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Jeder liebt für sich allein
Von Roberto Becker /
Fotos von
Wilfried Hösl
Lulu gilt als die weibliche Projektionsfläche männlicher Obsessionen und Ängste, für die Gefahr des Weiblichen schlechthin. Auf das Weib richtet sich das männliche Begehren, es ist dann aber "schuld", wenn der Mann untergeht. Wie all' die Männer, die bei Frank Wedekind bzw. Alban Berg Lulu zu nahe kommen. Wie der Medizinalrat, den der Schlag trifft, als er sie mit einem anderen Mann sieht. Wie der junge Maler, der sich selbst umbringt, als er von ihrer Vorgeschichte erfährt. Wie Dr. Schön, den sie zwar als einzigen wirklich liebt, mit einer rücksichtslosen Intrige zu ihrem Ehemann macht, ihn dann aber erschießt, als der sie zum Selbstmord zwingen will. Und nicht zuletzt wie die lesbische Gräfin Geschwitz, für die ganz am Ende ihr Entschluss, diese Leute sich selbst zu überlassen, sich an der Universität für ein Jura-Studium einzuschreiben, um dann für die Rechte der Frauen zu kämpfen, zu spät kommt. Jack the Ripper hat da längst sein Messer gezückt für das Ende vom Lied.
Dieses Ende verändert der Regisseur Dmitri Tcherniakov. Am Rande des gläsernen Labyrinths, mit dem er als sein eigener Ausstatter die Bühne im Nationaltheater vollgestellt hat, ist es Lulu selbst, die das Messer gegen sich richtet und zusticht. Was man durchaus für einen Akt der Selbstbefreiung nehmen kann. In einer Welt, die auf demonstrative Weise durchsichtig ist, was den Zuschauer zugleich in die Position eines Voyeurs versetzt.
Zu den instrumentalen Zwischenmusiken sieht man Paare im gesamten Labyrinth, wie sie sich miteinander bewegen, mit einander kämpfen und am Ende und in der Masse allein an der Wand lehnen oder ermattet herumliegen. Nimmt man diesen resümierenden Blick als Essenz von Begehren und Beziehungskatastrophen, dann ist Tscherniakov nah am Kern der Geschichte, sieht sie vom Zentrum der getriebenen und treibenden Lulu aus. Man staunt mehr mit ihr über das, was passiert, als das sich Empathie oder Entsetzen über sie aufbauen würde. Diese ihrer sozialen oder historischen Zuordnung beraubte Lulu funktioniert als gleichsam abstraktes Psychogramm des Begehrens und als eigenwilliges Musiktheater vor allem deshalb, weil mit Marlis Petersen eine in jeder Hinsicht hochkarätige Protagonistin im Zentrum steht. Die bei der Premiere sogar die blutende Nase souverän überspielte, die sie sich beim Zusammenstoß mit einer der Glasscheiben geholt hatte. Marlis Petersen ist mit einer Erfahrung von neun Lulu-Inszenierungen im Gepäck derzeit eine der besten Interpretinnen dieser Rolle schlechthin.
Sie führt ein Ensemble an, das ihr an vokaler und darstellersicher Überzeugungskraft in nichts nachsteht. Vor allem Bo Skovhus macht als Dr. Schön und dann auch als Jack the Ripper in stimmlichen Hochform und mit darstellerischer Intensität gewaltigen Eindruck. Aber auch alle anderen, von Matthias Klink (als Alwa) und Reiner Trost (Maler) bis hin zu Daniela Sindrams Gräfin Geschwitz und Pavlo Hunkas Schigolch tragen ihren Teil zu einer exzellenten Ensembleleistung bei.
In München verordnet (oder gönnt) man dem Publikum zwei Pausen für die dreiaktige mit dem von Friedrich Cerha vervollständigte Fassung von Bergs unvollendetem Fragment. Das erfordert schon etwas Kondition, aber verlängert den musikalischen Genuss. Und der hat einen Namen: Kirill Petrenko. Der Russe ist neben der Petersen wiederum der eigentliche Star der Vorstellung. Bei ihm umschmeichelt das Orchester die Solisten, behauptet auch da vor allem die Schönheit der Musik, die sich bei den Intermezzi ohnehin längst von selbst versteht. Petrenko beweist erneut, dass er in München angekommen ist. Bei diesem Orchester und bei seinem Publikum. Ein Perfektionist, der sich den Dingen, die er macht, voll zuwendet und ansonsten lieber schweigt. So was ist in seiner Branche heutzutage von einem seltenen Reiz. FAZITEine überwältigende Neuproduktion der Lulu mit einer faszinierenden Marlis Petersen in der Titelrolle und dem Pultmagier Kirill Petrenko im Graben. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Bühne
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Solisten
Lulu
Gräfin Geschwitz
Theater-Garderobiere, Gymnasiast, Groom
Medizinalrat, Bankier, Professor
Der Maler, ein Neger
Dr. Schön, Jack the Ripper
Alwa
Tierbändiger, Athlet
Prinz, Kammerdiener, Marquis
Der Theaterdirektor
Eine Fünfzehnjährige
Ihre Mutter
Eine Kunstgewerblerin
Ein Journalist
Ein Diener
Schigolch
Der Polizeikommissär
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