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Musiktheater
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Die Frau ohne Schatten

Oper in drei Akten
Dichtung von Hugo von Hofmannsthal
Musik von Richard Strauss

in deutscher Sprache (mit Übertiteln)

Aufführungsdauer: ca. 4 Stunden 10 Minuten  (zwei Pausen)

In Kooperation mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Premiere im Opernhaus des Staatstheaters Kassel am 24. Mai 2014



Staatstheater Kassel
(Homepage)

Mutterschaft und Krieg

Von Bernd Stopka / Fotos von N. Klinger

Vor 100 Jahren brach der erste Weltkrieg aus. Während die Welt in der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in ihren Grundfesten erschüttert wurde, philosophieren Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in Die Frau ohne Schatten märchenhaft über Beziehungskrisen, Standesunterschiede und  Mutterschaft. Ähnlich aus der Welt gehoben hat Strauss später während des Zweiten Weltkriegs mit Clemens Krauss in Capriccio über Musik und Theater im Allgemeinen und die Vorrangstellung von Wort oder Musik im Besonderen sinniert. Ob es  sinnvoll ist oder weiterbringt, die Weltgeschichte zur Entstehungszeit in eine szenische Umsetzung einzubeziehen, ist bei beiden Werken fraglich. Dass dadurch – über einen geschichtlichen Hinweis hinaus – eine Vertiefung oder Erhellung des Inhalts bewirkt wird, zeigt sich auch in der Neuproduktion der Frau ohne Schatten in  Kassel nicht, aber Regisseur Michael Schulz bürstet die Geschichte auch nicht gegen den Strich, sondern hat sie mit Bühnenbildner Dirk Becker und Kostümbildnerin Renée Listerdal in nachvollziehbare, den jeweiligen Situationen entsprechende Bilder übertragen.

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Marc-Ollivier Oetterli (Geisterbote), Opernchor, Extrachor und Kinderchor

Zu Beginn bleiben die optischen Eindrücke zeitlos abstrakt. Die Amme schreitet in beherrschter Ungeduld das Proszenium ab, bevor der geheimbündlerisch wirkende Geisterbote erscheint. Ein zeltartig wirkendes Gemach beherbergt Kaiserin und Kaiser. Mit  Schinkels Sternenhimmel aus seinen Bühnenbildern zu Mozarts Zauberflöte entsteht ein ästhetischer Verweis auf die von Hofmannsthal selbst bezeichnete Parallele (zwei Paare unterschiedlichen Standes, Prüfungen, Kinder…). Ein dem Publikum Assoziationen anbietender, aber nicht aufdringlicher, obendrein wunderschöner und damit geradezu genialer Einfall. Der Kaiser als Feldherr mit drei dicken, alten Generälen als Begleiter und der Falke als in rotem Leder gekleideter, abgeschossener Jagdflieger führen uns in konkretere Zeiten und wenn die Amme die Kaiserin hinab zu den ihr so widerlichen Menschen führt, geraten sie in die  Mobilmachung. Für sie bedeutet „zu den Menschen“  ähnliches wie „in den Krieg“. Pickelhauben, Reichskriegflaggen und in Sütterlin geschriebene Schilder „Es lebe der Krieg“, „Jeder Stoß ein Franzos“ und „Auf zum Preisschießen“ beschreiben nun ganz konkret den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Über dem Volk, auf einer Art Galerie steht der Geisterbote mit einem Jungen und einem Mädchen, Flugblätter fallen, man denkt an die Geschwister Scholl (ein Hinweis auf dem Zweiten Weltkrieg?). Doch auf den Allgemeinen Jubel folgt Ernüchterung und Erschütterung, wenn Baraks Brüder als Verwundete Soldaten heimkehren.

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Krzysztof Borysiewicz (Der Einarmige), Ulrike Schneider (Amme), Espen Fegran (Barak), Stephanie Friede (Färberin), Bassem Alkhouri (Der Bucklige), Marian Pop (Der Einäugige)

Barak betreibt in einer gläsernen Fabrikhalle eine Wäscherei, Reinigung, Ausbesserungswerkstatt für Soldatenuniformen oder ähnliches und begrüßt seine heimgekehrten Brüder sehr herzlich – im Gegensatz zur gesungenen Arbeitsaufforderung. Die Färberin arbeitet emsig mit, trägt dazu eine viel zu schicke, aber ihren höheren Ambitionen entsprechende Bluse. Sehr eindrucksvoll und bewegend zeigt die Personenregie ihre Zerrissenheit. Sie möchte Barak  so gern lieben, aber sie kann nicht. Eine flüchtige Berührung ist alles, aber nicht genug und sie leidet darunter ebenso stark wie er – es drückt sich nur anders aus. Amme und Kaiserin tragen Bediensteten-Schürzen. Die Erscheinung des Jünglings, ein Gigolo im weißen Anzug, wird von weißen Schleiern und einer elfenhaften Abordnung von Damen aus den goldenen Zwanzigern eskortiert. Im Stile eines Grand Hotels wird der Kaiserin das Abendessen (die Fische) zu den Stimmen der Ungeborenen serviert. Das Tauschangebot der Amme für den Schatten bezieht sich nicht nur auf einen schönen jungen Mann, sondern auf ein gänzlich anderes Leben – in diesem Falle auch in einer friedlichen, luxuriösen Nachkriegszeit. Doch der Jüngling verblutet in den Armen der Kaiserin. Barak kehrt heim, ihm schmeckt das Essen nicht, aber er wundert sich nicht einmal über den vornehm gedeckten Tisch. Zur zweiten Strophe der Wächter betritt ein Zug von vom Giftgas erblindeter Verwundeter Baraks Haus. Sie werden aufopferungsvoll aufgenommen und versorgt, von Barak, den Brüdern und auch von der Färberin. Ganz in der Tradition der Familie  „Unser waren dreizehn Kinder, aber für jeden Armen, der kam, standen die Schüsseln und dampften von Fett!“

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Ray M. Wade Jr. (Kaiser) und Lin Lin Fan (Falke)

Aus Baraks Haus ist ein Lazarett geworden. An den Händen des nun puppenhaft erscheinenden Jünglings klebt Blut. Das üppige Schlemmerfest findet hier sein bedrückend adäquates Bild im festlichsten Moment, der im Krieg möglich erscheint: Mit der Familie, Kindern der Nachbarschaft, Verwundeten und Krankenschwester feiert man Kriegsweihnacht. Der kahle Weihnachtsbaum wird notdürftig mit den Orden der Verwundeten geschmückt. Kinder spielen Krieg und ein dabei entstehendes Bild erinnert stark an das Foto des kleinen Jungen mit erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto. Das könnte eine weitere (s. o.) Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg sein. Nun erfolgt kein Szenenwechsel zum Falknerhaus. Das Cellosolo des Zwischenspiels wird als Weihnachtsständchen für die Verwundeten vom Jüngling-Gigolo gespielt dargestellt. Der Kaiser betrachtet die Szene zunächst nur von der Galerie aus, betritt dann das Lazarett zusammen mit dem Falken, dem er, nachdem er seine Gattin nicht töten kann, sein Messer in die Brust stößt. Aus dem Orchester wird ihm musikalisch unmittelbar die Strafe dafür verheißen „Er wird zu Stein“. Mit steinernem Herzen exekutiert er vier Zivilisten blutspritzend hinter der Glaswand während die Kaiserin entsetzt zuschaut. Spätestens hier wird ihr die Erlösungsbedürftigkeit des Kaisers schmerzhaft in ihrer Dringlichkeit bewusst.

„Es dunkelt“ singt Barak, aber es dunkelt gar nicht. Die Androhung, ihren Schatten zu verkaufen und Barak nie Kinder zu gebären, bekräftigt die Färberin mit Schlägen auf Baraks Rücken, was den grausamen Worten, die Barak tiefer verletzten, als jede körperliche Gewalt es könnte, ein Stück ihres Schreckens nimmt. Mit dem Bajonett des Gewehres, das ihm die Amme reicht, will Barak seine Frau töten. Doch, und das wird ausgesprochen eindrucksvoll dargestellt, nun sieht die Färberin in ihrem Mann den echten Kerl, den sie sich so sehr wünscht, nicht den immer liebevoll verständnisvollen, immer verzeihenden und sie dabei nie wirklich ernst nehmenden, sanftmütigen Trottel. Das nun folgende Katastrophenszenario wird mit dem vielleicht grausamsten Element der massenvernichtenden Menschenverachtung des Ersten Weltkrieges dargestellt: Soldaten des Kaisers überfallen das Haus, töten die Brüder und töten alles verbleibende Leben durch einen Giftgasangriff. Hier handelt es sich also um keine vernichtende Naturkatastrophe, keine Rache der Natur, sondern die Rache des Kaisers an der Welt des Färbers, die ihm vermeintlich die edle Gattin beschmutzt hat.

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Vida Mikneviciute (Kaiserin), Chor, Kinderchor

Barak und seine Frau finden sich in einem Saal mit Stühlen und Tischen wieder, zu dem ihre Behausung nun geworden ist. Rechts und links vorn an der Rampe, je an einem Tisch sitzend und sehnsuchtsvoll singend. Dass die Färberin unter den Tisch kriecht – wogegen die Kaiserin sich später auf einem Tisch stehend von der Amme lossagt – wirkt ein bisschen überdeutlich. Auch, dass der Geisterbote einen Brief aufisst, den Barak seiner Frau schreibt. An einem repräsentativen Schreibtisch im Hintergrund sitzt der Kaiser mit Dokumenten (Todesurteile, Kriegmeldungen…?). „Sie kommen“ meint hier Frauen, Kinder und Soldaten, die den Kaiser mit ihren Uniformmänteln geradezu begraben (versteinern?). Sie tragen Bilder von Toten oder Vermissten. Der Amme wird das Ganze zu bunt, sie will Feierabend machen und stellt die Stühle hoch – die der Geisterbote wieder herunterstellt und dabei auch den Brief der Färberin an Barak in den Mund stopft. Ein theatralischer Effekt ohne sonderlichen Nährwert und nur ein schwacher Ersatz für die eigentlich letzte Bosheit der alle Fäden ziehenden Amme gegen die Färbersleute, die deren Zusammenkommen zu verhindern sucht, in dem sie ihnen verschiedene Richtungen weist. Ausgewiesen aus der Geisterwelt wird sie von einer Menschentraube geradezu eingesaugt. Auffordernd, bittend, ja geradezu anklagend wenden sich Frauen und Kinder an die Kaiserin wie an eine Heilsbotin, die sie um Erlösung anflehen. Das Wasser des Lebens wird ihr aus einer hohen schlanken Amphore eingeschenkt, aber sie trinkt nicht, wird nicht auf Kosten anderer Menschen zum Menschen, sondern durch ihr Mitgefühl, ihre Rücksichtnahme, dadurch, dass sie sich selbst zurücknimmt und den Färbersleuten ihr Glück lässt. Mit diesen Eigenschaften wird sie menschlich und der Mutterschaft fähig, nicht durch einen Handel um den Schatten einer anderen Frau.

Zum glücklichen Finale finden sich beide Paare gleichberechtigt an einer langen Tafel mit leeren Bierhumpen wieder. Wie eine Anklage umranden Fotos der Vermissten die Szene. Zum Jubelgesang erscheinen ernste, ja traurig blickende Kinder und scharen sich um die beiden Paare, die dann ob des Umfangs des Kindersegens doch mehr erschreckt als beglückt sind. (Das erinnert mich an August Everdings Zauberflöten-Inszenierungen in denen sich zum Papageno-Papagena-Duett viele kleine Papagenos und  Papagenas hinter dem Paar sammeln und der künftige Vater vor Schreck umfällt, als er sich umdreht. Auch das könnte ein Hinweis auf die Parallelen beider Werke sein). Ein düsterer Mann mit einem Militaristen als Begleiter beobachtet die Szene. Keikobad?

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Espen Fegran (Barak), Stephanie Friede (Färberin), Vida Mikneviciute (Kaiserin), Ray M. Wade Jr. (Kaiser)

GMD Patrick Ringborg präsentiert eine sehr individuelle Sichtweise der Partitur. Mit gemäßigten Tempi und stark gedrosseltem Klangvolumen klingt das Orchester über weite Strecken geradezu kammermusikalisch transparent, wie mit dem Seziermesser dirigiert, manchmal gar wie buchstabiert. Aber eben auch oft spröde und zerfallend, ohne die großen verbindenden Bögen, ohne das Bezwingende und Mitreißende der Musik, das den lebhaften Kontrast zu den dezenter orchestrierten Passagen bildet. Zu üppigen und schwelgerischen Klängen findet er erst im dritten Akt. Das mag Programm und beabsichtige Steigerung sein, vielleicht ist mit dieser Zurückhaltung auch eine Schonung der Sänger beabsichtigt. Der Partitur bleibt er damit aber doch einiges schuldig. Mit den Strichen kann man da besser leben. Das Orchester folgt seinem Dirigenten mit hoher Konzentration, ebenso Chor und Kinderchor, der zur besseren Klangfülle gern von einigen Frauenstimmen unterstützt werden dürfte.  Ein musikalisches Koordinationsproblem während des Fischebratens mag der Premiereinspannung zuzuschreiben sein.

Als bösartige, ihren wilden Gefühlen freien Lauf lassende und sich wenig verstellende Gouvernante beherrscht Ulrike Schneider mit großer Bühnenpräsenz und Schauspielkunst in der Rolle der Amme das Geschehen. Diese Darstellung der Figur kommt ihr auch stimmlich entgegen, lässt aber das dämonisch Verführerische und hinterlistig Schmeichelhafte eher vermissen. Espen Fegran lässt als Barak seinen großen Bariton warm und voll und an den entsprechenden Stellen mit balsamischer Zärtlichkeit strömen. Schade, dass seine Reserven für einen stimmkräftigen Schlussjubelgesang in der Premiere nicht mehr ganz reichten. Stephanie Friede gibt sich den ungezügelten Emotionen der Färberin auch stimmlich ausgiebig hin und schont weder sich noch ihre Stimme in dieser anspruchsvollen Partie. Sowohl Vida Mikneviciute als Kaiserin als auch Ray M. Wade Jr. als Kaiser starten in ihren ersten Szenen etwas zu leidenschaftlich ungestüm und stimmlich nicht ganz kontrolliert, aber ebenso gleichermaßen steigern sie sich im weiteren Verlauf der Aufführung zu großartigen Leistungen. Selten hört man die Kaiserin so innig, so leidenschaftlich mit so voll blühendem, großem aber doch nicht erschlagendem Sopran gesungen. Das ausgeprägte Vibrato mag dabei  Geschmackssache sein. Auch Ray M. Wade Jr. findet nach seinem ersten Auftritt zu hoher Stimmkultur, besticht mit tenoralem Glanz, Strahlkraft, aber auch zarten, doch nie schwachen Tönen. Wunderschön zart und engelsgleich singt LinLin Fan den Falken, Anna Nesyba lässt  bezaubernd als Hüter der Schwelle aufhorchen.

FAZIT

Die Produktion verbindet den 150. Geburtstag von Richard Strauss mit dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges und der Tatsache, dass Die Frau ohne Schatten in diesen Kriegsjahren entstanden ist. Die szenische Verlegung in die Zeit der Entstehung ist nicht neu, nicht bezwingend überzeugend, aber auch nicht störend. Auch, weil die Personenregie den Kern der Geschichte, die Beziehungen und seelischen Konflikte intensiv herausarbeitet. Musikalisch ist Ungewöhnliches und Eigenwilliges zu hören, aber spannend ist es allemal.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Patrik Ringborg

Inszenierung
Michael Schulz

Bühne
Dirk Becker

Kostüme
Renée Listerdal

Licht
Albert Geisel

Chor
Marco Zeiser Celesti

Kinderchor
Maria Radzikhovskiy

Dramaturgie
Jürgen Otten

 

Staatsorchester Kassel

Opernchor und
Damen des Extrachores

Kinderchor Cantamus

Statisterie des
Staatstheaters Kassel

Solisten

Der Kaiser
Ray M. Wade Jr.

Die Kaiserin
Vida Mikneviciute (Premiere)
Elena Nebera

Die Amme
Ulrike Schneider

Der Geisterbote
Marc-Olivier Oetterli

Hüter der Schwelle des Tempels
Anna Nesyba

Stimme eines Jünglings
Johannes An

Erscheinung eines Jünglings
Ingo Schiller

Stimme des Falken
Lin Lin Fan

Eine Stimme von oben
Maren Engelhardt

Barak, der Färber
Espen Fegran

Färberin, seine Frau
Stefanie Friede

Der Einäugige
Marian Pop

Der Einarmige
Krzysztof Borysiewicz

Der Bucklige
Bassem Alkhouri

Drei Dienerinnen
Anna Nesbya
Maren Engelhardt
Elisabeth Rogers

Stimmen der Ungeborenen
SchKinderchor Cantamus

Stimmen der Wächter
Hansung Yoo
Tomasz Wija
Hee Saup Yoon

Kinderstimmen
Kinderchor Cantamus


Weitere
Informationen

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Staatstheater Kassel
(Homepage)



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