, kurze Hosen, in den Farben gelb-rot-blau sorgfältig gegeneinander abgestuft - sind souverän durchgestylte Sommermode, durchaus geeignet für Düsseldorfs Flaniermeile, die Königsallee, bewähren sich aber nicht so recht im Tanz. Da zeigen sie zu viel Bein (was bei Odnalro passt, aber hier nicht), liegen im Charakter zu nahe bei gehobener Alltagskleidung, wo der Tanz sich doch viel stärker auf abstrakte Prozesse bezieht und auch auf der Ebene der Kostüme diese Abstraktion benötigte. Es haftet der nicht uninteressanten Choreographie etwas Uneinheitliches an, eine fehlende Abstimmung der verschiedenen Dimensionen.
Die souveränste, stilsicherste, auch konventionellste Arbeit an diesem Abend ist Zahir der Koreanerin So-Yeon Kim, die sich offen zum traditionellen Ballett und dem danse d'ecole bekennt. Als Musik dienen einzelne Sätze aus Bachs Suiten für Solo-Cello, und es geht zunächst darum, diese Musik tänzerisch umzusetzen (So-Yeon Kim beginnt mit einer hinreißenden Linie aus fünf Tänzern, schwarze Hosen und unbekleideter Oberkörper, die mit weiten Armbewegungen den Puls der Musik aufgreifen), später folgt eine klassische menage a trois: Eine Frau auf Spitze zwischen zwei Männern. Dazu senken sich drei goldfarben lackierte, gestaffelte Rechtecke vom Schnürboden herab - ein Verweis auf Gustav Klimt und dessen Gemälde Der Kuss, und die Grüntöne daraus werden im Kleid von Tänzerin Ann-Kathrin Adam aufgegriffen. Damit schafft die Choreographin behutsam und unaufdringlich Assoziationen, ordnet sich und ihr Werk gleichzeitig im gutbildungsbürgerlichen Kanon ein. Nicht unbedingt besonders innovativ, aber choreographisch wie ästhetisch von großer Geschlossenheit (nur der Schluss kommt recht plötzlich), kann Zahir sofort ins Repertoire übernommen werden. Michael Foster: Rapture; Ensemble
Eine Verbindungslinie zurWest Side Story zieht Rapture des Amerikaners Michael Foster. Das betrifft die rhythmusbetonte Musik, ein Ausschnitt aus dem Konzert für Schlagzeug und Orchester von Michael Torke (*1961), aber auch die dynamische, ja geradezu sportliche Choreographie von spektakulären Sprüngen mit manchem Showelement. Vor einem meist rotorange ausgeleuchteten Rechteck erscheinen oft nur sie Silhouetten der neun Tänzerinnen und Tänzer, die dann aber in den auch hier mit verblüffenden Wirkungen ausgeleuchteten Bereich geradezu eintauchen. Der Wechsel von Ensemble, verschiedenen Gruppen und Soli gelingt fließend, und so hat die Choreographie, die den Tanz als solchen feiert, großen Schwung und zupackende Dynamik.
Young Moves bewährt sich als sehr interessantes Format und zeigt mit sechs sehr unterschiedlichen Choreographien eine enorme Bandbreite an tänzerischen Ausdrucksformen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamOdnalro
Choreographie, Bühne
Licht Tänzerinnen und TänzerCamille AndriotSonia Dvorak Norma Magalhães Virginia Segarra Vidal Rashaen Arts Brice Asnar Vincent Hoffman Marcos Menha Friedrich Pohl Eric White It is passsing by
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