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Die Stadt als utopische BühneVon Ursula Decker-Bönniger / Fotos © Martin Becker
Deutschland schaut an diesem Uraufführungsabend auf Bielefeld. Nicht unbedingt wegen der anstehenden Premiere von Plätze. Dächer. Leute. Wege. Vielmehr des ortsansässigen Fußballvereins DSC Arminia wegen, der sich zeitgleich anschickt, als underdog das Fußball-Establishment aufzumischen und gegen den VfL Wolfsburg im Halbfinale des DFB-Pokals antritt. Die Arminia im Finale? Eine schöne Bielefelder Utopie. Die Raumsituation im auf der Hauptbühne: Kammerorchester mit dirigierendem Komponisten in zentraler Position, Projektionen zeigen das Geschehen im Foyer
Aber auch die Kultur wartet mit Utopie auf. Im Theater am Alten Markt TAM in Bielefeld ist das Ergebnis eines experimentellen Kunst-, Musik- und Theaterprojektes sehen und hören, das zwischen Mai 2014 und April 2015 vom Fonds Experimentelles Musiktheater, dem NRW Kultursekretariat und der Kunststiftung Nordrhein Westfalen initiiert, begleitet und gefördert wurde. Plätze. Dächer. Leute. Wege. heißt das Stück, im Untertitel Musiktheater für ein utopisches Bielefeld, und es hat wenig mit herkömmlichem Musiktheater zu tun. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern ähnelt eher einer musiktheatralen Performance, in der der Komponist Gordon Kampe, der bildende Künstler Ivan Bazak und die Dramaturgin Katharina Ortmann Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Projekt zusammengetragen und experimentell weitergeführt haben: Phasenweise wie eine musikalisch angereicherte Dokumentation berichtet der Abend, was Bielefelder Bürgerinnen und Bürgern an Utopischem zu ihrer Stadt eingefallen ist. Was anfangen mit originaler Bielefelder Bausubstanz? Melanie Kreuter und Caio Monteiro mit Architekturmodellen
Die Rolle des Zuschauers ist zumindest teilweise aufgebrochen. Es gibt Sitzplätze auf der Bühne (sehr glücklich sehen die Besucher, die dort sitzen, nicht aus), ganz konventionell im Zuschauerraum und auch noch im Foyer. Das Los entscheidet. Und wer Pech hat, muss eben im Foyer, wo aus Holzstöcken und Bildern neue Gebilde entstehen, mit einer Lifeübertragung des Musiktheater-Bühnengeschehens Vorlieb nehmen. Die Hauptbühne im eigentlichen Saal hat sich raumgreifend erweitert. Projektatmosphäre breitet sich aus. Während jemand auf der hinteren Bühnenwand Bilder mal hierhin, mal dorthin hängt, verknoten sich am linken Bühnenrand, der U-förmig in den Zuschauerraum hineingreift, zwei Tänzerinnen zu lebenden Skulpturen. Bariton Cajo Monteiro hockt umgeben von kleinen Häusermodellen am rechten Bühnenrand, lächelt ins Publikum und spielt mit dem Handy. Der Orchestergraben für das kleine, achtköpfige, mit herkömmlichen Klangfarben ausgestattete Kammerorchester befindet sich in der rechten Bühnenmitte und ist angehoben, sodass man die Musiker sehen kann. Eine Stimme trägt mal verfremdet, mal verständlich Tagebuchaufzeichnungen des Projektes vor. Magdalena Helmig, das Utopische suchend?
Was folgt, ist eine im Wechsel von O-Tönen und künstlerischer, musikalischer Transformation mal humorvolle, mal nachdenklich stimmende Rückschau auf die Begegnung der Künstlerinnen und Künstler mit den Bürgerinnen und Bürgern. Dazu werden Häusermodelle wichtiger Bielefelder Bauten wütend auseinandergepflückt und Holzstäbe vorsichtig, mit Bedacht zu zart wirkenden, kunstvollen Gebilden zusammengefügt, die von einem auf dem Boden liegenden Performer gehalten werden. Schritt für Schritt erfährt man etwas über die Bausteine des Projekts, zum Beispiel über "Utopietanken", die im Rathausinnenhof, am Kesselbrink, am Siegfriedplatz und an der Niedernstraße am TAM aufgebaut wurden und einen utopischen Gegenentwurf zu dem jeweiligen Standort darstellten, über Workshops und Diskussionsrunden. Aufbauarbeit im Foyer: Britta Pudelko
Kampes Kompositionen sorgen dabei für den roten Faden und die atmosphärische Untermalung. Sie ist lebendig, abwechslungsreich und setzt sich mit heutigen, heterogenen akustischen Alltagserfahrungen auseinander. Ebenso wie im O-Ton Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft zu Wort kommen, sprechen und singen auf der Bühne die Sopranistin Melanie Kreuter, Bariton Caio Monteiro und die Schauspielerin Magdalena Helmig. Die Musikstile, die Kampe kunstvoll verfremdet und weiterverarbeitet, sind ebenso vielfältig. Mal sind es synthetische Hip Hop-Klänge, mal fühlt man sich an Kompositionen von Hanns Eisler aus den 1920er Jahren erinnert. Mal singt man "Jetzt müssen mal die Anderen ran" - witzig die ablehnenden Haltungen zu "Utopietanken" aufgreifend - auf die bekannte Bachmelodie aus dem Notenbüchlein für Anna Maria Magdalena. Mal wird ein Satz kunstvoll zwischen Gesangsabschnitten und gesprochenen Silbenwiederholungen auseinandergepflückt. Alles in allem spiegelt das Komglomerat aus gedrängten, sich häufig überlagernden Spielebenen eine auch humorvoll gebrochene Welt- und Wirklichkeitswahrnehmung unserer Zeit, die auch Klischees nicht auslässt. Bielefeld verkörpert eben mit seinen ca. 328000 Einwohnern die "totale Durchschnittsstadt Deutschlands" (Die Süddeutsche vom 29. April 2015). Man fühlt sich wohl hier. Utopien scheint man hier nicht zu gebrauchen. Bis auf die diejenigen, die sich einen großen Fluss mitten durch die Stadt und die Anbindung an die Weser wünschen. Ach ja, die Arminia hat an diesem Abend 0:4 verloren.
Neue Wege für das Musiktheater erschließt das Genre sprengende Projekt nicht, schon weil es sich einer einfachen Kategorisierung entzieht. Mit ein paar Denkanstößen, wenn auch gegen Ende etwas verflachend, gehört es zu den interessanteren Experimenten. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Installation
Dramaturgie und Recherche
Choreographie
Bühne und Kostüme
Lichtdesign
Klangregie
Video
Dramaturgie feXm
Solisten
Sopran
Bariton
Schauspielerin
Performer
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