Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Sie sind dann mal weg, die Tänzer ...
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Eine Choreographie aus dem Jahr 1842, das klingt ein wenig verstaubt. Zumal das Ballett am Rhein unter der Ägide von Martin Schläpfer zwar die Tradition pflegt, aber doch eine Tradition der Moderne, und bisher hat Schläpfer um das 19. Jahrhundert mit seinen Handlungsballetten einen großen Bogen gemacht. Jetzt hat er drei Szenen des dänischen Choreographen August Bournonville (1805 - 1879) zu einem Divertissement zusammengestellt, einen Pas de deux aus Blumenfest in Genzano und den Pas de six und eine Tarantella aus Napoli. Aus einzelnen Szenen aus Handlungsballetten solch ein Divertissement zu basteln, das war auch zu Bournonvilles Lebzeiten ein beliebtes Verfahren, und nicht zuletzt weil die Schrittfolgen immer mündlich weitergegeben wurden, bleiben da für jede Neueinstudierung Freiräume. Für das Ballett am Rhein hat Johnny Eliasen, der viele Jahre am Königlichen Ballett Kopenhagen gearbeitet hat, die Einstudierung übernommen und das Kunststück vollbracht, ein trotz der technischen Schwierigkeiten federleichtes, bei aller Verspieltheit keineswegs biedermeierliches Stück daraus zu machen. Lose ergibt sich eine Art Handlung, ein Fest (vielleicht eine Hochzeit), bei der sich Paare finden, kokettieren, lässig die anderen betrachten. Natürlich ist das ein wenig harmlos und vielleicht allzu unbeschwert, hat in den hübschen Kostümen von Maja Ravn mit viel Tüll für die Damen aber ausgesprochen viel Charme und ist mit Doris Becker und Philip Handschin in den zentralen Rollen auch souverän getanzt. (Ein wenig mehr Leichtigkeit hätte man sich von den Duisburger Philharmonikern unter der Leitung von Wen-Pin Chien vorstellen können.)
Die Reise durch rund 175 Jahre Ballettgeschichte wird fortgesetzt mit Antony Tudors Dark Elegy, einer choreographischen Umsetzung von Mahlers Kindertotenliedern für das Londoner Rambert Ballett aus dem Jahr 1937. Entstanden unter dem Eindruck des spanischen Bürgerkriegs, hat Tudor ein ritualhaftes Trauerstück geschaffen. Der Sänger sitzt auf der Bühne, bleibt aber unbeteiligt (Dmitri Vargin singt mit etwas engem Bariton unprätentiös solide). Neben ihm kauert eine Gruppe von Tänzerinnen im Kreis, deutet ein Zeremoniell an. Eine weitere Tänzerin (Camille Andriot) kommt mit einer eigentümlichen Kombination aus Sprung und Schritt zurück hinzu, ein Gegensatz zu den regelhaften Bewegungsabläufen der Gruppe. Darin spiegelt sich der Kontrast von individueller und kollektiver Trauer, und es ist bewundernswert, wie organisch Tudor in diesem ersten der fünf Lieder Solo und Gruppe gegeneinander setzt und doch miteinander verschmilzt. Antony Tudor: Dark Elegies © The Antony Tudor Ballet Trust - Ensemble; FOTO © Gert Weigelt Das gilt auch für die weiteren Lieder, einen pas de deux (Virginia Segarra Vidal und Marcos Menha vereinigen sich darin zu einer umgekehrten Pietá, d.h. die Frau liegt in den Armen des Mannes) im zweiten, ein Solo (Michael Foster) im dritten und weitere im vierten (So-Yeon Kim) und fünften (Andriy Boyetskyy) Lied, jeweils mit (oft sparsamen) Gesten und Bewegungen der Gruppe begleitet, und das ist von allergrößter Disziplin gekennzeichnet. Trotz der Soli bleibt Dark Elegies ein Ensemblestück. Tudor geht sehr genau und sehr fein auf die Regungen der Musik ein und gibt den musikalischen Bewegungen oft in Dehnungen oder Armbewegungen körperlichen Ausdruck, choreographiert aber trotz dieser Kleinteiligkeit einen großen Bogen über alle fünf Lieder hinweg. Thomas Ziegler hat für diese Aufführung schlichte Kostüme entworfen, die behutsam den Stil der 1930er-Jahre andeuten, aber zeitlos bleiben. Als Hintergrund verwendet er eine abstrakte, in schwarzweiß gehaltene Landschaft, in der man Wolken oder auch Eisschollen erahnen mag. Dark Elegies bleibt ein faszinierendes Moment kultivierter Trauer.
Dann gibt es einen weiteren Zeitsprung von rund 80 Jahren in die unmittelbare Gegenwart, will heißen: Eine Uraufführung. Der 1984 in Sydney geborene Terence Kohler, tänzerisch am Badischen Staatsballett Karlsruhe groß geworden (auch mit eigenen Choreographien), widmet sich der c-Moll-Symphonie von Johannes Brahms, und der düster-zerklüftete erste Satz gibt die Stimmung vor. Wenn der Vorhang sich nach (erst nach einigen Takten, in denen die Musik für sich spricht) öffnet, trippelt Marlúcia do Amaral unter höchster Anspannung auf eine Mauer aus riesigen monolithischen Betonquadern zu, prallt ab, versucht es erneut. Es wird ein Ringen gegen diese Mauer sein, die das Werk durchzieht, und das düstere Bühnenbild von Vera Hemmerlein ist schon sehr eindrucksvoll. Wen-Pin Chien und die nicht immer sehr genauen Duisburger Philharmoniker liefern passend dazu eine fulminante, expressiv aufgeladene musikalische Interpretation voller Dramatik. Einen Sturm in verschiedenen Phasen hat Kohler sich vorgestellt, und Wolkenformationen hat Kostümbildnerin Louise Flanagan auf die eng anliegenden, knappen und teilweise wie zerfetzt wirkenden Kostüme drucken lassen. Entsprechend lässt Kohler das Ensemble entfesselt über die Bühne wirbeln, und bei aller Faszination ist manches eine Spur (zu) reißerisch geraten im Vergleich zu Tudors Strenge und Disziplin zuvor. Aber es gibt ganz große Momente, zwei faszinierende, sehr gegensätzliche pas de deux etwa: Anne Marchand und Boris Randzio verschmelzen zu einer androgynen Einheit, ganz im Gegensatz zu Chidozie Nzerem und Marlúcia do Amaral, die geradezu miteinander kämpfen, bis die Tänzerin gebrochen wird und wie eine leblose Puppe an Nzerem hängt. Und Yuko Kato hat den entspannt-heiteren dritten Satz un poco allegretto e grazioso ganz für sich, ein phänomenales Solo von phasenweise kindlicher Unbeschwertheit. Terence Kohler: One, Chidozie Nzerem, Marlúcia do Amaral
Mit dem Finalsatz allerdings verärgert Kohler Teile des Publikums ganz erheblich. Zur Einleitung variiert er das Anfangsbild, nur das Marlúcia do Amaral nun versucht, den Block hinauf zu klettern (dazu gibt es, keine ganz glückliche Bildlösung, ein paar Griffe wie an Kletterwänden). Sie scheitert, hängt ein wenig pathetisch an der Wand und steigt zurück. Dann kommt jemand auf die einfachere Idee: Eine Leiter wird hereingetragen, und zum Hauptteil dieses Finalsatzes steigt einer nach dem anderen mit Hilfe dieser Leiter über die erste Mauer hinweg ins Ungewisse, und die letzten Minuten darf man die menschenleerer Bühne betrachten. "Eine einmalige Gelegenheit, noch im Theater darüber zu reflektieren, was man gerade gesehen hat", heißt es ziemlich hilflos in der Werkeinführung.
Kohler will das Motiv des "durch Dunkelheit zum Licht" der Symphonie aufgreifen, und der etwa zweijährige Entstehungsprozess der Choreographie mit den politischen Ereignissen der letzten Monate, vor allem der Flüchtlingskrise (die in der Sturm-Motivik mit offenbar gestrandeten Menschen vage anklingt), mag da mehr und mehr Zweifel an einer optimistischen Lösung aufgeworfen haben. Tatsächlich hat dieses offene Ende mit dem Weg ins Ungewisse einiges für sich, und doch bleibt der unbefriedigende Eindruck, Brahms nicht wirklich gerecht geworden zu sein. Es ist trotz der unterschwelligen Anklänge an Beethovens Ode an die Freude ja kein ungetrübtes Jubelfinale in dieser ach so komplizierten Symphonie, mit der Brahms 22 Jahre lang rang und in der bis zum letzten Ton viele Zweifel einkomponiert sind, und da ist die tänzerische Verweigerung eine doch ziemlich einfache Lösung. Auf der anderen Seite kann man das offene, unbefriedigende Ende als adäquate und keineswegs unpassende Geste eines "wir wissen nicht weiter" verstehen, das in der Tat gerade in die Zeit passt. So bleibt der Schluss ambivalent. Ein paar kräftige Buhs für den (in dieser dritten Aufführung naturgemäß nicht mehr anwesenden) Choreographen unterstreichen, dass der Abend eben nicht in allgemeiner Gefälligkeit endet, sondern manche Frage hinterlässt.
Der Spannungsbogen von der ziemlich heilen Welt Bournonvilles bis in unsere zerissene Gegenwart endet mit einer provokativen Leerstelle - darüber kann man sich produktiv ärgern, aber man sollte diesen Tanzabend keineswegs deshalb versäumen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamBournonville Divertissement
Choreographie
Kostüme
Licht
Choreographische Einstudierung
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerAnn-Kathrin AdamFeline van Dijken Nathalie Guth Alexandra Inculet Julie Thirault Brice Asnar Filipe Frederico Philip Handschin Sonny Locsin Friedrich Pohl Dark Elegies
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Choreographische Einstudierung
Bariton
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerCamille AndriotWun Sze Chan Nathalie Guth Christine Jaroszewski So-Yeon Kim Helen Clare Kinney Anne Marchand Virginia Segarra Vidal Andriy Boyetskyy Michael Foster Marcos Menha Boris Randzio One
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Musikalische Leitung Die Duisburger Philharmoniker Tänzerinnen und TänzerAnn-Kathrin AdamMarlúcia do Amaral Camille Andriot Doris Becker Wun Sze Chan Sabrina Delafield Feline van Dijken Sonia Dvorak Nathalie Guth Alexandra Inculet Christine Jaroszewski Yuko Kato So-Yeon Kim Helen Clare Kinney Norma Magalhães Anne Marchand Asuka Morgenstern Louisa Rachedi Aryanne Raymundo Virginia Segarra Vidal Elisabeta Stanculescu Julie Thirault Irene Vaqueiro Rashaen Arts Brice Asnar Andriy Boyetskyy Odsuren Dagva Michael Foster Filipe Frederico Philip Handschin Vincent Hoffman Richard Jones Sonny Locsin Marcos Menha Tomoaki Nakanome Bruno Narnhammer Chidozie Nzerem Alban Pinet Friedrich Pohl Boris Randzio Eric White
|
© 2016 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de