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Es werde Tanz!
Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt
Ein Ballett ohne einen einzigen Tanzschritt? Ganz richtig ist das nicht, auch wenn das im Programmheft so zitiert wird, schließlich lässt sich der Begriff "Tanzschritt" so oder so definieren. Aber Esplanade von Paul Taylor, 1975 für seine eigene Compagnie entworfen und in Washington uraufgeführt, verweigert ziemlich konsequent das klassische Vokabular und sucht nach "natürlichen" Bewegungsfolgen, die dem Alltag abgeschaut sind. Die Tänzerinnen und Tänzer laufen, rennen, springen über die Bühne, folgen dabei aber punktgenau der Musik. Mehr als 40 Jahre nach der Uraufführung wirkt die Abkehr von der Tradition keineswegs mehr radikal. Vielmehr ist Esplanade ein heiter entspanntes Stück, bei dem sich die sechs Tänzerinnen und drei Tänzer immer wieder in unterschiedlichen Formationen zusammenfinden. Kleine Geschichten deuten sich an; Paare finden sich, auch gibt es ein paar Eintrübungen. Bei aller Neuartigkeit der Bewegungen wird das tänzerische Schönheitsideal keineswegs aufgegeben. Nicht zuletzt die Musik Bachs - das dreisätzige E-Dur-Violinkonzert und die beiden letzten Sätze des d-Moll-Doppelkonzerts für zwei Violinen und Orchester - veredelt die Schrittfolgen, sodass sie aus heutiger Sicht auch schon wieder "klassisch" wirken. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der souveränen Leitung des jungen Kapellmeisters Aziz Shokhakimov begleiten zwar nicht mit dem Klangideal der "alten Musik", spielen aber sehr transparent und genau, nicht zu dick im Klang und mit großer Eleganz. Dragos Manza (und im Doppelkonzert zusätzlich Egor Grechishnikov) in den Solopartien passen sich unprätentiös ein.
Bei (oder gerade wegen) aller Harmonie: Ein wenig harmlos bleibt das vier musikalische Sätze lang schon. Das warme Licht trägt dazu ebenso bei wie die schönen pastellfarbenen Kostüme, die Tänzer in Hosen und Trikot, die Tänzerinnen in wehenden Kleidern (eine Ausnahme gibt es: Elisabeth Stanculescu trägt ebenfalls Hose und Trikot, wenn auch in den Farben eher den Damen zugehörig, und das gibt eine kleine Irritation). Im letzten Teil, dem Finalsatz aus Bachs Doppelkonzert, kommt dann ein Überraschungsmoment hinzu; wie übermütig stürzen die Tänzerinnen aus den Sprüngen auf den Boden, und das bringt nicht nur eine neue Dynamik, sondern auch eine Wendung zum Riskanten und Gefährlichen, und das reißt die Choreographie aus dem allzu Behaglichen. Fehlte es zuvor an der letzten tänzerischen Präzision in den synchronen Ensembles, so wird hier mit mitreißender Dynamik getanzt. Tenebre: Ensemble
Bei der Wahl zum tollsten Bühnenbild der Saison muss Merle Hensel für ihre faszinierende Bildfindung in Tenebre, der ersten von zwei Uraufführungen an diesem Abend, ganz vorne dabei sein. Stoffbahnen in Schwarz-Weiß-Grautönen hängen unregelmäßig verteilt (und im Verlauf des 30-minütigen Werkes mehrfach variiert) von der Decke, auf denen das Weiß vertikal nach unten verläuft wie fließende Farbe, die eine archaische, in ihrer Abstraktion schwer zu umschreibende Grundstimmung hervorrufen. Allerdings dürfte die Ausstatterin auch bei der Kür der, pardon, dämlichsten Kostüme ganz vorne liegen: Die sind auf der einen Seite weiß, auf der anderen schwarz, was ziemlich plakativ auf die das Stück dominierende Hell-Dunkel-Thematik abzielt, dazu müssen die Herren eine Art eng anliegender Badehose tragen, die oben bis zur Brust hochgezogen sind, was unfreiwillig komisch aussieht. Die Damen kommen mit bis zum Bachnabel von oben geschlitzten Trikots etwas weniger unglücklich weg.
Tenebre bedeutet so viel wie Schatten oder Dunkelheit, das lateinische Wort "Tenebrae" bezeichnet im christlichen Kontext auch die Stundengebete an den vorösterlichen Kartagen. Der in Südafrika geborene Choreograph Hubert Essakow hat u.a. am Londoner Royal Ballet getanzt und als Choreograph vor allem in der freien Szene gearbeitet. In dieser etwa halbstündigen Arbeit ist die Wandlung von Dunkelheit zum Licht sein Thema, und dem entspricht der Übergang von kriechenden Bewegungsformen zum Tanz auf Spitze, also eine Dynamik von unten nach oben. Tenebre beginnt bei schwachem roten Licht, das nur ein paar Konturen erkennen lässt. Wie ein einer Skulptur trägt das Ensemble eine Tänzerin, später kriechen die Tänzerinnen und Tänzer am Boden, wobei die quietschenden Geräusche verstärkt in den Saal übertragen werden. Nach und nach wandeln sich die Bewegungen, zunächst archaisch im graublauen Licht und von einer eigentümlichen Faszination, werden immer kunstvoller, bis auf Spitze getanzt wird und am Ende die evolutionäre Veränderung mit verschiedenen Hebefiguren in luftigen Höhen ihren Zielpunkt findet. Nachdem in Esplanade die artifizielle Ballettkunst zugunsten von Natürlichkeit aufgegeben wurde, erobert Essakow sich diese in neuem Kontext zurück als eine Leistung, die aus dem Unterbewussten zu kommen scheint: Es werde Tanz! Auch wenn manches arg bedeutungsschwer geraten ist, gelingt der große Spannungsbogen. Tenebre mit seinen zögernd den Raum ertastenden Klängen von Bryce Dessner ist kein perfektes, aber ein ausgesprochen spannendes Werk geworden. Different Dialogues: Ensemble Was die Souveränität und Gelassenheit im Umgang nicht nur mit den tänzerischen Mitteln betrifft, sind die Different Dialogues von Nils Christe da sicher überlegen. Hier ergänzen sich Bühne (Thomas Rupert), Kostüme (Annegien Sneep) und Licht (Remko van Wely) perfekt. Die Tänzer tragen graublaue Hosen bei freiem Oberkörper, die Tänzerinnen als Komplement hemdartige weiße Oberteile bei unbekleidetem Bein, und den Hintergrund bildet eine in Blautönen gehaltene Rückwand. Darüber schwebt eine Matrix aus 36 Glühlampen, die zwischendurch herunterfährt und die Bühne wie in einzelne Zellen unterteilt und die bis dahin sehr individuellen Tänzerinnen und Tänzer einem unsichtbaren Gruppenmechanismus unterwirft. Zur Musik von Philip Glass (drei Sätzen aus der 3. Symphonie sowie dem zweiten Satz aus dem Violinkonzert, spannungsreich gespielt von den Düsseldorfer Symphonikern und Dragos Manza) ergeben sich, oft sehr temporeich, viele kleine Begegnungen. Christe choreographiert eine Fülle von miniaturisierte Erzählungen ohne konkreten Inhalt. Im Zentrum stehen drei aufeinander folgende großartige pas de deux von Marlúcia do Amaral (die mit atemberaubender Spannung tanzt) - mit Rashaen Arts, mit Marcos Menha und mit Andriy Boyetskyy. Geradezu akrobatisch wirft sie sich den Herren entgegen und wird raffiniert aufgefangen.
Und dann bieten die Ausstatter noch eine formidable Nebelwand auf, aus der sich die Tänzerinnen und Tänzer herausschälen. Das sorgt für spektakuläre Bildwirkungen. Da entsteht Tanz aus dem Nichts und verschwindet wieder, oft als Dialog (worauf der Titel hinweist) zwischen einem Paar, sehr spannungsgeladen. Ein grandioser Saisonabschluss, vom Publikum ausgiebig bejubelt.
Einmal mehr ein Ballettabend am Rhein, den man keinesfalls verpassen darf: Mit Taylors Esplanade führt Ballettchef Martin Schläpfer klug die Pflege der Tradition fort, mit den spektakulären Uraufführungen von Essakows Tenebre und Christes Different Dialogues unterstreicht das Ballett am Rhein seine Innovationskraft. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam* Besetzung der rezensierten AufführungEsplanade
Choreographie
Musikalische Leitung
Kostüme
Licht
Choreographische Einstudierung
Violine Tänzerinnen und Tänzer
Tänzerinnen
Tänzer Tenebre
Choreographie
Musikalische Leitung
Bühne und Kostüme
Licht
Sound Design
Viola Tänzerinnen und Tänzer
Tänzerinnen
Tänzer Different Dialogues
Choreographie
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme,
Licht
Solo-Violine Tänzerinnen und Tänzer
Tänzerinnen
Tänzer
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