Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Eine Familiengeschichte vom ErwachsenwerdenVon Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu
Er hadert mit Gott: Tevje, Milchmann und Alltagsphilosoph
Anatevka ist unversehens zu brisanter Aktualität gelangt: Progrome, Vertreibung und Flucht, das ist ja das, womit wir inzwischen permanent konfrontiert werden, wenn auch aus der ungefährdet bequemen Perspektive des Zuschauers. Im Grunde müsste man angesichts der polarisierten Stimmung im Land ja erwarten, dass irgendein selbsternannter Grenzschützer im Publikum aufsteht und dem jüdischen Milchmann Tevje, der sein Heimatdorf verlassen muss und auswandern will, ein "Halt, Du Flüchtling! Nicht zu uns!" zuruft. Tut natürlich niemand. Und ebenso natürlich war Regisseur Karl Absenger gut beraten, das Stück ohne zusätzliche Aktualisierung da anzusiedeln, wo es historisch hingehört: In die Spätphase des zaristischen Russland.
Tevje und seine heiratsfähigen und -willigen Töchter
Ausstatterin Karin Fritz hat mit ein paar Birken und einem schon von Spuren des Verfalls gezeichneten jüdischen Friedhofs im Hintergrund ikonographisch bewährte Symbole für Russland und Judentum gefunden. Das Dorf Anatevka wird durch ein paar Holzwände aus rohen Brettern angedeutet, die Innen- wie Außenraum darstellen können und bis in den verkleinerten Orchestergraben hinunter reichen. Das ist wohl mehr Pragmatismus als Abstraktion, denn die Kostüme zeichnen ziemlich folkloristisch das jüdische Leben nach, wie man es sich vorstellt. In diesem Rahmen wird die Geschichte konventionell erzählt. Dass die Regie sich dafür viel Zeit nimmt, bekommt dem Stück gut und betont den melancholischen Charakter. An ein paar Stellen bekommt die Inszenierung durch den Einsatz von sechs (nicht allzu virtuosen) Tänzern die Züge einer Revue - das zielt auf den Unterhaltungseffekt ab (und kommt beim Publikum der hier besprochenen Aufführung auch an). Bei fast dreieinhalb (nie langweiligen) Stunden Dauer wären allerdings ein paar Straffungen durchaus vorstellbar.
Hochzeitsfeier mit Tanzgruppe
Die politische Dimension bleibt unterbelichtet. Das Progrom - ausgerechnet zur Hochzeitsfeier von Tevjes ältester Tochter Tzeitel - beschränkt sich denkbar harmlos auf das symbolische Umwerfen von ein paar Stühlen. Mit störender Gewalt wird das Publikum nicht allzu sehr behelligt, da hat man schon Inszenierungen von pointierterem Zugriff gesehen. In den Vordergrund rückt dadurch die Familiengeschichte, der Abschied der drei heiratsfähigen und -willigen Töchter aus dem Elternhaus und deren Aufbegehren gegen die Tradition, dabei den Vorgaben der Heiratsvermittlerin Jente zu folgen. Die Regie bleibt im Rahmen der Erwartungen, ist aber im Detail sehr genau. Es wird durchweg schön gesungen und sehr differenziert gespielt, wobei die Partien überwiegend mit Musicaldarstellern besetzt sind (aus dem Bonner Opernensemble sind in größeren Partien Martin Tzonev als Fleischer Lazar Wolf und Anjara I. Bartz als Tevjes Frau Golde zu sehen und hören, und beide passen sich gut ein). Auch Opern-, Kinder- und Jugendchor der Oper Bonn spielen und singen engagiert - wobei leider der letzte Chor, der Abschied vom Dorf Anatevka, arg breit und rührselig interpretiert wird. Ansonsten leitet Christopher Sprenger die sehr ordentliche Band aus Musikern des Beethoven Orchesters flott und stilsicher durch die Partitur.
Verlust der Heimat: Der erzwungene Aufbruch nach Amerika
Was die Aufführung von einer ordentlichen zu einer sehr guten macht, das ist der großartige Gerhard Ernst in der Rolle des Tevje. Der ist nicht nur nachdenklicher Komödiant (wobei er mehr auf die Zwischentöne als auf die schnellen, aber eben auch schnell hausbackenen Pointen des Textes setzt) und dadurch auch Philosoph, sondern er zeigt einen unterschwelligen Zorn, und das gibt ihm mitunter etwas von der Wucht eines alttestamentarischen Propherten. Mehr noch als in anderen Aufführungen ist dieser Tevje Dreh- und Angelpunkt, das Kraftzentrum des Stücks, um das alle anderen kreisen. Und er singt auch wunderbar und trifft den beiläufigen Tonfall der Musik ganz ausgezeichnet.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Licht
Chor
Kinder- und Jugendchor
Choreographie
Solisten
Tevje
Golde
Tzeitel, ältere Tochter
Hodel, zweite Tochter
Chava, dritte Tochter
Shprintze, vierte Tochter
Bielke, fünfte Tochter
Mottel Kamzoil, Schneider
Schandel, Mottel Kamzoils Mutter /
Perchik
Lazar Wolf
Fruma-Sara, seine verstorbene Frau
1. Russe
Fedja
Jente, Heiratsvermittlerin
Motschach
Rabbi
Mendel, sein Sohn
Sascha, ein Freund von Fedja
Awram, ein Buchhändler
Nachum, ein Bettler
Jussel
Ein Wachtmeister
Tänzer
|
© 2016 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de