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Rasur und Pastete auf eigenes Risiko
Von Joachim Lange
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Fotos Bernd Uhlig / La Monnaie Das Opernhaus La Monnnaie in der Brüsseler Innenstadt ist seit Beginn dieser Spielzeit geschlossen. Dort wird endlich gründlich saniert. Das klingt nach Abenteuer. Ein paar Nummern kleiner und übersichtlicher als in Berlin. Aber auch (bzw. gerade) in Brüssel geht es nicht ohne die offenbar unvermeidlichen Kompetenzrangeleien, Budget- und Zeitüberschreitungen, dank einer vielstimmigen (sprich -sprachigen), sich gegenseitig behindernden Bürokratie. Öffentliche Sanierungsarbeiten a la Brüssel haben noch mal eine besondere Note. Intendant Peter de Caluwe geht davon aus, 2017 wieder ins alte, dann zumindest innen komplett erneuerte La Monnaie zurückzukehren. Bis dahin wird das Programm den Möglichkeiten der provisorischen Spielstätte angepasst. Der geplante Lohengrin jedenfalls wird wie es jetzt aussieht verschoben werden müssen. Die Übernahme von David Martons klug-charmanter Capriccio- Produktion aus Lyon wird man dagegen riskieren. Wobei der Name der Ausweichspielstätte "Palais de la Monnaie" mehr Luxus verspricht, als er bietet. Gespielt wird jetzt in einem Zelt an der Hafenstraßen hinter dem ehemaligen Depot, einem riesigen Komplex, dessen alte Hülle sich gerade mit der modernen Mischung aus Restaurants, Büros und Designerläden füllt und der dahinter liegenden Ruine eines alten Güterbahnhofs. Wettbewerb der Friseure -Sweeny kann mit dem Messer umgehen
Über provisorische Wege und durch einen Glasgang für Taschenkontrolle und Detektoren ging es also zur Premiere von Sweeny Tood, die den Platz der eigentlich geplanten, und wegen der Bauarbeiten verschobenen Uraufführung von Mark Graus Frankenstein einnahm. So gibt es als Finale der laufenden Spielzeit das erste Mal in Belgien dieses Sondheim-Musical nach dem Theaterstück von Christopher Bond aus dem Jahre 1979. Dessen Untertitel "Musical-Thriller" noch untertrieben ist. Es ist schon eher ein Grusical. Jedenfalls wenn man es als Exemplar seines Genres nimmt. Bei dem es allemal den einen Hit gibt, der sich als Dacapo oder Rausschmeißer eignet. Aber was soll man jubelnd mitsingen, wo es ausschließlich um Rache, Serienmorde und Verarbeitung der Leichen zu einem Pastetenverkaufshit geht? Der Humor, den das auch hat, der ist vor allem schwarz. Und das in deutscher Sprache dem Programmheft wie ein Motto vorangestellte Nietzsche-Zitat "Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Das gilt für diese drei Stunden allemal. Sweeny hat das Objekt seiner Rachebegierde das erste Mal auf dem Stuhl
Mit seiner Story und auch der Musik, die vor allem der Geschichte Beine macht, aus ihr abgeleitet ist und sie trägt und vorantreibt, ohne auf eigenständige Eskapaden zu bestehen und mit großen Abschweifungen in die musicalüblichen Balladen zu glänzen. Die Musik des Amerikaners Sondheim hebt sich somit wohltuend von der Meterware, mit der Webber & Co den Markt beherrschen, ab. Das ist durchdacht, atmosphärisch, könnte sich durchaus auf Kurt Weill als musikalischen Ahnen berufen. Da man in Brüssel unter der Leitung von Leo Hussain mit großer Besetzung (des Orchestre Symphonique de La Monnaie) spielt, rückt das Ganze vergleichsweise dichter an das Genre Oper, als es gemeinhin der Fall ist. Dort ist der mörderische Barbier aus der Fleet Street ohnehin in guter Gesellschaft. Der Typus des Opfers, das zum Rächer wird, ist da ja keineswegs selten. Nur so weit, die Leichen zu Pasteten zu verarbeiten und unter das Volk zu bringen, das man gerade dezimiert, geht es in der Oper dann doch nicht. Das bleibt diesem Musical vorbehalten, in dem der Chor der Mitmenschen wie im antiken Theater das Geschehen kommentiert. Die Reste werden verbrannt ... In dem Ofen landet auch Mrs. Lovett noch
Ausstatter Colin Richmond hat auf der Bühne zudem alles getan, um die Londoner Fleet Street, in deren Dunstkreis Regisseur James Brining die Geschichte klar und mit schnellen Szenenwechseln erzählt, nach jenem Abgrund aussehen zu lassen. Dadurch ist ein (wenn auch unaufdringlicher) sozialkritischer Duktus vorgegeben. Das völlige Versagen der zivilisatorischen Notbremsen vor allem bei der Mord-WG im Zentrum des Stückes ist hier eine von mehreren Optionen, die hinter der kleinbürgerlichen Fassade schlummern. Optisch also nicht die Spur von urbaner Londoner Gemütlichkeit. Hier ist es gleich die metaphorische Container-Rückseite halbwegs herausgeputzter Fassaden. Sweenys Salon und Mörderstube mit dem roten Barbierstuhl über der Entsorgungsrutsche für die frisch rasierten Kunden bzw. per Kehlenschnitt produzierten Leichen befindet sich in einem hochgestellten Container auf der linken Bühnenhälfte. Die Pasteten-Produktion der cleveren Mrs. Lovett, samt Fleischwolf, Kühlraum und Ofen für die Reste unten drunter. Ihr Wohnzimmer oder der Gastraum für die Kunden, die nach den Pasteten Schlange stehen, wird bei Bedarf hereingefahren. So wie der Container gegenüber, in dem unten der gutbürgerlich-böse Richter Turpin (Andrew Schroeder) haust, betet, sich kasteit und die fiese Seite seines Charakters pflegt, und oben drüber das von ihm gehaltene Mündel Johanna (die Tochter Sweenys!) lebt, das er sogar zu seiner Frau machen will. Die Schauplätze sind hier schnell gewechselt - das funktioniert alles reibungslos. Besser jedenfalls als die anfangs suboptimal ausgesteuerte Lautstärke der Sänger. Eine Tasse Tee nach der „Arbeit“- das Mörderduo Lovett und Todd
Der amerikanische Bariton Scott Hendricks ist als zu Unrecht jahrelang weggesperrter und jetzt notorisch rachsüchtiger Sweeney so gefährlich, weil er die Maske des Biedermanns so perfekt trägt. Und die mütterliche Liebenswürdigkeit, mit der Carole Wilson ihre Mrs. Lovett ausstattet, ist dazu das passende Pendant. Kein bisschen überraschend, wie perfekt Natascha Petrinski als heruntergekommene (von Sweeny nicht wiedererkannte Frau) Lucy über die Szene geistert und plötzlich die Krallen ausfährt (hier muss man wirklich an ihre Penthesilea in Pascal Dusapins gleichnamiger Oper denken). Neben diesen abgründigen Figuren haben es die "Guten" wie Hendrickje van Kerckhove als (Swennys auch nicht wiedererkannter Tochter) Johanna und Finnur Bjarnason als deren Lover Anthony deutlich schwerer, Profil zu gewinnen. So fließt denn das Blut in Strömen, häufen sich die Toten, überzeugt die Musik von Sondheim und öffnet sich der Abgrund. Am Ende ist der Beifall freundlich, aber enden wollend. Jedenfalls nicht so von der Leine gelassen, wie es beim Musical sonst üblich ist. Vielleicht ist das Ganze ja doch mehr eine amerikanisch angehauchte Oper aus der dunklen Ecke des Repertoires, die sich nur als Musical tarnt? Und die kleinen Pastetchen beim Empfang danach? Die haben nur im Kopf der Zuschauer einen leicht makabren Beigeschmack. Ganz sicher! FAZIT Eine insgesamt lohnende Musical Produktion in der provisorischen Spielstätte der Oper in Brüssel. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Co-Regie
Ausstattung
Licht
Choreographie
Chor
Solisten
Sweeney Todd
Anthony Hope
Lucy Barker / Beggar Woman
Mrs. Lovett
Judge Turpin
Beadle Bamford
Johanna Barker
Tobias Ragg
Pirelli
Jonas Fogg
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