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Musiktheater
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A Harlot's Progress

Oper in sechs Szenen
Libretto von Peter Ackroyd nach der gleichnamigen Bilderfolge von William Hogarth
Musik von Iain Bell


Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (eine Pause)

Uraufführung im Theater an der Wien am 13. Oktober 2013

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Theater an der Wien
(Homepage)

Gutes Mädchen, böse Welt

Von Roberto Becker / Fotos: © Werner Kmetitisch

Ein Vorhang aus Brettern. Jede Menge Theaternebel von der Bühne. Dräuendes Streicherklangraunen aus dem Graben. Hinter dem sich öffnenden Verschlag wabert eine Masse Mensch am Boden. Was naht ihr wieder kriegende Gestalten, denkt man. Und schon erheben sich einzelne. Sinken zurück, stehen wieder auf. Das Volk von London. Zumindest der Teil davon, der spätestens seit Charles Dickens für das literarische und filmische Elend zuständig ist. So wie die Kollegen aus Paris für die Revolution. Das bewährte und vielfach variierte Sujet hat es längst in den Klischee-Status gebracht. Und so staunt man nicht schlecht, wenn einem das personifizierte Elend, natürlich gut genährt und proper auf Heruntergekommen kostümiert, bei einer Opern-Uraufführung im Jahre 2013 gegenübertritt.


Vergrößerung Die Unschuld vom Lande kommt in London an

Das clevere und im Ganzen dem Logo-Zusatz „Das neue Opernhaus“ alle Ehre machende Theater an der Wien hat dem noch jungen englischen Komponisten Iain Bell (33) den Auftrag erteilt, sozusagen das weibliche Gegenstück zu Igor Strawinskys The Rakes Progress zu komponieren. In Sachen Opernuraufführung hatte die Wiener Staatsoper mit Aribert Reimanns Medea tatsächlich mal die Nase meilenweit vorn. Aber das war Anfang 2010 zum Abschluss der (uraufführungsarmen) Ära von Ioan Holender, bevor dessen Nachfolger die Wiener Staatsoper beharrlich aus dem Fokus internationaler Aufmerksamkeit führte und vollends zu einem Dienstleistungsunternehmen machte, das von gelegentlichen Starauftritten, vor allem aber von seiner Vergangenheit lebt.

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Alles ist eine Ware

Das Theater an der Wien hat noch die eindrucksvolle Rake's Progress- Inszenierung von Martin Kusej aus dem Jahre 2008 im Programm, so dass sich der Vergleich sozusagen von selbst aufdrängt. Wie für die Geschichte des Tom Rakewell gibt es auch für Moll Hackabout eine entsprechende Bilderfolge von William Hogarth. Die stammt von 1731/32, ist damit noch drei Jahre älter und hatte dessen Ruhm und Erfolg begründet. Es hat also einen gewissen historischen Witz, eine zweite Bilderbogen-Oper nachzuliefern. Aus dieser Geschichte hat der renommierte, viel schreibende, London liebenden britische Autor Peter Ackroyd ein in schlichter und in der deutschen Übertitelung betont ordinärer Unterschichtensprache verfasstes Libretto gemacht.

Vergrößerung Der Moloch London verschlingt alles (Diana Damrau als schwangere Moll in der Mitte)

Da kommt ein Mädchen vom Lande, aus Yorkshire, nach London und gerät prompt in die Hände der Kupplerin Mother Needham (Marie McLaughlin). In der Inszenierung von Jens Daniel Herzog reist ihr das Chor-Volk von London im Handumdrehen ihre Klamotten vom Leib. Und zwar im metaphorischen und im wörtlichen Sinne. Schon landet sie im Luxus- Bett des wohlhabenden St. John Lovelace. Christopher Gillett schwächelt am Anfang als Liebhaber mit Geld, Einfluss und Potenzproblemen etwas, füllt aber dann doch seine Rolle nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich aus. Solche Probleme hat Nathan Gunn nicht. Er ist der smarte James Dalton. In diesen Gauner mit Zuhälterambitionen verliebt sich Moll. Es kommt, wie es kommen muss: Eine vergessene und nur schlecht versteckte Herrensocke lässt das „Verhältnis“ auf- und Moll aus ihrem vergleichsweise luxuriösen Leben rausfliegen. Der Abstieg beschleunigt sich. Sie wird Straßennutte. Erste Anzeichen von Syphilis überspielt sie noch, doch die Krankheit nimmt ihren Verlauf. Lovelace will sie zurück, spürt sie auf. Doch als er mitbekommt, dass sie obendrein schwanger ist, lässt er die Finger von ihr. Ihre letzte Fluchtmöglichkeit zurück aufs Land schlägt sie aus, weil sie der Illusion einer gemeinsamen Zukunft mit Dalton nachhängt. Dessen vermeintliches Erscheinen wird dann auch Teil jener grandiosen, schier endlosen Wahnsinns- und Sterbeszene, in der Diana Damrau als Moll zur Hochform aufläuft.

Wie überhaupt der ganze Abend von der darstellerischen Intensität und stimmlichen Virtuosität der Damrau lebt. Durch sie wird der Abend zu einer Einfrau-Show der Extraklasse. Iain Bell hat auch schon Lieder für die charismatische Sopranistin geschrieben, kennt ihre Stimme und hat ihr die Moll exakt auf ihre gegenwärtigen Möglichkeiten hin geschrieben. Und die sind enorm. Als dessen Zentrum vermag sie die übrigen Protagonisten des Ensembles (und da, mit dem überzeugendsten Resultat die Moll-Freundin Kitty von Tara Erraught) und den Arnold Schoenberg Chor zu beflügeln. Unter den Solisten vermag auch Nicolas Testé in mehreren kleinen Rollen zu überzeugen.

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Am Ende, wenn Moll im Sarg liegt, verspottet das Volk die Tote nicht nur, sondern einige der Männer kopulieren auch noch mit ihrem Sarg. Hier ist dann die pure Bebilderungs- und Illustrationsregie von Jens Daniel Herzog auf ihrem Tiefpunkt angekommen. Dass am Ende eine kleine, kindliche Moll im gleichen Kostüm wie am Anfang auftaucht, räumt dann auch für den letzten Zuschauer jeden Zweifel aus, dass wir hier eine Moritat über die Schlechtigkeit der Welt gesehen haben. Allerdings fragt man sich schon, ob Iain Bell, sein Librettist und der Regisseur das Referenzstück kennen. Oder Lulu. Oder überhaupt die relevanten Meisterwerke der Moderne zum Elend der Frauen schon mal gehört haben. Da das natürlich der Fall ist, wird diese neue Oper in Sujet, Musik und Umsetzung zu einem erstaunlich deutlichen Statement einer Anti- oder doch zumindest der Nicht-Moderne. Obwohl es nicht in die sonstige Erfolgsgeschichte des Theater an der Wien passt, hier war die Medea im Großen Haus am Ring dann doch eine ganz andere Liga.

Aber es gab ja Diana Damrau. Und auch die Wiener Symphoniker unter dem (für den ursprünglich vorgesehenen Donald Runnicles eingesprungenen) Dirigenten Mikko Franck legen sich vehement ins Zeug für diese Elends-Sound-Musik, die jedenfalls nicht durch Originalität oder Verstörung auffällt.


FAZIT

Diese Uraufführung enttäuscht in der musikalischen Substanz. Auch die szenische Umsetzung der Geschichte änderte daran nichts. Im Gegenteil. Das überzeugende Ensemble wurde allerdings von einer überragenden Diana Damrau in der Titelpartie mitgerissen. Ihre rückhaltlose Gestaltung der für sie geschriebenen Moll ist ein Ereignis.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Mikko Franck

Inszenierung
Jens-Daniel Herzog

Bühne
Mathis Neidhardt

Kostüme
Sibylle Gädeke

Licht
Jürgen Koss

Chor
Erwin Ortner

Choreographie
Ramses Sigl

Dramaturgie
Hans-Peter Frings


Statisterie des Theaters an der Wien

Arnold Schoenberg Chor

Wiener Symphoniker


Solisten

Moll Hackabout
Diana Damrau,

Mother Needham
Marie McLaughlin,

Kity
Tara Erraught,

James Dalton
Nathan Gunn,

St. John Lovelace
Christopher Gillett,

Coachman/ Officer/ Jailer
Nicolas Testé

Emily, Molls Tochter
Ilia Hollweg


Weitere Informationen

Theater an der Wien
(Homepage)

Die letzte Vorstellung der Serie
am 27. Oktober 2013 wird als
livestream über die Homepage
des Theaters an der Wien übertragen




Da capo al Fine

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