Geister der Vergangenheit
Von Thomas Molke /
Fotos von Barbara Aumüller
Von den insgesamt sieben Opern, die der in Warschau geborene
Mieczys ław Weinberg auf
literarische Vorlagen - unter anderem von berühmten Persönlichkeiten wie George Bernard Shaw,
Nicolai Gogol und Fjodor M. Dostojewski - im russischen Exil bis in die 80er Jahre
des letzten Jahrhunderts komponiert hatte, betrachtete er zeitlebens Die
Passagierin als sein Hauptwerk. Umso bedauerlicher scheint es, dass er von
dieser bereits 1968 beendeten Komposition die Uraufführung, die konzertant erst
2006 in Moskau stattfand und szenisch bei den Bregenzer Festspielen 2010
erstmals zu erleben war, nicht mehr miterleben durfte. Als der zu Lebzeiten nur
von Schostakowitsch protegierte und ansonsten von der Öffentlichkeit eher
vernachlässigte Künstler zu Beginn der 90er Jahre zum "Staatskünstler der UdSSR"
ernannt wurde, hatte er sich schon einige Jahre ins Privatleben zurückgezogen
und konnte den späten Ruhm bis zu seinem Tod 1996 kaum noch genießen. Seit ein
paar Jahren wird Weinbergs
Schaffen auf den Opernbühnen jedoch eine wachsende und damit die ihm gebührende Aufmerksamkeit
geschenkt. So gab es seit 2013 nicht nur auf deutschen Bühnen zwei Produktionen
seiner späten Oper Der Idiot (in Mannheim und Oldenburg), sondern auch
seinem Erstlingswerk Die Passagierin folgten auf die szenische
Uraufführung in Bregenz weitere Inszenierungen in Karlsruhe und jetzt in Frankfurt.
Auch in Chicago gelangte das Stück jetzt zur amerikanischen
Erstaufführung.
Marta (Sara Jakubiak) hat den
Holocaust überlebt. Die Handlung basiert auf
der gleichnamigen Novelle der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz, die den
Holocaust in Auschwitz überlebte und Jahre später mit ihrer Erzählung, die
zunächst als Hörbuch erschien, ihre schrecklichen
Erlebnisse zu verarbeiten suchte. Dabei erzählt sie allerdings nicht ihre eigene
Geschichte, sondern lässt die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa (Anneliese Franz) zu
Beginn der 60er Jahre auf der Überfahrt nach Brasilien, wo ihr Mann Walter
Kretschmer einen Posten als Botschafter der BRD annehmen soll, auf dem Schiff
auf eine Passagierin treffen, in der sie Marta, eine Gefangene aus dem Lager in
Auschwitz, wieder erkennt, die sie eigentlich für tot hielt. Nun kommen bei Lisa
alte Erinnerungen an ihre Vergangenheit wieder hoch. Walter sieht durch Lisas
Beichte seinen Posten als Botschafter gefährdet, ist aber dennoch bereit, zu
seiner Frau zu halten, wenn sie die Vergangenheit ruhen lässt. Einen Neuanfang
planend, gehen die beiden zu einem Ball auf dem Schiff, doch als sich die
geheimnisvolle Passagierin einen Walzer wünscht, den Martas Verlobter damals in
Auschwitz bei einem Konzert für einen der Kommandanten spielen sollte, wird Lisa
erneut von ihrer Vergangenheit eingeholt und bricht zusammen. Noch einmal
durchlebt sie die Szene, in der die SS-Männer Tadeusz' Geige zerstören und ihn abführen, weil er
statt des geforderten Walzers die Chaconne von Johann Sebastian Bach
gespielt hat. Am Ende sieht man Marta am Ufer eines Flusses, wo sie sich an ihre
Mithäftlinge und Tadeusz erinnert und wünscht, dass diese niemals in
Vergessenheit geraten werden.
Auf der Überfahrt nach Brasilien
trifft Lisa (Tanja Ariane Baumgartner, links) mit ihrem Mann Walter (Peter
Marsh) Anfang der 60er Jahre auf die ehemalige KZ-Insassin Marta (Sara Jakubiak,
rechts).
Anselm Weber nutzt in seiner Inszenierung diesen Epilog
und stellt ihn gewissermaßen als Klammer um das ganze Stück. So beginnt der
Abend auch anders als im Libretto mit Marta, die an die Rampe tritt und in
großen Lettern in die Luft "Ich lebe, du lebst, sie lebt" in all den Sprachen
schreibt, die ihre Mithäftlinge im Lager gesprochen haben und die wie ein
Menetekel auf die Rückwand projiziert werden. Auch wenn Marta wohl die einzige
zu sein scheint, die von den Gefangenen im Stück dieses Grauen überlebt hat,
suggeriert sie mit diesem Ausspruch zumindest, was sie im Epilog verkündet,
nämlich dass die anderen Häftlinge zumindest in ihrer Erinnerung leben und damit
nicht dem Vergessen anheim fallen werden. Erst nach dieser Szene beginnt das
eigentliche Stück. Katja Haß hat einen gewaltigen Schiffsrumpf auf die Bühne
gestellt, an dessen Außenseiten hohe weiße Treppen zu den einzelnen Decks
führen. Das Innere des Schiffes entpuppt sich als großer abgeschlossener Raum,
in dem die Vergangenheit im Lager in Auschwitz zur gefühlten Gegenwart wird.
Lisa und Walter scheinen gewissermaßen auf einem Geisterschiff eine Reise in
Lisas Vergangenheit anzutreten. Bettina Walter verzichtet
bei den Kostümen auf jedwede Abstraktion und lässt die grausame Geschichte zur
spürbaren Wirklichkeit werden. Wenn Lisas Mann zu Beginn des Stückes befürchtet,
dass die unbekannte Passagierin seine Frau als ehemalige KZ-Aufseherin entlarven
und damit seiner Karriere in Brasilien ein verfrühtes Ende bereiten könnte,
sieht er die zahlreichen Schlagzeilen in unterschiedlichen Sprachen als
Videoprojektion auf der weißen Schiffswand, bevor die Buchstaben wie Dreck von
der Wand abgewischt werden.
Sprung in die Vergangenheit:
Lisa (Tanja Ariane Baumgartner, Mitte) als Aufseherin zwischen den weiblichen
Häftlingen in Auschwitz (links vorne: Krystina (Maria Pantiukhova), rechts
vorne: Marta (Sara Jakubiak), dahinter Opernchor)
Im weiteren Verlauf des Stückes konfrontiert Weber den
Zuschauer mit schonungslosen Bildern, die zwar sicherlich nicht an die reale
Grausamkeit heranreichen, allerdings auch nichts durch Abstraktion verharmlosen.
Wie Vieh werden die Häftlinge in diesem Schiffsrumpf zusammengekarrt und müssen
die Sachen ihrer verstorbenen Mithäftlinge ordnen. Lisa ist nun wieder in ihr
altes Kostüm als Aufseherin geschlüpft, während Weber Walter mit einem Buch und
einer Pfeife teilnahmslos durch den Raum laufen lässt, ohne von den anderen
dabei wahrgenommen zu werden. Es geht Walter wohl weniger um das Schicksal der
KZ-Insassen als vielmehr um die Frage, wie es um seine politische Zukunft
aussehen könnte, wenn die Vergangenheit seiner Frau ans Licht käme. Neben den
eindringlichen Bildern in der Baracke, in der die weiblichen Häftlinge sich in
der verzweifelten Situation versuchen, gegenseitig Trost zu spenden, und sogar
bei der Feier anlässlich Martas 20. Geburtstag ein Moment der Hoffnung in ihnen
aufkeimt, kann vor allem das letzte Bild auf dem Schiff beeindrucken, wenn Lisa
bereit ist, ihre Vergangenheit abzustreifen und mit ihrem Mann auf den Ball geht
und dort zunächst ausgelassen mit dem Kapitän tanzt. Wenn die Passagierin
plötzlich auftritt und die Kapelle den Walzer spielt, der damals im KZ erklang,
tritt Marta auf Lisa zu, reißt ihre Perücke herunter und steht wieder mit kahlem
Kopf vor ihr wie einst im Lager. Nun legen auch alle anderen Gäste ihre
Ballgarderobe ab und verwandeln sich in KZ-Häftlinge, wobei die Kleider fein
säuberlich auf einem Haufen gestapelt werden. Ängstlich kauert sich Lisa in
ihrem gelben Ballkleid nun in eine Ecke und sieht erneut die Katastrophe Revue
passieren, während ihr Mann einfach verschwindet.
Die Schatten der Vergangenheit
lassen Lisa (Tanja Ariane Baumgartner, rechts) nicht zur Ruhe kommen (in der
Mitte: Opernchor).
Mit Applaus hat man bei diesem Stück eigentlich ein sehr
großes Problem. Wenn zur Pause die Namen zahlreicher Häftlinge, die im KZ den
Tod gefunden haben, auf die Rückwand projiziert werden, zögert das Publikum sehr
lange, bevor die ersten Besucher zaghaft zu klatschen beginnen. Die Leistung des
Ensembles ist in dieser Inszenierung allerdings so großartig, dass am Ende die
Hemmschwelle sehr schnell fällt und das Publikum in einen tosenden Applaus
ausbricht. Sara Jakubiak besitzt in der Partie der Marta eine unglaubliche
Bühnenpräsenz und schafft es, mit ihrer bloßen Anwesenheit, die ehemalige
Aufseherin zu verunsichern. In den KZ-Szenen begeistert Jakubiak durch
intensives Spiel und eine gewisse Stärke, die den Mithäftlingen Trost zu spenden
versteht und deutlich macht, wieso Lisa zu dieser Insassin eine gewisse
Verbundenheit empfunden hat. Stimmlich brilliert Jakubiak durch einen warmen
Sopran, der vor allem in ihrem großen Lied vom Tod im sechsten Bild zur Geltung
kommt, wenn die anderen Häftlinge sie in der Geburtstagsszene bitten, ein
Ständchen zu bringen. Tanja Ariane Baumgartner gibt als Lisa eine kongeniale
Gegenspielerin ab. Großartig spielt sie in den Szenen mit ihrem Mann Walter aus,
wie sie das schlechte Gewissen plagt und dass die Schatten der Vergangenheit sie
nicht loslassen. In den KZ-Szenen beweist sie allerdings durchaus Härte und
versucht Lisas Verhalten keineswegs zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Stimmlich punktet Baumgartner dabei mit
dramatischem Mezzo. Peter Marsh stattet ihren Ehemann Walter mit kräftigem und
höhensicherem Tenor aus. Darstellerisch überzeugt auch Marsh, wenn seine
Verliebtheit zunächst in Entsetzen umschlägt, als er von der Vergangenheit
seiner Frau erfährt. Brian Mulligan begeistert als Tadeusz mit
markantem Bass. Auch Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita
Nagyová, Nora Friedrichs, Joanna Krasuska-Motulewicz und Barbara Zechmeister
gefallen stimmlich und darstellerisch als weitere KZ-Insassen. Der von Tilmann
Michael einstudierte Chor präsentiert sich ebenfalls absolut stimmgewaltig. Das
Frankfurter Opern- und Museumsorchester lotet unter der Leitung von Christoph
Gedschold die vielschichtige Partitur von Weinberg, die mit zahlreichen
Stilrichtungen von leichter Unterhaltungs- bis hin zur Zwölftonmusik changiert, differenziert aus, so dass
der Abend als rundum gelungen betrachtet werden kann.FAZIT
Das Regie-Team um Anselm Weber setzt Weinbergs Oper, die äußerst sensibel mit
einem grauenvollen Thema der deutschen Geschichte umgeht, packend um und stellt
unter Beweis, dass dieser Komponist zeit seines Lebens zu Unrecht vernachlässigt
worden ist.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Christoph Gedschold Regie
Anselm Weber Bühnenbild
Katja Haß Kostüme
Bettina Walter Choreographie
Alan Barnes
Licht
Olaf Winter Video
Bibi Abel Chor
Tilmann Michael
Dramaturgie
Norbert Abels Chor der Oper Frankfurt Statisterie der Oper
Frankfurt Frankfurter Opern- und
Museumsorchester
Solisten
Lisa
Tanja Ariane Baumgartner
Walter
Peter Marsh
Marta
Sara Jakubiak
Tadeusz
Brian Mulligan
Katja
Anna Ryberg
Krystina
Maria Pantiukhova
Vlasta
Jenny Carlstedt
Hannah
Judita Nagyová
Yvette
Nora Friedrichs
Bronka
Joanna Krasuska-Motulewicz
Alte
Barbara Zechmeister
Erster SS-Mann
Dietrich Volle
Zweiter SS-Mann
Magnús Baldvinsson
Dritter SS-Mann
Hans-Jürgen Lazar
Steward
Michael McCown
Passagier
Thomas Faulkner
Oberaufseherin
Margit Neubauer
Kapo
Friederike Schreiber
Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Oper Frankfurt
(Homepage)
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