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Tatjanas TraumweltVon Thomas Molke / Fotos von Holger BadekowNachdem bereits das Tanztheater Wuppertal in dieser Spielzeit sein 40-jähriges Jubiläum mit zahlreichen Wiederaufnahmen gefeiert hat, kann auch das Hamburgische Staatsballett zum Ende dieser Spielzeit auf eine 40-jährige Tradition zurückblicken. Zum 40. Mal lädt nämlich John Neumeier zu den Hamburger Ballett-Tagen ein, die er bereits in seiner zweiten Spielzeit als Ballettdirektor in Hamburg zum Abschluss der Saison ins Leben gerufen hat und die alljährlich in einer Nijinsky-Gala münden, die jeweils einem tanzspezifischen oder balletthistorischen Thema gewidmet ist. Den Auftakt macht in diesem Jahr eine Uraufführung der besonderen Art. Die Musik für diesen Ballettabend ist nämlich als Auftragswerk von der russisch-amerikanischen Komponistin Lera Auerbach komponiert worden, deren 24 Präludien für Violine und Klavier und 24 Präludien für Cello und Klavier Neumeier als Grundlage für seinen 2003 kreierten Ballettabend Préludes CV dienten und mit der er bereits 2005 anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten des 200. Geburtstags von Hans Christian Andersen den Ballettabend Die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen schuf. Auch für den neuen Ballettabend hat Neumeier ein Libretto entwickelt, das von Auerbach in Musik umgesetzt worden ist. Onegin (Edvin Revazov, Mitte) lernt auf dem Land Lensky (Alexandr Trusch, links) und Tatjana (Hélène Bouchet) kennen. Die Handlung basiert auf Alexander Puschkins berühmtem Versroman Eugen Onegin, der sich durch Tschaikowskys Vertonung und das legendäre Handlungsballett Onegin in der Choreographie von John Cranko aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im Musiktheater großer Bekanntheit und Beliebtheit erfreut. Ganz bewusst versucht Neumeier, sich mit seiner Choreographie sowohl von der Oper als auch von Crankos Handlungsballett abzusetzen, indem er nicht nur mit Lera Auerbachs Komposition eine ganz neue Musiksprache zugrundelegt, die mit Tschaikowskys Version keinerlei Berührungspunkte aufweist, sondern auch im Titel die weibliche Hauptfigur in den Mittelpunkt rückt, ohne dabei allerdings Onegin aus dem Fokus der Handlung zu verlieren. So zeigt er ihn zum Beispiel als rastlosen Charakter in der Stadt, der in zahlreichen Vergnügungen seinen Lebenssinn sucht, bevor er durch den Tod des Onkels auf dessen Landgut zieht, wo er zunächst Lensky und über ihn Tatjana und ihre Schwester Olga kennenlernt. Dennoch liegt das Hauptaugenmerk der Choreographie auf Tatjana und ihrer Traumwelt, mit der sie auf dem Land durch die zahlreichen Romanfiguren, mit denen sie sich identifiziert, ihrem tristen Dasein zu entfliehen versucht. Erst wenn sie Jahre später in St. Petersburg den Prinzen N. geheiratet hat, ist sie erwachsen geworden und stellt sich der Realität. Nun ist es Onegin, der sie mit Briefen überhäuft, von Tatjana allerdings abgewiesen wird, obwohl sie ihn immer noch liebt und ihm diese Liebe sogar gesteht. So gehört das Ende erneut Onegin, der weiterhin orientierungslos durch sein Leben eilt. Onegin (Edvin Revazov, Mitte rechts mit Tatjana (Hélène Bouchet)) hat Lensky (Alexandr Trusch, in der Mitte auf dem Boden liegend) im Duell getötet. Ein Offizier (Thomas Stuhrmann, Mitte links) tröstet Olga (Leslie Heylmann) (auf der rechten Seite: der doppelte Zaretsky (Sasha Riva und Marc Jubete). Neumeier setzt in einem zweckmäßigen Bühnenbild, das fließende Übergänge zwischen den einzelnen Szenen ermöglicht, die Geschichte mit einer Bewegungssprache, die zwischen modernem Ausdruckstanz und Spitzentanz changiert, beeindruckend um. Dem ersten Akt stellt er einen Prolog voran, in dem das Duell zwischen Lensky und Onegin bereits vorweggenommen wird. Vor einem Bühnenprospekt, das eine graue Winterlandschaft mit kahlen hohen Bäumen zeigt, sieht man Zaretsky in doppelter Gestalt, wobei Sasha Riva und Marc Jubete in ihren schwarzen Gewändern und den langsamen Bewegungen nahezu zu einer Person mit vier Armen verschmelzen. Mit einer regelrecht unheimlichen Körpersprache zwingen sie Onegin die Waffe zum Duell zu ergreifen und abzudrücken. Lensky, der in Neumeiers Choreographie ein Komponist ist, der für seine geliebte Olga Lieder schreibt, bricht bei diesem Schuss am Klavier zusammen. Alexandr Trusch begeistert als Lensky mit expressiven Bewegungen, die andeuten, dass er mit seinen Kompositionen verzweifelt versucht, dem spießigen Landleben zu entfliehen. Immer greift er an seinen Fuß mit einem gewissen Bemühen, vom Boden abzuheben, doch seine Durchschnittlichkeit führt ihn immer wieder in die harte Realität zurück. Zuerst betrachtet Onegin das noch mit Amüsement. Wenn ihm aber im zweiten Akt Lenskys Geist erscheint und er erkennt, dass er Tatjana so bedingungslos liebt, wie Lensky Olga geliebt hat, imitiert er dessen Bewegungen. Edvin Revazov begeistert als Onegin mit einem weiten Spektrum zwischen Lebemann mit regelrecht diabolischen Zügen und verzweifelt Suchendem. Während seine Bewegungen äußerst kontrolliert sind, wenn er mit Olga flirtet oder auf die anderen herabblickt, vermag er als rastlose Seele kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dabei zu stolpern. Wiedersehen auf dem Ball des Prinzen: Tatjana (Hélène Bouchet) und Onegin (Edvin Revazov) (im Hintergrund: Tatjanas Romanfiguren: von links: Julie Wolmar (Hayley Page), Seint-Preux (Florian Pohl), Matilda (Carolina Agüero), Marek Adel (Braulio Álvarez), Harriet Byron (Futaba Ishizaki) und Grandison (Jacopo Bellussi)) Eine bedeutende Funktion nehmen auch die Romanfiguren ein, die gewissermaßen aus Tatjanas Buch entsteigen und ihr Handeln im ersten Akt beeinflussen. Sie scheinen es nämlich zu sein, die Tatjana die Worte für ihren verhängnisvollen Brief an Onegin einflüstern. Neumeier greift dabei zum Beispiel mit Julie Wolmar auf eine Figur zurück, die Rousseau in seinem Briefroman Die neue Heloise ähnliche Worte wie Tatjana in ihrem Brief an Onegin finden lässt. Die Romanfiguren sind dabei alle ganz in Weiß kostümiert und wirken damit relativ leblos und irreal. Nur eine Romanfigur unterscheidet sich durch ein schwarzes Gewand von den anderen, der Vampir Ruthven, der von Edvin Revazov getanzt wird und somit ein Alter Ego zu Onegin darstellt. So ist es auch der Vampir, der in Tatjanas Traum Lensky tötet. Der Gegenpart zu ihm ist ein Bär, der ebenso wie Tatjanas späterer Ehemann, der Prinz N., von Carsten Jung dargestellt wird. So wie sich der Plüschbär, den Tatjana als Mädchen vom Lande in ihrem Zimmer stets an sich drückt, in einen richtigen Bären verwandelt, der Tatjana die Geborgenheit schenken kann, die sie sucht, findet sie auch bei dem Prinzen Jahre später die Sicherheit, die ihr die Kraft gibt, Onegins stürmisches Werben zurückzuweisen. Carsten Jung begeistert als Prinz N. durch kraftvolle Sprünge und sauberen Spitzentanz, während er als Bär im braunen Fellmantel sein Können im modernen Ausdruck unter Beweis stellt. Tatjana (Hélène Bouchet) weist Onegin (Edvin Revazov) von sich. In der Titelpartie glänzt Hélène Bouchet mit ausdrucksstarkem Spiel. Beeindruckend gestaltet sie die Entwicklung vom verträumten Mädchen zur reifen Frau. Während ihrem Tanz im ersten Teil noch etwas Kindliches anhaftet und Bouchet sich überzeugend Tatjanas Schwärmereien hingibt, wirkt sie nach der Zurückweisung durch Onegin zunächst wie ein verwundetes Tier. Nachdem sie Onegin in ihrem Brief ihre Liebe gestanden hat, wird sie von den Ungeheuern in ihrem Traum ausgezogen, bis der Bär sie schützend in seinen braunen Fellmantel einwickelt. Hier wird bereits angedeutet, dass es Prinz N. ist, der Tatjana Geborgenheit geben wird. In einem schweren grünen Kleid tritt sie dann auf dem Ball des Prinzen auf, wobei das Treffen mit Onegin sie aber doch wieder in ihre Kindheitserinnerungen zurückführt. Erneut sitzt sie in ihrem leichten weißen Kleid auf der Fensterbank, nur der Plüschbär befindet sich jetzt nicht mehr in ihrem Zimmer. In einer großartigen Szene macht sie dem heftig werbenden Onegin deutlich, dass ihre Beziehung keine Zukunft haben kann. Wenn dann die Musik aussetzt und Tatjana Onegin einen leidenschaftlichen Kuss gibt, bevor sie sich wieder auf ihre Fensterbank zurückzieht, wird dies von Bouchet großartig in Szene gesetzt. Auch Niurka Moredo und Leslie Heylmann gefallen als alte Amme Filipjevna mit bedächtigen Bewegungen und als lebenslustige Olga, die gerne mit dem Feuer spielt. Auerbachs Musik besitzt zwar nicht die Eingängigkeit und Melancholie von Tschaikowskys Vertonung, lässt aber dennoch Onegins Gefühlswelt durch sirrende Klänge und Tatjanas Verwirrung durch leichte Dissonanzen spürbar werden. Leider fehlt es für die Länge des Abends musikalisch ein wenig an Abwechslung. Die Philharmoniker Hamburg setzen unter der Leitung von Simon Hewett Auerbachs Klangsprache differenziert um, und auch das Ensemble des Hamburger Staatsballetts stellt mit hervorragender Synchronität unter Beweis, dass dieses Ensemble national und international eine Spitzenstellung einnimmt. So gibt es am Ende frenetischen Applaus für alle Beteiligten, unter den sich völlig unverständlich auch einige Unmutsbekundungen für Neumeiers Choreographie mischen. FAZIT John Neumeier stellt mit seiner neuesten Choreographie unter Beweis, wieso seine Compagnie zu den erfolgreichsten in Deutschland zählt. Ob sich dieser Ballettabend auch musikalisch den Weg ins Ballettrepertoire erarbeiten kann, bleibt abzuwarten. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie, Inszenierung,
Philharmoniker
Hamburg Solisten
Tatjana Larina
Eugen Onegin / Der Vampir Ruthven
Olga, Tatjanas Schwester
Vladimir Lensky
Larina, Tatjanas Mutter /
Filipjevna, Tatjanas Amme
Zaretsky
Prinz N. / Der Bär
Olgas Mann / Soldat
Guillot, Onegins Kammerdiener
Die Ballerina Istomina als Cleopatra /
Ihr Partner als Marc Antonius /
Rousseaus Julie Wolmar
Saint-Preux, ihr Hauslehrer
Der Sarazener Marek Adel,
Seine Geliebte Matilda,
Harriet Byron
Grandison
Ensemble
Emanuel Amuchástegui
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