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Musiktheater
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b.22

Verwundert seyn - zu sehn (Uraufführung)

Ballett von Martin Schläpfer
Musik von A. Skrjabin (Klaviersonaten Nr. 6 und Nr. 10) und F. Liszt (Grande Valse di bravura Le bal de Berne)

Moves - A Ballett in Silence

Ballett von Jerome Robbin

Ein Wald, ein See

Ballett von Martin Schläpfer
Musik von Paul Pavey

Aufführungsdauer: ca. 3h 10' (zwei Pausen)

Premiere am 23. Januar 2015 im Theater Duisburg


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Studien des Unbewussten

Von Stefan Schmöe / Fotos von Gert Weigelt

" Die Scenen unseres Lebens gleichen Bildern in grober Musaik, welche in der Nähe keine Wirkung thun, sondern von denen man ferne stehen muß, um sie schön zu finden." Diese Passage aus Arthur Schopenhauers Schriftensammlung Parerga und Palralipomena hat Martin Schläpfer inspiriert zu Verwundert seyn - zu sehn (auch der Titel ist dem Buch entnommen). Szenen eines Lebens, Entscheidungen, widersprüchliche Bedürfnisse: Ein Stationendrama mit einem klaren Hauptdarsteller, fabelhaft getanzt von Marcos Menha. Ihm zur Seite steht ein zweiter Tänzer, der dunkelhäutige und ungemein muskulöse Chidozie Nzerim, beide mit freiem Oberkörper, und auch wenn Nzerem wohl so etwas wie ein alter ego Menhas darstellt, ist die Szene stark homoerotisch aufgeladen. Bald drängt sich eine Tänzerin dazwischen (ebenfalls großartig: Ann-Kathrin Adam), die auf Spitze tanzend ein völlig anderes Element in den kraftstrotzenden pas de deux der beiden Männer bringt. Eine menage a trois? (Oder wie eine Premierenbesucherin irritiert formulierte: "Erst schwul, dann nicht, zuletzt doch wieder.")

Vergrößerung Verwundert seyn - zu sehn: Marcos Menha (links) und Chidozie Nzerem

Der Protagonist stirbt offenbar am Ende unter sanft trommelnden Faustschlägen Nzerims. Bis dahin hat er allerhand erlebt, aber, das ist das Problem der Choreographie, man versteht nicht recht, was das sein soll. Bilden im ersten und letzten Drittel zwei postimpressionistisch frei vagabundierende Klaviersonaten Alexander Skrjabins (von Denis Proshayev klangsinnlich zwischen Moderne und Romantik pendelnd gespielt) die musikalische Klangfläche, so steht im Mittelteil ein früher Konzertwalzer von Franz Liszt wie ein heiteres Intermezzo, zu dem Luisa Rachedi (nicht ganz so prägnant wie die anderen Hauptdarsteller) ein verspieltes Solo tanzt, während sich im Hintergrund von Keso Dekkers Bühne ein Video-Mond hektisch dreht. Im dritten Teil betritt mit Camille Andriot (sehr ausdrucksstark) eine weitere zentrale Frauengestalt die (Lebens-)Bühne. Und den Rahmen liefert eine weitere Frau (Yuko Kato, mit ein paar gravitätischen Schritten praktisch nicht gefordert), durch ein Phantasiekostüm irgendwo zwischen Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und afrikanischer Stammesfürstin fast vollständig an der Bewegung gehindert, die zu Beginn ein Glöckchen auf die Bühne trägt und es am Ende wieder abholt. Das alles bleibt ziemlich unbestimmt für ein Handlungsballett, das sich immerhin vage abzeichnet, und ziemlich konkret für eine abstrakte Choreographie. So hat Verwundert seyn - zu sehn großartige Szenen, bleibt aber als Ganzes (zumindest beim einmaligen Sehen) merkwürdig unbestimmt, als bedürfe das Stück umfangreicher Erläuterungen. Vielleicht braucht es ein wenig zeitliche Distanz, ein Schopenhauersches "ferne stehen", damit sich das Mosaik zu einem Bild verbindet.

Vergrößerung

Verwundert seyn - zu sehn: Marcos Menha (links) und Ann-Kathrin Adam

Deutlich geschlossener jedenfalls kommt Ein Wald, ein See daher, das Martin Schläpfer 2006 für das Mainzer Ballett choreographiert hat (und das mit knapp unter einer Stunde ähnliche Ausmaße hat wie verwundert seyn - zu sehn). Allein wegen der irrwitzigen musikalischen Performance von Paul Pavey, der diverse Instrumente bedient und dazu auch noch singt (ach was: schnauft, brummt, krächzt) muss man das Stück gesehen und gehört haben - unglaublich, dass ein Mann allein dieses veritable Kammerorchester aus mehr oder weniger exotischen Instrumenten (mit einer slowakischen Hirtenflöte, einer türkischen Laute, aber auch Trompete, Flügelhorn oder Klavier) und Elektronik in der verschwimmenden Zone zwischen sehr freiem Jazz und "moderner" Musik zum Klingen bringt. Und auch die Ausstattung hat es in sich. Eine Installation aus horizontal aufgehängten gewellten Stangen (der See) und eben der vertikal ausgerichteten Aufhängung (der Wald) schwebt eindrucksvoll über dem Ensemble (Bühne: Thomas Ziegler), und Catherine Voeffray hat höchst raffinierte Kostüme geschaffen - Kleider für die Damen, geraffte Hosen und Hemden für die Herren, fernöstlich angehaucht, dazu bleich geschminkte Gesichter und archaisch wilde Frisuren. Aus den dunklen, elegant gegeneinander abgestuften Farben stechen zwei helle Kleider (eines in weiß, eines in rosa) als Blickfang hervor.

Vergrößerung Moves: Ensemble

Wald und See sind Chiffren für Urängste, die sich hinter der Grenzlinie verstecken. Es ist ein Ensemblestück, das die Tänzerinnen und Tänzer wie einen Stamm, eine aufeinander angewiesene Urgesellschaft, zeigt, mit spezifischen Riten, die nach festen, wenn auch nicht greifbaren Regeln ablaufen. Die energiegeladene Choreographie wirkt sehr kompakt und konzentriert. Zwingender, weniger episodisch als in verwundert seyn, ergeben sich die einzelnen Szenen voneinander und entwickeln eine zwingende Dynamik. Schläpfer zeigt archaische Bilder von großer Kraft. Wenn Sonny Locsin wie ein irrer Medizinmann die Welt beschwört, dann scheint er gleich das Publikum mit hineinziehen zu wollen in diesen Kosmos.

Vergrößerung

Ein Wald, ein See

Zwischen den beiden Werken Schläpfers steht wie eine scharfe Trennlinie ein denkbar anderes Werk: Moves von Jerome Robbins, 1959 uraufgeführt. Robbins verzichtet vollständig auf Musik (ursprünglich gar nicht einmal aus künstlerisch-konzeptionellen Erwägungen, sondern weil die bei Aaron Copland in Auftrag gegebene Komposition nicht rechtzeitig fertig war). Es wird aber auch keine Handlung, keine Geschichte erkennbar. Vielmehr scheint Robbins auf den Wiedererkennungswert bestimmter Formmodelle zu setzen, stellt einen scherzohaften Dance for Men einem lyrischen Dance for Women entgegen. In Triplets gibt es elegant wechselnde Konstellationen. Das Fehlen der Musik wird in gewisser Weise zum herausfordernden Thema, als müsse der Betrachter im Kopf die passende Musik dazu finden. Und es ist bewundernswert, mit welcher Souveränität und Präzision die Compagnie das ohne den Impuls gebenden Rhythmus der Musik tanzt. Moves- a Ballett in Silence mag ein wenig akademisch anmuten, will das vielleicht auch - aber einmal mehr zeigt Martin Schläpfer sicheres Gespür für die Auswahl und Zusammenstellung von Stücken. Nicht nur, weil er dem Publikum in Duisburg und demnächst Düsseldorf ein so interessantes Werk vorstellt, sondern auch, weil Robbins' musiklose Logik die Sinne schärft für Schläpfers eigene Studien des Unbewussten.


FAZIT

Vielleicht Geschmackssache: Für mich hinterlässt Ein Wald, ein See ungleich größere Wirkung als die etwas zerfranste Uraufführung von Verwundert seyn - zu sehn. Ein packender Balletabend ist das allemal.


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Produktionsteam

Verwundert seyn - zu sehn

Choreographie
Martin Schläpfer

Bühne und Kostüme
Keso Dekker

Licht
Franz-Xaver Schaffer

Videotechnik
Christoph Schroedel

Klavier
Denys Proshayev

Tänzerinnen und Tänzer

Marcos Menha
Chidozie Nzerem
Ann-Kathrin Adam
Louisa Rachedi
Yuko Kato
Camille Andriot
Sabrina Delafield
Sonia Dvorak
Christine Jaroszewski
Helen Clare Kinney
Anne Marchand
Aryanne Raymundo
Elisabeta Stanculescu
Philip Handschin
Richard Jones


Moves

Choreographie
Jerome Robbins

Einstudierung
Ben Huys

Kostümrealisation
Gabriela Oehmchen

Licht
Jennifer Tipton

Umsetzung Licht
Kevin Briard


Tänzerinnen und Tänzer

Mariana Dias
Nathalie Guth
Alexandra Inculet
So-Yeon Kim
Claudine Schoch
Julie Thirault
Paul Calderone
Jackson Carroll
Michael Foster
Sonny Locsin
Bruno Narnhammer
Alexandre Simões


Ein Wald, ein See

Choreographie
Martin Schläpfer

Bühne
Thomas Ziegler

Kostüme
Catherine Voeffrey

Licht
Franz-Xaver Schaffer

Live-Performance Musik
Paul Pavey


Tänzerinnen und Tänzer

Sachika Abe
Ann-Kathrin Adam
Doris Becker
Wun Sze Chan
Feline van Dijken
Nathalie Guth
Yuko Kato
Virginia Segarra Vidal
Julie Thirault,Irene Vaqueiro
Rashaen Arts
Andriy Boyetskyy
Jackson Carroll
Odsuren Dagva
Michael Foster
Sonny Locsin
Alexander McKinnon
Boris Randzio
Friedrich Pohl



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Ballett am Rhein
(Homepage)



Da capo al Fine

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