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Geschlossene GesellschaftVon Ursula Decker-Bönniger / Fotos von Jörg LandsbergOb Sozialromantik, von folkloristischen Tänzen untermalte freie Liebe oder sagenumwobene Femme Fatale, Bizets 1875 uraufgeführte Carmen gehört zu den Opern-Publikumslieblingen schlechthin. Aber was man aus heutiger Sicht über Libretto und Musik erzählen will, ist letztlich für jede Regieauseinandersetzung eine neue Herausforderung. Regisseurin Anna-Sophie Mahler verlegt die Handlung in die geschlossene Gesellschaft eines bürgerlichen Salons, einer gediegenen Club-Atmosphäre, die eher an die 1950er Jahre als an die rauschende französische Salonkultur des 19. Jahrhunderts erinnert. Ähnlich wie Prosper Mérimée die ihm erzählte, höchst dramatische, bewegende Liebes- und Lebensgeschichte eines zum Tode verurteilen Mörders in der Ich-Form erzählt, wählt Mahler für ihre Bremer Neuinszenierung die Perspektive des zurückkehrenden Außenseiters Don Josés, der die Erwartungen der geschlossenen Gesellschaft an Männlichkeit, Liebe und Berufskarriere nicht einlösen kann. Schon als Hausmädchen liebt Carmen (Theresa Kronthaler) die Provokation. Anstelle der Tabakfabrik und dem Gebäude der Hauptwache führt uns das Bühnenbild von Duri Bischoff einen großzügigen, mit Sesselgruppen, Kamin und Freitreppe ausgestatteten, gediegen bürgerlichen Wohnkomplex vor Augen. Schreie und Tumult erklingen aus dem angrenzenden Esszimmer, in das man sich auch zurückzieht, wenn Micaela ihren Verlobten aufsucht. Die Freitreppe lenkt das Augenmerk auf die weiblichen Schlüsselfiguren Micaela und Carmen. Gleich zu Beginn beobachten nicht Soldaten das „freundlich belebte Treiben auf dem Platz“ sondern treffen sich Herren zum geselligen Miteinander im Salon, rauchen Zigarre, lassen sich von Frauen verführen, die ihnen ein an Milch erinnerndes Getränk servieren. Mahler versteht es, Vertrautes leicht zu ver-rücken, musikalisch folkloristisch anmutende Nummern gezielt zu entschleunigen und neue Erwartungshaltungen aufzubauen. Carmen selbst ist ein eigenwilliges, in Servierschürze und –häubchen gewandetes Hausmädchen. Während Micaela die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen der Mutter symbolisiert, verkörpert Carmen die Freiheit, fordert auch die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse ein. Sie raucht Zigarre, spielt mit der Provokation, um nach der gescheiterten Beziehung schillernd und kämpferisch wie ein Torero den Tod zu suchen. Aber anders als in Mérimées Novelle wird in Mahlers Inszenierung kein gelebtes, soziales Schicksal erzählt, sondern das tragische Drama geschlechtsspezifischer Zuschreibungen vor Augen geführt. Carmen erscheint als künstliche Projektionsfigur, die Don Josés Identitätssuche und Außenseiterrolle in der Gesellschaft zeigt. Mal reicht sie ihm die Zigarre. Mal bindet sie ihm das Servierschürzchen, setzt ihm das Häubchen auf. Mal versucht sie, ihn mit einem weißen Kleid zu locken. Hilflos, passiv lässt er es geschehen, um im letzten Bild zum Mörder zu werden und sich die Frauenkleider vom Leib zu reißen. Eine nachdenklich stimmende, in Bild und Bewegung die musikalischen Klischees brechende Regie-Interpretation. Dass sie nicht allen Premierenbesuchern gefiel, versteht sich von selbst. Wie ein Torero lässt sich Carmen (Theresa Kronthaler) im vierten Akt von den Massen feiern. Musikalisch zaubern die Bremer Philharmoniker, vor allem auch der homogen und textverständlich artikulierende Chor und Kinderchor, aber auch die überwiegende Zahl der Gesangssolisten unter der souveränen Leitung von Markus Poschner ein abwechslungsreiches, ausdrucksstarkes, kammermusikalisch transparentes Farbenspiel. Die Folge der verschiedenen Musiknummern wird nur von wenigen gesprochenen Dialogen unterbrochen, der musikdramatische Spannungsbogen zum Beispiel in dem langen, ersten Duett von Micaela und Don José bis zur letzten Pianissimo-Note des ausdrucksvollen Orchesternachspiels gehalten. Luis Olivares Sandoval stellt den suchenden, willenlosen Don José dar. Vor allem in besagtem Duett mit der klangschönen, vollmundigen Sopranistin Erika Roos als Micaela überzeugt der lyrische Tenor mit differenzierter Gestaltung und leisem, zarten Vibrato. Theresa Kronthaler ist eine stimmlich farbenreich funkelnde, auch ausdrucksstark schaupielende Carmen. In transparentem, leicht dahinfließendem Duett des 3. Aktes versuchen Nerita Pokvytyte und Nathalie Mittelbach als Spielkarten werfendes Frauengespann Frasquita und Mercédès die düstere Atmosphäre aufzuhellen. FAZIT Eine nachdenklich stimmende, darstellerisch und choreographisch überzeugende Regieinterpretation, deren Thesen plakativ ausgestellt werden, aber ihre kritische Wirkung nicht verfehlen Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung Regie
Bühne
Kostüme
Licht
Chor Kinderchor Choreographie
Dramaturgie
Chor und Kinderchor Bremer Philharmoniker
Solisten*Premierenbesetzung Don José
Escamillo
Dancairo
Remendado
Morales
Zuniga
Carmen
Micaela
Frasquita
Mercédès
Der
junge José
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