Die Liebe kennt keine Standes- und Klassenschranken
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg
Wie modern und wirklichkeitsnah
Mozarts Figaro nach wie vor sein kann, zeigt
die jüngste Inszenierung von Regisseur Peter Lund,
mit der das Theater Osnabrück die Musiktheatersaison
der Spielzeit 2014/15 eröffnet. Lund zeigt den Figaro
als schwarzhumoriges, manchmal grotesk
überzeichnetes, zeitlos komplexes
Intrigenlustspiel. Nicht die Liebe, die
Gleichberechtigung an sich ist das Problem der nur
scheinbar aufgeklärten Gesellschaft, sondern ihr
Ideal, das sich über das konkrete Leben mit
Herkunfts-, Standes- und Kastendenken hinwegsetzt.
Mit viel Witz, fantasievollem Kostümrausch und Liebe
zum Detail präsentiert Lund die verschiedenen,
widersprüchlich sich verhaltenden Charaktere. Dazu
singt und schauspielert unter der Leitung von Andreas
Hotz ein fantastisch besetztes und aufgelegtes Solisten- und
kleines Orchesterensemble, das transparent, dynamisch und
tempodifferenziert Mozarts Zwischentöne beleuchtet.
Als Mensch wird man in ein soziales Umfeld geboren
und eine Person von Stand definiert sich im 18.
Jahrhundert in der Öffentlichkeit vor allem über die
kostbare Kleidung. In diesem Sinne betritt zu
den Klängen der Ouvertüre ein geflügelter Amor bzw.
ein mit einem Schwert bewaffneter Cherub die Bühne
und treibt die in einheitlich schlichte Unterwäsche
gewandeten Ensemblemitglieder auf die Bühne. Sie
bibbern vor Kälte, blicken verunsichert und
ängstlich ins Publikum und müssen warten.
Verärgerung macht sich breit. Man beginnt sich
konspirativ zu verbünden, doch als aus dem
Theaterhimmel die Kleiderstange herabsinkt, ist’s
vorbei mit der Harmonie. Noch reicht die Autorität
des Grafen aus, um alle in die Schranken zu weisen,
aber unter der Oberfläche brodelt es.
Der Graf inspiziert das Ankleidezimmer,
während Susanna die Gräfin ins Bild setzt.
Spiegel dieser Gesellschaft im Umbruch ist das
Bühnenbild Ulrike Reinhards.
Kehrseite einer riesigen, weißen, klassizistischen
Schrankwand mit 3 Türen ist ein einfach
ausgestatteter, wie eine Probebühne wirkender,
unfertiger Raum. Hier nimmt in der ersten Szene
Figaro Maß, während seine Verlobte Susanna an ihrer
unfrisierten Hochzeitsperücke herumzupft und
vergeblich Figaros Aufmerksamkeit fordert. Hierhin
zieht sich der Graf zu Beginn des dritten Aktes mit
einer Flasche Wein zurück, um im Selbstgespräch die
konfuse Lage zu erörtern, während die Gräfin zu
Beginn des zweiten Aktes vor der Schrankwand
präsentiert wird. Wenn dann Lina Liu anrührend mit
schlanker, tragender Stimme in großen Melodiebögen
aus Schmerz über die enttäuschte Liebe den Tod
herbeisehnt, scheint die Illusion der unterdrückten
Empfindsamkeit perfekt – wäre da nicht der riesige,
nur mit Leiter zu erklimmende Matratzenturm, auf dem
sie ihre Kavatine singt.
Lund behält fast immer einen einfühlsamen, humorvoll
distanzierten Grundton bei, kommentiert den
scheinbar tugendhaften Charakter der Gräfin, denn
auch sie wird im Verlaufe des zweiten Aktes den
Verführungskünsten und schmachtenden Blicken
Cherubinos nicht widerstehen wollen. Anders verhält
es sich mit der jungen Barbarina. Sie geht den
großzügigen Versprechungen und Verlockungen des
Grafen auf den Leim und bevor Leslie Visco in „L’ho
perduta me meschine“ ihr Leid klagt, wird ihr
Schicksal der Betrogenen angedeutet, während die
Kavatine zunächst instrumental vom Hammerklavier
erklingt.
Figaro stürmt in das Zimmer der
Gräfin.
Oft vernachlässigte Charaktere der
Opera buffa werden aufgewertet. Marcellina erscheint
zunächst als attraktive Frau mit Hüft- und Hintern
betontem, schwarz seiden schillernden Kostüm, die -
von Susanna auferlegt - ihre lockige Haarpracht
unter einer schwarzen Mütze verstecken muss. Nachdem
Bartolo und sie rehabilitiert sind, entfaltet sie –
von Susann Vent-Wunderlich virtuos interpretiert –
in der Arie des vierten Aktes ihre Haarpracht
und eine geschlechtsspezifische
„Gesellschaftsanalyse“, deren Naivität mit witzigen
Nebelfantasien unterstrichen wird. Auch Basilio, von
Mark Hamman brillant interpretiert als ein auf der
Bühne tänzelnder, die Kleidung zurecht zupfender,
modebewusst- und selbstverliebter Intrigant, darf im
vierten Akt seine Lebensphilosophie erläutern. Und
wenn Almerija Delic als niemals erwachsen werdender
Peter Pan den pubertären Draufgänger Cherubino vor
Augen führt, bleibt einem das Lachen im Halse
stecken. Mit schwitzigen Fingern, ängstlichen und
verliebten Blicken sprudelt sie vor Liebeshormonen,
vermag schließlich nur noch auf allen Vieren zu den
Frauenbeinen zu hecheln. Passend dazu die
musikalische Interpretation von Andreas Hotz, der in
Cherubinos Arietta im zweiten Akt vor allem den
musikalischen Humor in den Holzbläsern
herausstreicht.
Susanna lockt den Grafen
zum nächtlichen Stelldichein.
Hotz und ein kleines Osnabrücker Sinfonieorchester
betonen mit ihrer dynamisch und
tempodifferenzierten, lebendigen, an historischer
Interpretation ausgerichteten Darbietung den
leichten Buffocharakter des Werkes. Hinzu
kommt ein Solistenensemble, das schnelle Tempi,
kontrastreiche Arien und transparente Ensembleszenen
umzusetzen weiß. Daniel Moon interpretiert den
Grafen als zurückhaltenden, musikalisch mit Grazie
und Lebendigkeit ausgestatteten Wohltäter, der sich
in seiner Rachearie an der Kampfansage berauscht.
Shady Torbeys ist ein stürmischer Figaro mit
wohlklingendem, tiefgründigen Bassbariton. Seine
Interpretations- und Charakterisierungskunst kommt
am Premierenabend vor allem in der langen Arie des
vierten Aktes zur Geltung. Erika Simons – seit der
Spielzeit 2014/15 neu im Ensemble Osnabrück -
ergänzt das stimmige Solistenteam als junge,
spritzige Susanna.
FAZIT
Diese Inszenierung macht Lust auf
Mozarts realistisch-menschliches Intrigenlustspiel.
Bühnenbild, Kostüme, musikalische und szenische
Interpretation vereinen sich zu einem unterhaltsamen
Gesamtkunstwerk mit Biss. Temporeich, mit viel Witz
und Liebe zum Detail werden die Charaktere vor Augen
geführt.