Oper in ihren menschlichen Aspekten
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg
Nicht immer ist die Aufmerksamkeit
des Premierenpublikums so groß, dass man einen
Stecknadelkopf fallen hören könnte. Bei dieser
einfühlsamen Carmen-Inszenierung im Theater
Osnabrück war das der Fall. Vielleicht, weil an
diesem Abend Oper als stimmiges, Musik, Gesang,
Schauspiel, Bühne, Kostüme und Licht
einbeziehendes Gesamtkunstwerk zu erleben war.
Vielleicht, weil Regisseurin Adriana Altaras zwar
Elemente des Mythos Carmen aufgreift, aber die
Inszenierung nicht mit künstlichen
Interpretationsrätseln belastet. Vielleicht weil das
Milieu lebendig wie aus dem Leben gegriffen scheint,
einem die Protagonisten nahe gebracht werden, sodass
Liebe und Eifersucht, Schuldzuweisungen und
Verletzbarkeit, Stolz und Ehre wie in einer
Soap-Opera miterlebt werden kann.
Mittagspause in der
Zigarettenfabrik
Femme fatale oder spanische Bohemienne? Noch bevor
die ersten Töne erklingen, leuchtet der Mythos
Carmen farbenprächtig auf dem Eisernen Vorhang, um
gleich zu den Klängen der Ouvertüre spielerisch und
lebensnah mit den sozialen Verhältnissen, mit
möglichen Szenen aus dem kindlichen Alltag
konfrontiert zu werden. Carmen ist anders. Sie trägt
Hosen und liest „El Pais“. Sie fordert
Männerfantasien heraus, während die anderen
Fabrikarbeiterinnen die Pause nutzen, um sich schön
zu machen.
Carmen ist nicht frei. Als Zuhälter, Strippenzieher
und Boss des Handels mit Prostitution, Drogen,
Schmuggel und Hehlerei bringt Altaras schon im
ersten Akt Lillas Pastia ins Spiel, dessen Aufstieg
vom Besitzer eines kleinen, beengten Wohnwagens im
zweiten Akt zum Besitzer eines protzigen,
amerikanischen Cabriolets im Bühnenbild verdeutlicht
wird. Anschaulich führen Kostüme, Bühnenbild und die
Personenregie Altaras das Milieu vor Augen, aber
auch die Welt und Bedürfnisse der stationierten
Soldaten, des pflichtbewussten Don José, der blind
vor Liebe und Eifersucht seinen Gefühlen verfallen
ist. Micaëla, die mal als realer Besuch aus der Heimat, mal
als Traumfigur wird bruchlos in das Geschehen eingefügt.
Don José (Michael Wade
Lee) und Carmen (Almerija Delic) vor Lilas Pastia
Dazu die kontrastreichen musikalischen Nummern und
Klangwelten Bizets, die das Osnabrücker
Sinfonieorchester unter der umsichtigen Leitung
Daniel Inbals anschaulich und differenziert,
plastisch und wie aus einem Guss gestaltet vor Augen
führt. Mal wird das Szenenende leicht abschattiert,
um den musikalischen Kontrast zu mildern, mal reicht
ein Geräusch, um die Aufmerksamkeit neu zu lenken,
mal wird ein kurzer Dialog eingefügt, um den
Szenenwechsel zu verdeutlichen.
Der Opern- und Kinderchor sowie das Solistenensemble
des Theater Osnabrück schauspielern und singen Carmen
in französischer Sprache zwar nicht akzentfrei, aber
sprechend und lebensnah, als würden sie im Alltag
nicht nur französisch sprechen, sondern singen! Eine
außergewöhnliche Leistung.
Almerija Delic ist eine kraftvoll aufbrausende
Carmen. Lina Liu weiß mit ihrer klangschönen Stimme
und einer mit Schleifern und kleinen Verzierungen
wohlgestalteten melodischen Linie nicht nur Don José
zu verzaubern. Ebenso anschaulich gestaltet Tenor
Michael Wade Lee die Rolle des Don Josés
farbenreich, mal mit hellem, mal mit kraftvoll
brustigem Timbre. Besonders anrührend gelingt das
Duett mit Micaëla im ersten Akt und die Blumenarie
im zweiten Akt.
FAZIT
Ein Opernabend für die ganze
Familie. Regisseurin Adriana Altaras wird mit dieser
lebensnahen Inszenierung auch Film- und Soap-Opera-Fans für die Oper begeistern.