Möglicherweise existiert Gott
Von
Ursula
Decker-Bönniger / Fotos von
Jörg Landsberg
Das Theater Osnabrück zeigt eine Inszenierung der Johannespassion
von Johann Sebastian Bach. Die Erstaufführung fand
1724 im Karfreitagsgottesdienst statt. Sie war eine
der ersten großen Amtshandlungen Bachs als
Thomaskantor.
Für ein Stadttheater ist die Inszenierung einer
Passion ein ungewöhnliches Projekt. Osnabrücker
Bürger verschiedenster Altersstufen sind beteiligt.
Sie singen nicht nur die Choräle der christlichen
Gemeinde auswendig. Sie stellen auch dar, übernehmen
alle übrigen Chorparts - selbst die musikalisch
anspruchsvollen, ausgesprochen dramatischen im
Prozess vor Pilatus. An dieser Stelle wird auch Bach
geradezu operndramatisch, zeigt einen aufgebrachten,
wütenden Mop, der im Wechsel mit den Berichten des
Evangelisten und entgegen den Einwendungen des
Pilatus den Tod des Gottessohns fordert.
Auch für den Regisseur stellt die Inszenierung eine
Herausforderung dar, zumal Bach in der
Zusammenstellung der Arien und Chöre weniger Wert
darauf legt, eine packende Leidensgeschichte zu
erzählen, sondern die christlichen Bekenntnisse in
den Mittelpunkt rückt.
Jesus als von der Folter
gezeichneter Schreiner in seiner Werkstatt
Für das Herzstück der Johannespassion,
die Gerichtsverhandlung, hat Regisseur, Bühnen- und
Kostümbildner Andrej Woron eine steil ansteigende
Treppe gewählt: Langsam erwacht die unter einer
weißen Decke brodelnde Masse. Bretter, die sie als
gute Christen wie Symbole des Kreuzes und der
Lastenschwere tragen, werden zur Bedrohung, vor der
ein unschuldig Angeklagter geschützt werden muss. Zu
diesen Chorpassagen gelingt Co-Regisseur und
Choreograph Lars Scheibner eine fantasievolle,
symbolträchtige, mal zu Gesten erstarrte, mal
bewegte Massenchoreographie. Bei den Bass-, Tenor-,
Alt-, und Sopranarien jedoch verlässt Woron die
Symbolebene und greift mitunter in eine unpassende
Komödienkiste. So folgt Petrus seinem Herrn, indem
er in einem geschlossenen Zelt auf die Bühne rollt.
Und in der folgenden Sopranarie Ich folge dir
gleichfalls mit freudigen Schritten wird der
weibliche Fan nicht müde, alles in Fotos
festzuhalten.
Mit moralischem Zeigefinger kommentiert Woron die
Reue, die Petrus laut Evangelistenbericht nach
seiner Verleugnung zeigt. Statt schuldbewusst wird
uns Petrus als ein mit Kopfhörern ausgestatteter,
vom Ort des Geschehens Abgewandter vor Augen
geführt.
In einer weiteren Szene spielt Woron auf die
Millionenausgaben der Kirche in Limburg an. In der
Arie Ach mein Sinn, wo willst du endlich hin, wo
soll ich mich erquicken wirft Tenor
Daniel Wagner mit Geld um sich. Gierig vom Volk
aufgegriffen wird es anschließend von Petrus und dem
Evangelisten als „freiwillige“ Kollektengabe
zurückgefordert.
Hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit
präsentiert uns Woron die schwangere Maria Magdalena
in den Altpartien. Während sie als Gefährtin Jesu in
der ersten Arie Von den Stricken meiner Sünden
die Hände – die rhetorische Figur der
Bachkomposition aufgreifend – lust- oder leidvoll
über ihren Bauch kreisen lässt, streckt sie - die
letzten Worte „es ist vollbracht“ des Sterbenden
aufgreifend - dem Publikum ein Neugeborenes
entgegen, das sich danach mechanisch hin- und
herwackelnd auf der Treppenstufe vorwärts bewegt.
In einem abschließenden Bild präsentiert uns Woron den
mathematischen Gottesbeweis auf einem Overheadprojektor.
Möglicherweise existiert Gott ja, aber seine Verwirklichung
bleibt verschüttet. Stattdessen hasten die Menschen – die
Köpfe gesenkt und mit vollen Real-Plastiktüten bepackt – von
rechts nach links und links nach rechts über die Bühne.
Petrus hilft seinem Herrn
die Last zu tragen.
Ob uns diese anklagende Moralkeule
des Regisseurs hilft, den Evangelientext zeitgemäß
zu interpretieren, bleibt fraglich. An vielen
Stellen wirkt die Gegenüberstellung von
Evangelientext und Passionslyrik zu allgemein und
klischeehaft. Die Bilder sind revueartig
aneinandergereiht, sodass die Regieinterpretation
oft an der Oberfläche bleibt und in ihrer Wirkung
verpufft.
Musikalisch überzeugen die Osnabrücker Sinfoniker
unter der Leitung von Andreas Hotz mit einer
transparenten, differenzierten und ausdrucksstarken
Interpretation. Rhythmische Passagen werden scharf
und schlank artikuliert, Melodiebögen wunderbar
dynamisch differenziert ausgestaltet. Ebenso
professionell die engagierte Leistung des
Projektchores, der neben textverständlichem,
homogenem und differenziert gestaltetem Gesang auch
schauspielerisch bezaubert. Marie-Christine Hase ist
ein jugendlicher Fan mit schlankem, leicht
vibrierendem Stimmklang. Almerija Delic stellt eine
vollmundig klingende, opernhaft schillernde Maria
Magdalena dar. Daniel Wagner ist ein hell
timbrierter Judas. Shady Torbey überzeugt mit
brustigem, kraftvollen Bassbariton und klangvollen,
großen Melismenbögen. Mark Hamman hatte – zumindest
an diesem Mittwochabend – mit dem musikalisch extrem
anspruchsvollen Part des Evangelisten –
Modulationen, Intervallsprünge, Höhe - an einigen
Stellen zu kämpfen.
FAZIT
Ein mutiges, Pausendiskussionen anregendes,
für alle Beteiligten herausforderndes Projekt des Theaters,
das eine bessere Regie verdient hätte