-

Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum



Die Akte Carmen

Oper von Georges Bizet
In einer Fassung von David Mouchtar-Samorai und Bernhard Glocksin
Ein europäisches Projekt

Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (keine Pause)

in deutscher Sprache mit englischen Übertiteln

Uraufführung an der Neuköllner Oper am 22. Januar 2015


Logo: Neuköllner Oper

Neuköllner Oper
(Homepage)
Carmen, anders

Von Lisa Jüttner / Fotos von Matthias Heyde


Berlins vierte Oper (Klaus Wowereit) liegt mitten in Neukölln, einem sogenannten Brennpunktviertel der Stadt, und natürlich kann man hier nicht von dem typischen Opernmilieu mit roten Samtsesseln, prunkvollen Sälen und Opernpublikum in Abendgarderobe ausgehen. Doch das will die Neuköllner Oper auch gar nicht. Auf der Homepage wirbt sie mit einem jungen Team, neuartiger Auslegung der Opernstoffe, außergewöhnlich vielen Uraufführungen und einem breiten internationalen Netzwerk. Wer den Traditionen gerne treu bleibt, der geht hier vermutlich rückwärts wieder hinaus.

Der 220 Plätze umfassende Saal, mehr Szene- Theater als Opernhaus, ist ausverkauft. Einen Orchestergraben gibt es, selbstverständlich, nicht, die erste Reihe sitzt sozusagen auf der Bühne - direkt neben den Musikern. Wie in einem Amphitheater strecken sich die weiteren Sitzreihen treppenförmig nach hinten in den Raum. Bizets Carmen hat sich die Neuköllner Oper nun vorgenommen und ein umfassendes Projekt daraus gemacht. Europäische Schauspieler, Autoren, Komponisten und Musiker konstruieren ihren Blick auf den Kern der Geschichte. Mehr als mit ihrer Professionalität sollen sie mit ihrer Lebenserfahrung Einfluss nehmen, mit dem, was ihnen täglich begegnet im Bezug auf Ausgrenzung, Fremdenhass, Kategorisierung der Menschen: Bist du "drinnen oder draußen"? Daraus geworden ist ein Puzzle aus Originalstücken der Oper und neu arrangierten Elementen. Diese Vorstellung scheint schlüssig: Carmen als Zigeunerin, die Bewegung zwischen Legalität und Illegalität, Leidenschaft, Exotismus, Liebe - ich habe keine Probleme, diese Phänomene in der Gegenwart zu verorten.

Szenenfoto José (Christian Schleicher) fühlt sich von seiner Gruppe verfolgt und ist geplagt von Ängsten und Wahnvorstellungen.

Was das Projekt letztendlich problematisch macht, ist die Komplexität von Bizets Oper. Carmen funktioniert als emanzipierte Frauenfigur, als leidenschaftlich-fremdartiger Teufel, dem die Männer verfallen, sie ist stark, frei und gnadenlos. José ist ihr Opfer, sie zerstört ihn und er wird in seiner Sucht nach ihrer Liebe zum Mörder. Das gemeinsame Thema ist der Kampf, die Unvereinbarkeit von Freiheit und Abhängigkeit, das Verlangen nach dem anderen und letzten Endes immer wieder die Liebe. Bizet wählte eine Zigeunerin, um genau diese Carmen darstellen zu können, die einen Mann bis zum bitteren Ende quälen kann. All dies taucht auf in der Neuköllner Oper: Christian Schleicher als José spiegelt hervorragend die Zerrissenheit und Verzweiflung, rührend und zugleich beängstigend versteckt er sich immer wieder an Carmens Brust, die Ambivalenz der Figur wird unterstützt durch seine beeindruckende Körpergröße, ein riesenhafter Mann, der wie ein kleiner Junge in schutzbedürftig-kindlichem Verlangen versucht, die Frau zu halten, die er liebt. Auch Valentina Stadler verkörpert Carmen mit jeder Zelle und singt dem Polizisten, der sie bis zum Äußersten diskriminiert, aufrecht ins Gesicht. Das ist ihre Waffe und das einzige, was sie am Leben erhält: ihre Selbsterhaltung, ihr Stolz und ihre Freiheit. Hervorragend gespielt und berührend musiziert. Was aber der israelische Regisseur David Mouchtar-Samorai und sein Team der Oper dazu geben wollen, wirkt nicht zentriert, es bleibt auf der Strecke, aufgrund der internen Beziehungsgeflechte, die Bizets Oper im Kern mit sich bringt.

Szenenfoto

Escamillo lässt sich von seiner Schmugglerbande feiern

Der Zuschauer erlebt hier eine Gesellschaftsgruppe, der man täglich auf der Straße begegnet, deren Strukturen sich aber nicht jedem eröffnen. Heute würde man sagen, es sind Illegale, Sinti und Roma, Menschen am Rande der Gesellschaft. Meistens haben sie noch nicht mal ein Aktenzeichen, sondern sind im Grunde nichtexistent, nicht auf dem Bildschirm. Als Zuschauer der "Akte Carmen" bekommt man beinahe Lust, Teil dieser singenden, tanzenden, auf jede Autorität und jedes Gesetz spuckenden Familie zu werden. Gespannt und neidisch verfolgt man Josés Einzug, er wird herzlich begrüßt, der neue Schwiegersohn. Wenig später verfällt man mit ihm, als er versteht, wie die Realität aussieht. Das harte Pflaster der Illegalität. Das "Drinnen" haben wir damit definitiv kennengelernt, doch wo ist Pendant, wo ist das "Draußen"? Der böse Polizist ist in einem Übereifer von Kritik an der Staatsgewalt so weit überzeichnet, dass seine Figur unglaubwürdig ist. Micaela, die immer wieder niedlich-vorstädtisch auf der Bildfläche erscheint, bildet eine einsame Front und wirkt naiv und schwach gegenüber der weltoffenen Gang um Carmen. Nein, so wie sie möchte ich nicht sein, dann lieber illegal! Wie einseitig, ja fast schon idealisierend die Darstellung ist, sehe ich genau an dieser Stelle.

Was ist es also, was ich mit nach Hause nehme? Vielleicht dass es auch am Rande der Gesellschaft um Halt, Geborgenheit, Liebe, Grundbedürfnisse geht? Dass wir diese Randschichten nicht einfach abstempeln dürfen, weil wir sie damit aus unserer Wahrnehmung streichen? Dass es unser System macht, was die Menschen in solche Situationen bringt? Ich kann es mir denken, sehen tue ich es nur schemenhaft. Das, was Bizets Oper angeblich so hochaktuell macht, fügt sich nicht zusammen mit dem Kern der Geschichte.

Szenenfoto Carmen (Valentina Stadler) in Handschellen bei José (Christian Schleicher), daneben Zuniga (Lars Feistkorn)

Ich bin begeistert von der musikalischen Geschlossenheit der Produktion, die Musik wirkt persönlicher und intensiver, Brüche durch die Zusammensetzung von alten und neuen Elementen gibt es keine. Das Ensemble ist hoch motiviert und besonders die schauspielerische Leistung dringt tief bis in die Geschichte vor. Christian Schleicher wird von den Damen niedergesungen. Valentina Stadler, noch kleine drückende Unsicherheiten in der Tiefe, meistert die ansonsten äußerst anspruchsvolle Partie mit Charme und Ausdruck. Auch Mirjam Miesterfeld als Micaela brilliert mit kristallklarem Klang in der Höhe und setzt sich glockenhell über die exotisch-rabiaten Klänge der Zigeuner hinweg. Die minimale Besetzung des Orchesters ist kaum merkbar, hier und da einige Intonationsschwierigkeiten bei den Streichern, was Hans-Peter Kirchberg am Flügel wieder wett macht. Mit einer ungeheuren Dynamik bildet er das musikalische Grundgerüst und leitet gleichzeitig mit sicherer Hand.


FAZIT

Ein junges dynamisches Ensemble mit überzeugender musikalischer Leistung. Von der vorher groß angekündigten Gesellschaftskritik darf man nicht zu viel erwarten. Für alle, die es unkonventioneller mögen - Carmen 'mal anders.



Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns einen Leserbrief

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Hans-Peter Kirchberg

Inszenierung
David Mouchtar-Samorai

Arangement
Bijan Azadian

Dramaturgie und Textbuch
Bernhard Glocksin

Bühne
Heinz Hauser

Kostüme
Urte Eicker

Video
Vincent Stefan


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

José
Christian Schleicher

Zuniga
Lars Feistkorn

Micaela
Mirjam Miesterfeldt

Escamillo
Felix Bruder

Carmen
Farrah El Dibany/
* Valentina Stadler

Frasquita
Elpiniki Zervou

Mercedés
Anna Warnecke

Tera
Ilka Sehnert

Dancairo
Robert Elibay-Hartog

Remenado
Felix Bruder

Rudko
Lars Feistkorn





Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Neuköllner Oper
(Homepage)




Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum
© 2015 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -