Ein historischer, weiblicher Blick auf den Sacre
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg und
Bettina Stöß
2013 ist neben Verdi und Wagner auch das Sacre-Jahr.
Erinnert wird an den Beginn des modernen Tanzes, der
mit der legendären Uraufführung des Sacre du
Printemps von Igor Strawinsky in Paris
verbunden war. Für das Theater Osnabrück ist dieser
100-jährige Geburtstag ein Anlass, mit Mary Wigman
einen historischen und weiblichen
Choreographie-Blick auf das Werk zu werfen, denn
Mary Wigman, eine der wichtigsten Vertreterinnen des
modernen deutschen Ausdruckstanzes bekam 1957, mit
70 Jahren, den Auftrag, die Berliner Erstaufführung
des Sacre in Szene zu setzen.
Unter der künstlerischen Leitung Henrietta Horns
wird der Wigman-Nachlass gesichtet, Archivmaterial
gesammelt, Anträge gestellt und schließlich bewilligt, sodass
mit der umfangreichen Rekonstruktion der Choreographie
begonnen werden kann. Henrietta Horn betont, diese Arbeit sei
ohne Teamwork nicht zu bewältigen. Unmengen von Fotos,
Skizzen, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Partitureinträgen
werden zusammengetragen, geordnet, denn es existieren keine
Filmaufzeichnungen von Proben oder von der Aufführung selbst.
Wigmans Aufzeichnungen zeigen, wie sehr sie mit dem
Werk gerungen hat. Vieles wird verworfen, neu
konzipiert. Auch ist in den zahlreichen Skizzen zur
Choreographie des Werkes zunächst keine
chronologische Reihenfolge erkennbar. Katherine
Sehnert, eine ehemalige Wigman-Schülerin und
Mitglied des Choreographieteams hilft, aber der
Höhepunkt des Sacre du printemps, die Choreographie
des Danse Sacrale bleibt problematisch.
Huldigungsformation
(Foto: Jörg
Landsberg)
Es ist der Schluss wo sich die
Auserwählte zu Tode tanzt, ihr Leben und ihre Kraft
als Auserwählte opfert. Nicht nur die Handlung
findet hier ihren Höhepunkt, sondern mit der
Wildheit der Rhythmen, der instrumentalen Wucht und
Dichte des Klanges auch die Musik. Leider hat Wigman
selbst diesen wichtigen Teil 1957 nicht selbst
choreographiert, sondern die Aufgabe an Dore Hoyer
weitergegeben. Sie kreiert und tanzt die Rolle des
Opfers und wird berühmt für ihre legendäre
Interpretation der Auserwählten.
Ein mühsehliger, komplizierter und konzentrierter
Erinnerungsprozess beginnt. Man versucht, sich von
allen Seiten heranzutasten und immer wieder die
Musik zu hören. Langsam kristallisieren sich zwar
bestimmte Bewegungsmotive wie Stampfen, Kreisen,
Drehen heraus. Aber die Frage, wie Dore Hoyer die
Auserwählte interpretiert und getanzt hat, lässt
sich nicht endgültig klären. Um es so wie sie
umsetzen, zeigen zu können, müsste Henrietta Horn
sie sein, ihr Leben haben, ihre Persönlichkeit,
Gefühle, Bildfantasie und ihr Zeitmaß. Sie
entscheidet sich, allen sechs hervorragenden
Solistinnen die Chance zu geben, ihre Interpretation
zu zeigen.
Am Samstag, dem 9. November 2013 ist es endlich
soweit. Begleitet von einem Symposium, auf dem
überwiegend über andere Sacre-Choreographien
gesprochen wird und einer kleinen Ausstellung über
die Lebens- und Gedankenwelt Mary Wigmans, führen
jeweils 10 Tänzerinnen und Tänzer des Theaters
Osnabrück und Bielefeld sowie 5 Tanzabsolventen der
Folkwang-Universität Essen erstmalig die
rekonstruierte Wigman-Inszenierung des Sacre du
printemps auf. Das Staatsballett München, das die
Rekonstruktion im Juni 2014 zeigt, wird sie in der
originalen Besetzung von 45 Tänzern zeigen.
Osnabrück muss auch bei der Orchesterbesetzung
Abstriche machen. Im Orchestergraben des Theaters
ist für die über 100 Musiker einfach kein Platz.
Eingeleitet wird der Abend von Fiat Lux,
einer Choreographie Mauro de Candias zu zwei kurzen
Werken für Streicher von Arvo Pärt und Rauschen,
einer Choreographie Gregor Zölligs in Zusammenarbeit
mit den Tänzern zu Eight Lines von Steve
Reich. Beide Choreographien nehmen zwar Bezug auf
den Sacre, unterscheiden sich jedoch in
Musik und Tanzsprache wesentlich von der sich
anschließenden Darbietung.
Mary Wigmans Choreographie wirkt weniger wie ein Tanz,
sondern mehr wie die Inszenierung einer kultisch-rituellen
Handlung.
Der Opfertanz (Foto: Bettina Stöß)
Die Introduktion hat die Funktion einer Ouvertüre
und wird bei geschlossenem Vorhang gespielt. Mit Weihe
des Festplatzes, Entführung, Feierlicher Reigen,
Männertanz, Bahn des Weisen, Kuss für die Erde
und Tanz für die Erde schließt sich der 1.
Teil L’ Adoration de la Terre (die Anbetung
der Erde) an. Er trägt bei Wigman den Titel Das
Fest. Nach einer weiteren Introduktion folgt
der 2. Teil, den auch Wigman als das Opfer
bezeichnet. Er besteht aus den Teilen Frühlingsabend,
Erwählung, Anrufung der Ahnen, Bestätigung und
Verherrlichung der Erwählten durch die Ältesten
und Weisen und Opfertanz.
Die Frauen sind einheitlich in gelbe, schlichte,
wadenlange Kleider gewandet, das der Auserwählten
ist rot. Die Männer tragen lässig aufgekrempelte,
braune Hosen und beige T-Shirts. Die geflochtene
Zopfhaartracht changiert zwischen Afrolook und
Sandro Botticelli-Figur. Hinzu kommen weitere
männliche und weibliche Figuren, deren Kopf und
Körper einheitlich in matt blaue, lange Gewänder
gehüllt sind. Wigman nennt sie „Mütterliche
Gestalt“, „der Weise“, „zwei Priesterinnen“ und „die
Gruppe der Ältesten“. Alle sind barfuss. Fessel und
Dornenkrone Stöcke für den Männertanz kommen als
weitere Requisiten hinzu.
Die Inszenierung hält sich im Großen und Ganzen an
die Bilder, wie sie der Maler und Strawinsky-Freund
Nikolas Roerich entwirft, stellt sie jedoch in einen
zeitlosen, naturphilosophischen Rahmen.
Die Bahn des Weisen
(Foto: Jörg Landsberg)
„Jedes Jahr, wenn die Erde aus ihrem Winterschlaf
erwacht und ihren Schoß aufs Neue der Sonne
darbietet, wenn das große Jubilate der
Lebenserneuerung in allen Geschöpfen der Erde
aufklingt, dann rüstet sich der Stamm zur Feier
seines höchsten Jahresfestes, zur Einsegnung des
Frühlings. Der von alters her für dieses Fest
bestimmte Tanzplatz wird auf Neue geweiht, und unter
der Führung der Ältesten, der Mütter und Weisen
bringen die jungen Menschen der wiedererblühenden
Erde ihre tänzerische Huldigung dar,“ heißt es in
Wigmans Anmerkungen zur Sacre-Inszenierung.
Weihe und Huldigung. Die Sprache offenbart, was sich
an starr wirkenden Haltungen und Gesten in den
Tanzbewegungen wiederfindet. Hier wird die
soziokulturelle Lebenswirklichkeit der 1950er Jahre
lautlos vor Augen geführt und in goldenes Licht
getaucht. Die Frauen schreiten feierlich, umkreisen
kniend die zur Priesterin stilisierte "Mütterliche
Gestalt". Die Männer betreten kurze Zeit später
raumgreifend und erdenschwer stampfend die Bühne und
ziehen einen weiteren Kreis um die Gruppe. Die
Auserwählte nimmt ihr Schicksal widerspruchslos an
und trägt die Dornenkrone.
In klar gegliedertem Oben und Unten entfalten sich
bruchlos aneinandergereihte, chorische Formationen
im Raum. Sie sind warm ausgeleuchtet und
konterkarieren die kurzen, dissonanten, Panik
verbreitenden Einwürfe der Holzbläser. Nach 100
Jahren hat Strawinskys Musik an Modernität nichts
eingebüßt.
Und die Inszenierung der 70-jährigen Mary Wigman?
Sie erlebte 1957 an der Städtischen Oper Berlin den
größten Triumph ihrer Karriere - auch bezogen auf
ihr Selbstverständnis als Künstlerin.
„Wir bringen nicht allein Opfer, wir sind Opfer“,
formuliert sie anlässlich ihres Solotanzzyklus Opfer
im Jahre 1931. Und weiter: „Der Künstler gehört
nicht sich, er gehört den Mächten, gehört dem
Unfassbaren, das ihn treibt, beherrscht, aufruft,
niederwirft, emporhebt und mordet.“
Mary Wigman ist ein Kind ihrer Zeit. 1886 als
Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Hannover
geboren, entdeckt sie 1910 ihre Liebe zum Tanz,
besucht die Rhythmische Bildungsanstalt von Emile
Jacques-Dalcroze, die sie 1913 mit dem Lehrdiplom
für Rhythmische Gymnastik beendet. Die Entscheidung,
ihr Leben dem Tanz zu widmen, fällt sie in der
Schule für Kunst von Rudolf von Laban, ein Tänzer,
Maler, Tanzphilosoph und Bewegungsforscher, der in
der linksorientierten Lebensreformerkolonie in Monte
Verità in Ascona lehrt. Wigman übernimmt in der
sechsjährigen gemeinsamen Zusammenarbeit - im
Rollenverständnis der damaligen Zeit - häufig
männliche Aufgaben.
Fesselung und Krönung der Auserwählten
(Foto: Jörg Landsberg)
Im Herbst 1920 eröffnet sie in Dresden eine eigene
Schule nachdem sie die Pläne zur Übernahme der
Ballettleitung und Einrichtung einer
Opernballettschule in Dresden zerschlagen haben.
Nicht nur in Dresden, Berlin, Hamburg und Paris
werden ihre Solotänze, Tanzzyklen, Choreographien
und Inszenierungen gefeiert. In den USA wird sie auf
den drei triumphalen Tourneen von 1930 bis 1933 zum
Inbegriff des deutschen Ausdruckstanzes.
Mary Wigman selbst nennt ihren Ausdruckstanz
„Freien“ oder „Absoluten Tanz". Ihre Themen
sind abstrakt. Die Bewegung entwickelt sich aus dem
augenblicklichen, inneren Erleben heraus wie ein
Dialog mit sich selbst. Oft tanzt sie ohne Musik und
wenn sie mit Komponisten zusammen arbeitet,
entwickeln diese Klangkompositionen zu ihren Tänzen.
Noch in den 1930er Jahren beginnt sie Gruppenwerke
zu choreographieren – darunter auch die
Choreographie der Totenklage mit 80
Tänzerinnen für das Festspiel Olympische Jugend
anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in
Berlin oder die Carmina Burana in Leipzig im
Jahre 1943.
1949 eröffnet sie in West-Berlin erneut eine eigene
Schule. 1963 erscheint ihr Buch Die Sprache des
Tanzes. Unermüdlich kämpft sie für ihr
Lebenswerk, unterrichtet, schreibt Artikel und
Buchbeiträge und macht Vortragsreisen. Sie stirbt
1973, im Alter von 86 Jahren.
FAZIT
Ein faszinierendes, stilistisch
sehr unterschiedliches Balletterlebnis aus
Modern Dance des 21. Jahrhundert und deutschem
Ausdruckstanz der 1950er Jahre