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Medea

Tragedia in drei Akten
Libretto von Francois-Benoît Hoffmann
nach Euripides, Seneca und Pierre Corneille
Italienische Fassung von Carlo Zangarini
Musik von Luigi Cherubini


in italienischer Sprache mit englischen und französischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 10' (zwei Pausen)

Premiere der Neuproduktion im Grand Théâtre de Genève am 9. April 2015

Besuchte Vorstellung: 18. April 2015


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Grand Théâtre de Genève
(Homepage)

Medea verstehen

Von Thomas Tillmann / Fotos von GTG/Wilfried Hösl


Christof Loy ist ein Frauenversteher. Und Medea ist, folgt man dem Titel der Besprechung in der NZZ, eine "fast ganz normale Frau", eine unangepasste Frau in einer von bürgerlichem Konformismus geprägten Welt voll schöner, kalter Menschen, die in Posen erstarren anstatt sich natürlich zu bewegen, deren Leben kaum mehr als ein ewiges Fotoshooting ist, bei dem es in erster Linie darum geht, stets perfekt auszusehen - für Gefühle, Spontaneität, Tiefgang und Unerwartetes ist da kein Platz, und so sind alle von Glauces Gefühlsausbrüchen während der Anprobe ihres Hochzeitskleides gleichermaßen geschockt wie genervt und versuchen die Königstochter mit einer Pille wieder zum Funktionieren zu bringen. In eine solche sich hermetisch abriegelnde Gesellschaft, in der die Natur nur in wenigen Minuten wie eine Art dreidimensionale Fototapete eingeblendet wird, kann eine unangepasste Frau wie Medea nicht passen, die ihre Haare nur praktisch hinten zusammengebunden trägt und sich nicht viel aus ihrem Äußeren macht, eine Frau zudem, die schon bei ihrem Auftritt aus der "falschen" Richtung kommt und nicht von der Bühnenseite, auf der sich Creontes Hofstaat versammelt hatte. Loy interessiert sich aber nicht nur für die Titelfigur, sondern schenkt auch Glauce und ihrer unglücklichen Situation große Aufmerksamkeit, was dazu führt, dass man sich bis zum Erscheinen der Heroine anders als in manch anderer Produktion von Cherubinis Oper nicht langweilt. Unterschiedlicher könnten die beiden Frauen übrigens nicht sein: Klein, ein wenig pummelig, kaum älter als Medeas und Giasones Kinder und entsprechend unsicher die eine, hager, hoch aufgeschossen, weißblond, energisch-impulsiv und doch klug kalkulierend die andere.

Szenenfoto

Medea (Alexandra Deshorties) erinnert sich, dass sie alles für Giasone getan hat. Umso fassungsloser ist sie, dass er sie nun verlassen will und Glauce das Goldene Vlies als Hochzeitsgeschenk überlässt.

Herbert Murauer hat eine schlichte, den Klassizismus der Entstehungszeit zitierende, sehr wirkungsvolle Bühne aus edlem Holz, mit Stufen auf verschiedenen Ebene und mit verschiebbaren Wänden geschaffen, auch das Orchester ist in diesen Bühnenraum integriert, ein Umlauf öffnet ihn zum Parkett hin. Da bleibt viel Raum für das Spiel der Sängerinnen und Sänger, die Loy - und das ist eine seiner besonderen Qualitäten - zu einem ganz natürlichen und gerade deshalb so eindrucksvollen Spiel bewegen kann, man erlebt Figuren aus Fleisch und Blut, die nicht in grauer mythologischer Vorzeit leben, sondern heute, man begreift nicht zuletzt dank der intelligenten, exzellenten Personenführung ihr Handeln, das gar nicht so weit entfernt ist von unserem eigenen. Das Bemerkenswerte ist, dass der deutsche Regisseur dabei niemals in platte Aktualisierungen verfällt - es ist stimmig, wenn er bereits in der Ouvertüre Jasons Kinder im Teenageralter in Begleitung Glauces auf ihren Boards über die Bühne rasen lässt, dass Creonte streng eingreift und die beiden kurz darauf blutüberströmt, dann in neuen, angepasst-standesgemäßen Outfits erscheinen, fängt die Situation präzis und bewegend ein. Ebenso eindringlich ist es, wenn Medea im letzten Akt mit einem Tisch, drei Stühlen, Wasser und Brot versucht, ein Zuhause zu schaffen, es ist beklemmend zu beobachten, wie sie mental beim Brotschneiden die spätere Tat zu entwickeln und zu antizipieren scheint. Loy entwickelt dies alles mit großer Ruhe, da gibt es keinen an den Nerven zehrenden Aktionismus, wenig Platt-Plakatives. Loy treibt die Konzentration auf die Gefühle Medeas auf die Spitze, wenn er seine Hauptdarstellerin in der Schlussszene auf dem Umlauf agieren lässt und den Effekt durch eine Videoprojektion ihres Gesichts doppelt, und selbst der "Feuerzauber" am Ende wirkt nicht vordergründig-theatralisch. Und es war trotz des Umstandes, dass man sich in einer französischsprechenden Metropole befindet, eine richtige Entscheidung, die italienische Version mit den Lachner-Rezitativen auszuwählen, die für immer mit dem Namen von Maria Callas verbunden ist - es gibt nichts Furchtbareres, als die langen, schwierigen gesprochenen Dialoge von Nichtmuttersprachlern und nicht mit dem Genre Vertrauten zu hören, und die sind schwer zu finden.

Szenenfoto

Giasone (Andrea Carè) ist sich (nicht ganz) sicher: Er liebt Medea (Alexandra Deshorties) nicht mehr.

Anstatt der vorgesehenen Jennifer Larmore, die während der Probenzeit aus gesundheitlichen Gründen aus der Produktion ausscheiden musste (sich aber im Programmheft in einer email-Korrespondenz mit dem Regisseur kompetent zur Rolle äußert), hatte man nun das Vergnügen, die Französin Alexandra Deshorties in der immens fordernden Titelpartie zu erleben, die sich vokal wie szenisch total auf die Rolle einließ und nichts weniger als eine Sensation war: Sie verzehrte sich darstellerisch geradezu, zitterte mitunter am ganzen Körper, aber sie schoss bei ihren Bemühungen nie übers Ziel hinaus, verfiel nicht in enervierende Stummfilmoutrage. Und auch vokal zog man den Hut, auch wenn man sich über den häufigen Einsatz von Sprechgesang und Töne wunderte, die für die Stimme einfach nicht gut sein können, aber als Kompensation für die schwach ausgebildete Mittellage und Tiefe eines nicht wirklich dramatischen Soprans wohl unumgänglich waren. Schon nach wenigen Minuten vergaß man auch solche Einwände, man ließ sich in den Bann dieser großen Sängerdarstellerin ziehen, staunte manches Mal über die fast trompetenhaft durchdringenden Acuti voller Schärfe und Bitterkeit und die Kraft, mit der sie die großen Ausbrüche bewältigte, um im nächsten Moment mit zarten, intimen, schmeichlerischen Piani einen anderen Aspekt der Figur beeindruckend einzufangen, war fasziniert von der Intensität, mit der sie den Text auslotete.

Szenenfoto

Medea (Alexandra Deshorties) versucht während der Galgenfrist, die Creonte ihr eingeräumt hat, einen Kontakt zu ihren Kindern aufzubauen.

Eine Entdeckung war für mich auch Andrea Carè als Giasone mit seinem völlig unverkrampft eingesetzten, volltönenden, strahlenden, legatostarken jugendlichem Spintotenor, vielleicht nicht immer ganz stilsicher und vermutlich in der Zukunft eher in Verdi- und Puccinipartien zuhause, aber mit der nicht einfachen Lage der Partie kein bisschen überfordert und sicher auch eine gute Wahl für den Pollione, den er demnächst in Bordeaux geben wird. Und ein empfindsamer Darsteller ist der - so lässt uns das Programmheft wissen - Schüler Luciano Pavarottis und Protégé der großen Raina Kabaivanska auch, man kann die Hilflosigkeit Giasones, seine Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen und sein Überfordertsein als Vater angesichts einer eigenen Lebenskrise sofort nachvollziehen.

Szenenfoto

Medea (Alexandra Deshorties) ist entschlossen: Giasones Kinder müssen sterben.

Eine pure Freude war es, dem wunderbaren, edlen, ausgeglichen-reifen Alt von Sara Mingardo zuzuhören, natürlich zentral in der großen, bekannten Arie der Neris, die sie mit immenser Akkuratesse, Schlichtheit und Phrasierungseleganz gestaltete. Eine hübsche Stimme hat natürlich auch Grazia Doronzio, aber in der nicht einfachen Arie der Glauce, in der die Extremhöhe mitunter etwas knapp und piepsig klang, erwies sie sich noch nicht als besonders gereifte Interpretin trotz einiger berührender Momente. Kräftigere, entschlossenere Töne kamen von ihr erst, nachdem sie die große Aufgabe absolviert hatte, jetzt ahnte man, dass die Italienierin durchaus Potential für eine größere Karriere hat. Daniel Okulitch war ein optisch wie vokal sehr junger Creonte, die Art seines Singens war mir etwas grobschlächtig, mancher Ton zu sehr gebrüllt, der Stimme fehlte es auch an Volumen in der Tiefe, so dass der Künstler mehr als einmal Probleme hatte, sich gegen das gar nicht so laute Orchester durchzusetzen, so dass man den Eindruck nicht los wurde, dass die Optik des Interpreten den Ausschlag für das Engagement gegeben haben dürfte, denn in dieser Produktion ist Creonte kein greiser, überforderter König, sondern in erster Linie ein Mann, der von Medea mehr als angezogen ist. Durchaus charaktervolle Töne steuerten die beiden als Stylistinnen geführten Johanna Rudström und Magdalena Risberg sowie Alexander Milev als Capitano bei. Einen insgesamt guten Eindruck hinterließ auch der Chor, auch wenn in einigen Momenten den Sopranen die hohen Töne hörbar einige Arbeit machten. Ein Sonderkompliment geht an die beiden Statisten, die vor allem im dritten Akt sehr berührend und differenziert Medeas Söhne gaben (die Namen der beiden konnte ich leider im Programmheft nicht finden).

Szenenfoto

Medea (Alexandra Deshorties, im Bühnenhintergrund) hat ihr Racheprojekt abgeschlossen: Nicht nur Giasones Kinder sind tot, sondern König Creonte (Daniel Okulitch, Bühnenmitte) hält im brennenden Korinth auch seine tote Tochter Glauce (Grazia Doronzio) in den Armen.

Unter der Leitung des auf große Akkuratesse setzenden slowenischen Dirigenten Marko Letonja gelangen dem Orchestre de la Suisse Romande feine dynamische Abstufungen und wunderbare Stimmungen, aber für meinen Geschmack hätten die dramatischen Akzente noch deutlicher gesetzt werden können, hätte das Spiel des Orchesters noch häufiger den Drive und die Aggressivität haben können, die das Gewitter zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends werden ließen.


FAZIT

Ein großer Musiktheaterabend, zweifellos, denn es gelingt Christof Loy, dem Zuschauer die extreme psychische Verfassung dieser Frau näherzubringen. Und zweifellos funktioniert das auch sehr, sehr gut in zeitlos-modernem Ambiente, besonders gut natürlich, wenn man eine solche Darstellerin wie Alexandra Deshorties in der Titelpartie zur Verfügung hat.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Marko Letonja

Inszenierung
Christof Loy

Bühnenbild und Kostüme
Herbert Murauer

Licht
Reinhard Traub

Choreografie
Thomas Wilhelm

Dramaturgie
Yvonne Gebauer

Chor
Alan Woolbridge


Chor des Grand Théâtre de Genève

Orchestre de la Suisse Romande


Solisten

Creonte
Daniel Okulitch

Glauce
Grazia Doronzio

Giasone
Andrea Carè

Medea
Alexandra Deshorties

Neris
Sara Mingardo

Hauptmann
der königlichen Garde
Alexander Milev

Die Stylistin
Johanna Rudström

Ihre Assistentin
Magdalena Risberg





Weitere
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Grand Théâtre de Genève
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